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Scheitern aller Aufrufe und Manifeste
ОглавлениеKurz bevor Dora diesen Brief schrieb, hatte Benjamin im »Charlottenburger Siedlungsheim« einen Vortrag über das »Leben der Studenten« gehalten. Im Publikum saß auch der junge Gershom ScholemScholem, Gershom (Gerhard), der Benjamin zum ersten Mal sprechen hörte und sofort seiner Magie erlag. Es war ein langer, hochkomplizierter Vortrag, in dem Benjamin sich nicht etwa mit netten Episoden aufhielt, sondern das Scheitern seiner eigenen hohen Ziele bekannte, das Scheitern aller »Aufruf[e] und Manifest[e]«, die »eines wie das andere wirkungslos geblieben« seien. Er skizzierte sein neues Ideal einer studentischen Gemeinschaft, die ihr Leben »aus dem einigen Geiste von Schaffen, Eros und Jugend« aufbauen müsse. Die Studenten sollten als Lehrende und Lernende von »gänzlicher Hingabe« an die Wissenschaft erfüllt sein. Er kam zu dem Fazit, dass die Hochschulen versagten, weil sie ihre Zöglinge zu braven Familienvätern machten, die sich vor der Ehe noch ein paar Freiheiten mit Dirnen gönnen dürften. Am Schluss resümierte er, die Studenten seien mutlos, stumpf und hässlich geworden. Es bedürfe einer grundlegenden Erneuerung, einer »strengen Richtung«.[241]
Dieser hier sehr verkürzt wiedergegebene Text mag dazu beigetragen haben, dass Dora in ihrem Trennungsentschluss bestärkt wurde. Denn konnte sie Benjamin glauben, was er da sagte? Führte er denn selbst ein Leben in »Gemeinschaft« und »Liebe«? Zog er sich nicht so oft wie möglich in seine Höhle zurück, um mit seinen eigenen Konstrukten zu leben, seinen HölderlinHölderlin, Friedrich-Exegesen[242] oder »platonischen« Dialogen über das Wesen der Farben und ihrer Wahrnehmung?[243]
Um dieselbe Zeit – im Sommer 1915 – kam es zu einer ersten persönlichen Begegnung zwischen Benjamin und GershomScholem, Gershom (Gerhard) – damals noch Gerhard – ScholemScholem, Gershom (Gerhard), achtzehn Jahre alt, Sohn eines mittelständischen Druckereibesitzers, kurz vor dem externen Abitur stehend, angehender Mathematikstudent und Mitglied der Berliner Gruppe »Jung Juda«. Schon nach kurzer Zeit lud Benjamin ihn in sein Elternhaus ein, wo er »ein großes, sehr anständiges Zimmer« mit vielen Büchern bewohnte, das den Eindruck einer »Philosophenklause« machte.[244] ScholemScholem, Gershom (Gerhard) war erst spät am Abend gekommen, da er zuvor noch in der Alten Synagoge gewesen war, »deren strikt orthodoxe Liturgie« ihn sehr anzog.
Bevor die beiden sich zu ihrer Besprechung zurückzogen, aßen sie mit der Familie zu Abend. Benjamins Bruder GeorgBenjamin, Georg war nicht da. Er stand im Feld. Aber die Eltern und Benjamins fünfzehnjährige Schwester DoraBenjamin, Dora (Schwester) waren anwesend. Benjamin hatte ihm vorher gesagt, »das Verhältnis zu seiner Familie sei nicht sehr erfreulich«, ohne näher zu erklären, warum nicht.[245]
Später, in der »Philosophenklause«, sprachen sie bis tief in die Nacht, über HeineHeine, Heinrich, Martin BuberBuber, Martin, Lao-TseLao-Tse, Zionismus, Anarchismus und Sozialismus. Dabei gewann der junge, magere Gershom ScholemScholem, Gershom (Gerhard), der mit seinem fliehenden Kinn und seinen großen, abstehenden Ohren auf den ersten Blick etwas merkwürdig wirkte, enorm an Anziehungskraft, denn er konnte, genau wie Benjamin, faszinierend dozieren. Über die Stellung der deutschen Juden zum Krieg zum Beispiel, die nicht anders als radikal ablehnend sein könne: »Ihr seid Juden und Menschen, nicht Deutsche und Dekadente«, hatte er in sein Tagebuch geschrieben.[246] Oder: »Jawohl, ich bin in meinem innersten Herzen der Überzeugung, dass, wer sich freiwillig stellt, Hochverrat an Zion begeht.«[247] Er war stolz auf alle Juden, die sich wie er dezidiert gegen den Krieg stellten, vor allem auf Rosa LuxemburgLuxemburg, Rosa, die 1913 gesagt hatte:
Wenn uns zugemutet wird, die Mordwaffen gegen unsere französischen oder anderen ausländischen Brüder zu erheben, so erklären wir: Nein, das tun wir nicht![248]
Rosa LuxemburgLuxemburg, Rosa war immer wieder Thema in dieser Nacht. Gershom ScholemScholem, Gershom (Gerhard) zeigte Benjamin die Zeitschrift Die Internationale, in der sie geschrieben hatte:
Am 4. August 1914 […] strich die Sozialdemokratie die Segel, räumte kampflos dem Imperialismus den Sieg ein. Noch nie, seit es eine Geschichte der Klassenkämpfe, seit es politische Parteien gibt, hat es eine Partei gegeben, die […] nach fünfzigjährigem unaufhörlichen Wachstum […] sich binnen vierundzwanzig Stunden so gänzlich […] in blauen Dunst aufgelöst hat, wie die deutsche Sozialdemokratie.[249]
Benjamin, der sich bis dahin nur wenig für Politik interessiert hatte, fing plötzlich Feuer und wollte mehr über Rosa LuxemburgLuxemburg, Rosa wissen. Er bat ScholemScholem, Gershom (Gerhard), ihm eine Zeitschrift mit ihren Beiträgen auszuleihen, was auch geschah.[250] Außer Luxemburg selbst kamen darin auch noch andere Frauen zu Wort, vor allem Clara ZetkinZetkin, Clara, auch sie eine Fremde für Walter Benjamin. Die Lektüre scheint ihn tief beeindruckt zu haben – eine Zäsur in seinem politischen Denken und seinem Verhältnis zu schreibenden oder sprechenden Frauen?