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Gaskrieg bei Ypern
ОглавлениеIm Wintersemester 1914/15 waren bereits 284 Studenten der Berliner Universität »auf dem Felde der Ehre« gefallen, eine Zahl, »die aber mutmaßlich noch erheblich hinter der Wahrheit« zurückblieb.[225] Fast alle Professoren waren mit »kriegswichtigen« Aufgaben betraut worden oder hatten sich freiwillig dazu gemeldet, Fritz HaberHaber, Fritz zum Beispiel, Direktor des Kaiser-Wilhelm-Instituts für physikalische Forschung, der die wissenschaftliche Verantwortung für das gesamte Kampfgaswesen übernommen hatte. Dora kannte ihn, denn sie war seine Studentin. Seine Frau, Clara HaberHaber, Clara, geborene Immerwahr, war ebenfalls Chemikerin. Beide stammten aus Breslau und waren jüdischer Herkunft.
Ende April 1915 ging die Nachricht durch die Presse, dass die Deutschen zum ersten Mal Giftgas eingesetzt hätten, in der zweiten Flandernschlacht bei Ypern. Wissenschaftlicher Leiter des »Experiments« war Fritz HaberHaber, Fritz, der dafür zum Hauptmann befördert wurde. Nach einem von ihm entwickelten Verfahren entwichen 180 Tonnen Chlorgas aus Flaschen, die in Schützengräben versteckt worden waren, sodass dichter Nebel entstand, der den Feind kampfunfähig machte. Bei diesem Angriff fanden über 1000 Franzosen den Tod. Tausende andere erlitten schwere Lungenödeme und Verätzungen im Bereich der Augen und Atemwege. Doch das war HaberHaber, Fritz noch nicht genug. Er forschte nach noch effizienteren Giftgasen wie Senfgas oder Phosgen, obwohl die Haager Landkriegsordnung von 1907 den Einsatz chemischer Kampfstoffe ausdrücklich verboten hatte. In Deutschland bürgerte sich die Redensart ein, dass man diesen Krieg »bis zur Vergasung« fortsetzen würde.
Als HaberHaber, Fritz kurze Zeit später von der Front nach Berlin zurückkam, um sich in seiner Dienstvilla in Dahlem feiern zu lassen, kam es zu einem heftigen Streit mit seiner FrauHaber, Clara, die den Einsatz von Giftgas vehement ablehnte und schon viele Artikel darüber geschrieben hatte, ohne dass auch nur eine Zeitung sie drucken wollte. Am 2. Mai 1915 ging sie in den Garten und schoss sich mit HabersHaber, Fritz Dienstwaffe ins Herz. Ihr dreizehnjähriger Sohn fand sie blutüberströmt im Gras liegend.[226]
Wenige Tage später ließ HaberHaber, Fritz sich in Galizien einsetzen, um weitere Giftgaseinsätze vorzubereiten, denn die Alliierten hatten inzwischen begonnen, Gemische mit noch höherer Toxizität zu entwickeln, die »verlässlich« zu einem qualvollen Tod führten. Giftgase verschiedener Zusammensetzung wurden künftig an allen Fronten eingesetzt, besonders in den Isonzoschlachten, an denen auch KokoschkaKokoschka, Oskar, HemingwayHemingway, Ernest und Sigmund FreudsFreud, Sigmund Sohn MartinFreud, Martin teilnahmen. Insgesamt sollen im Ersten Weltkrieg 100000 Soldaten durch chemische Kampfstoffe umgekommen und mehr als eine Million schwer verwundet und traumatisiert worden sein. Die statistischen Angaben schwanken.[227]
Dora ist durch diese Tragödie enorm erschüttert worden, vielleicht, weil sie Fritz HaberHaber, Fritz, den »Vater des Giftgaskrieges«, sehr gut kannte und sich dadurch als Zeugin der ersten Stunde fühlte. In ihrem Roman Gas gegen Gas lässt sie einen Überlebenden so authentisch berichten, dass man fast das Gefühl hat, ihn im Originalton zu hören:
Drei Tage lagen wir abgeschnitten im Schützengraben; es war unmöglich, an unsere Stellungen heranzukommen, nach Überlebenden zu suchen. Endlich fand man uns, einen Siebzehnjährigen und mich. Er war irrsinnig geworden, ich selbst schneeweiß. Ich habe die Eltern meines Kameraden später besucht. Er war ihr einziger Sohn, ein hochbegabtes Kind; sie führten mich zu ihm, er saß da: mit hängenden Strümpfen und wirren Haaren, und schwatzte sinnloses Zeug.[228]