Читать книгу Warum ich tue, was ich tue - Evelin Kroschel-Lobodda - Страница 10
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Kürzlich las ich im Vorwort des Philosophen Charles Taylor zu seinem Werk Quellen des Selbst: »Die Arbeit an diesem Buch ist mir schwer gefallen. Sie hat zu viele Jahre in Anspruch genommen, und einige Male habe ich meine Meinung darüber geändert, was darin stehen sollte. Einesteils lag das an dem altbekannten Grund, dass ich mir nicht im Klaren war über das, was ich sagen wollte. Andernteils lag es an der überaus ehrgeizigen Natur des Unterfangens, …«1 Ich war glücklich, in diesen Worten eine so genaue Beschreibung meiner eigenen Gefühle zu meinem vorliegenden Buch zu finden. Ich selbst hätte es nicht so gut ausdrücken können.
Es war ein langer Weg der Forschung und praktischen Arbeit, bis ich bei den jetzigen Ausführungen des Buches gelandet bin. Seit mehr als zwanzig Jahren beschäftige ich mich mit der Frage, warum und wozu Menschen das tun, was sie tun, und warum sie fühlen, was sie fühlen, und erleben, was sie erleben. Doch viele Jahre war mir nicht bewusst, dass in diesen Fragen, die ich als begrenztes Thema der Motivationspsychologie angesehen habe, das grundlegende Thema unseres Menschseins liegt. Denn in der Frage »Warum oder wozu tun wir das, was wir tun?« steckt nicht nur die Suche nach unseren individuellen Motiven. Sie ist auch grundlegend für die Frage, ob wir unser Handeln und unser Leben als sinnvoll erleben und inwieweit es von unserem freien Willen bestimmt ist.
Als ich Anfang der 1990er-Jahre an meinem Buch Die Weisheit des Erfolgs schrieb, wurden mir im Laufe des Schreibens – verbunden mit den Erfahrungen aus meiner Praxis – die Zusammenhänge und dynamischen Prozesse zwischen Bedürfnissen, Motiven und Kränkungen immer deutlicher bewusst. Damals erkannte ich jedoch die ungeheure Dimension der Zusammenhänge noch nicht – zu eingeengt war mein Blickwinkel auf die Fragen gerichtet, worin sich erfolgreiche Menschen von nicht-erfolgreichen unterscheiden, wie sich persönliche Autorität entwickelt und welche Rolle Kränkungen dabei spielen.
Diese Konzentration auf die Entwicklung von persönlicher Autorität war durch meine Erfahrungen in der psychologischen Praxis entstanden. Damals, Ende der 1980er- und Anfang der 1990er-Jahre wurde es in Organisationen modern, darüber nachzudenken, wie man Mitarbeiter motivieren könnte durch spezielle Maßnahmen. Ich kam durch die Arbeit mit meinen KlientInnen jedoch immer mehr zu der Überzeugung, dass es viel wichtiger wäre, die Mitarbeiter nicht zu demotivieren.
Ein kleines Beispiel
»Ich freue mich sehr auf die neue Arbeit,« sagte meine Klientin eines Tages in einer
Therapie-Sitzung, »diese Stelle ist genau das, was ich mir schon lange wünsche – ich kann es kaum erwarten, mich in die Arbeit zu stürzen!«
»Mein neuer Chef ist nicht schlecht«, sagte die Klientin zwei Monate später, »und mit meinen Kollegen komme ich auch ganz gut klar. Was mich ärgert, ist diese ineffiziente Arbeitsorganisation – aber als ich einen Vorschlag zur Verbesserung gemacht habe, uuuhh, da sind die Eiszapfen von der Decke gefallen!«
»Man muss halt in die Arbeit, weil man seinen Lebensunterhalt verdienen muss – ich werde mir dort bestimmt kein Bein mehr ausreißen!«, sagte die Klientin weitere zwei Monate später.
Obwohl von der anfänglichen Freude und der hohen Arbeitsmotivation nicht viel übrig geblieben war, war sich die Klientin der abgelaufenen Dynamik nicht bewusst. Sie registrierte nur, dass ihr die Lust und Freude vergangen war, dass sie eher überdrüssig zur Arbeit ging und die Arbeit nur noch als notwendiges Übel ansah. Erst bei der tieferen Betrachtung dessen, was da nun genau geschehen war, kam sie zu der Erkenntnis (und ich mit ihr), dass sie sich mit ihren Vorschlägen, d. h. ihrer Kreativität und ihrem Engagement, missachtet fühlte, dass sie sich durch hämische Bemerkungen eines Kollegen herabgesetzt und beschämt fühlte, dass sie sich durch ihren Vorgesetzten nicht gesehen und nicht unterstützt fühlte; kurz: dass sie gekränkt war. Und dass ihre unbewusste Rache für die zugefügten Kränkungen darin bestand, nur noch ›Dienst nach Vorschrift‹ zu machen.
Durch die Analyse von Kränkungen (und ihrer Rachedynamik) rückten die psychischen Grundbedürfnisse in den Mittelpunkt meines Interesses: Was sind das für Bedürfnisse, deren Frustration als Kränkung empfunden wird?
Und was sind das für Bedürfnisse, deren Befriedigung sogar schwere Situationen mit Leichtigkeit ertragen lassen? Mir waren in diesem Zusammenhang nämlich Erzählungen meines Vaters eingefallen.
Ein Beispiel:
Mein Vater, Jahrgang 1923, litt sehr unter der Trennung von seinen Eltern und sechs Geschwistern, als er mit 13 Jahren den elterlichen Bauernhof verlassen musste, um eine weit entfernte Lehrstelle antreten zu können. Eigentlich gab es damals kaum die Möglichkeit für einen Bauernbuben aus der Oberpfalz, einen Beruf zu erlernen, und so war es ein großes Glück, dass meine Urgroßmutter diese Schlosser-Lehrstelle in einer Landmaschinen-Werkstatt für ihren Enkel ergattern konnte. Der Wermutstropfen: Es lag ein Tagesmarsch zwischen Elternhof und Meisterbetrieb, und das bedeutete, dass mein Vater bei diesem Meister wohnen musste und nur an Weihnachten heimgehen konnte.
Mein Vater erzählte uns Kindern oft, dass seine Lehrzeit so wunderbar gewesen sei und dass ihm das sogar das Heimweh gelindert habe. Irgendwann wurde mir die Diskrepanz zwischen seiner Bewertung und den erzählten Gegebenheiten bewusst, und ich fragte ihn: »Papa, wie kannst du sagen, dass deine Lehrzeit wunderbar war? Die Arbeitszeit war täglich von morgens sechs Uhr bis abends sieben Uhr. Samstag war normaler Arbeitstag und sonntags musstest du vormittags mit dem Meister in die Kirche. Es gab keinen Urlaub außer an Weihnachten, und selbst von diesen zwei Wochen gingen zwei Tage drauf für den Hin- und Rückmarsch.«
Mein Vater antwortete, dass das Wunderbare an der Lehrzeit die Person des Meisters gewesen sei: »Ich kann dir das nur an einem Beispiel erklären. Ziemlich am Anfang meiner Lehre nahm mich mein Meister mit zu einem Kunden, um dort eine Dreschmaschinen-Reparatur zu besprechen. Wir gingen in die Stube, er führte das Gespräch und wir verabschiedeten uns. Erst als wir wieder allein über den Hof gingen, sagte er zu mir: ›Pass auf, Bub, wenn du das nächste Mal in eine fremde Stube trittst, dann tust deine Mütze runter, das gehört sich so.‹ Er hatte gewartet, bis wir wieder allein waren, damit ich nicht vor dem Bauern beschämt wurde. Und so ist der Meister immer gewesen. Nie hat er mich vor anderen wegen eines Fehlers bloßgestellt. Wenn ich etwas nicht gekonnt habe, hat er es mir so lange ruhig erklärt, bis ich es konnte. Als einmal ein Bauer mich rüde anging, weil etwas nicht schnell genug ging, griff er sofort schützend ein und zwang den Bauern, mit ihm selbst zu reden. Und dieses Verhalten des Meisters führte dazu, dass alle Entbehrungen und die viele schwere Arbeit keine Rolle spielten.«
Das Beispiel meines Vaters hat meine Wahrnehmung geschärft – einmal in Bezug auf Kränkungen, die häufig genug unter ›normalem Verhalten‹ laufen und zum anderen in Bezug auf diejenigen Bedürfnisse, deren Befriedigung so elementar wirkt, dass schwere äußere Umstände weder krank machen noch demotivieren.
Die vertiefte theoretische Beschäftigung mit den Motiven und Bedürfnissen führte dann zu der Entdeckung, dass keine der vielen verschiedenen Bedürfnistheorien,2 die es in Philosophie und Psychologie gibt, die Erfahrung abdeckt, die sich aus meiner Arbeit mit Menschen herauskristallisierte nämlich: dass es zu jedem Grundbedürfnis ein gegensätzliches gibt und dass jedes dieser gegensätzlichen Grundbedürfnisse in den polaren Dimensionen von Nehmen und Geben besteht. Beide Gegebenheiten – das Gegensatzprinzip und die Geben-Dimension – sind in den bisherigen psychologischen Bedürfnis- und Motivationstheorien nicht enthalten. Alle Theorien geben den Bedürfnissen die egoistische Bedeutung des ›Haben-Wollen‹ und übersehen, dass sämtliche Grundbedürfnisse auch im ›Geben-Wollen‹ existieren. Und so entwickelte ich eine neue Bedürfnis- und Motivationstheorie, in der sowohl die Polarität der Bedürfnisse als auch die Dimension des Gebens berücksichtigt ist. Nach dem Entwurf eines Motivrads in der Erstauflage von 19963 arbeitete ich zwölf Jahre intensiv mit und an meinem Modell, so dass ich es in der Neuauflage von 20084 in einer ausgereiften Form vorstellen konnte.
Inzwischen arbeitete ich jedoch auch schon lange am vorliegenden Buchprojekt – das immer wieder für Jahre in der Schublade verschwand –, und die Dimension dieses Projekts wurde immer vielschichtiger.
Es entstand die Frage, ob die von mir postulierten Grundbedürfnisse und Motive tatsächlich – wie ich meine – menschheitsweit gültig sind, ob sie sich auch in allen Kulturen und in allen Zeitepochen finden lassen, oder ob mein Blick zu zeitgeistig und ethnozentriert ist. Wir sind bei der Betrachtung menschlichen Verhaltens und Handelns ja nicht so frei, wie wir zumeist vermuten. Unsere Wahrnehmung ist beeinträchtigt durch unser theoretisches Wissen, dem wir meist mehr gesicherten Wahrheitsgehalt unterstellen, als es tatsächlich verdient. Vor allem aber ist unsere Wahrnehmung auch eingeschränkt durch unsere unbewussten Vorstellungen von der Natur des Menschen und der Gesellschaft, die wiederum in höchstem Maße kulturell und zeitgeistig geprägt sind. Insofern ist mir klar, dass der theoretische Horizont des westlichen Denkens von einer spezifischen Erfahrung durchdrungen ist, bei der die Individualität des Menschen betont wird. Diese Sichtweise des Menschen hat eine lange Geschichte in der westlichen Philosophie und wurde während der Aufklärung vorherrschend. Das Menschenbild der Aufklärung impliziert, dass der Mensch von seinem zwischenmenschlichen Umfeld getrennt gesehen werden könnte. Doch das ist eine Sichtweise, die nicht für alle Kulturen und historische Epochen gilt. Dieses individuelle und klar umrissene Körperbild, das sich deutlich von den anderen Objekten im Universum abhebt und bei dem das Individuum als starke Festung mit einer kleinen Anzahl an Zugbrücken und Toren gesehen wird, die den kontrollierbaren Kontakt zur Außenwelt darstellen, steht im scharfen Gegensatz zum Menschenbild in nicht-westlichen Kulturen.
Wie der indische Psychoanalytiker Sudhir Kakar ausführt, ist beispielsweise ein Mensch aus hinduistischer Perspektive weniger ein Individuum als vielmehr ein Dividuum. Ein hinduistischer Mensch besteht aus Beziehungen: Alle Affekte, Bedürfnisse und Motive sind relational, und Leiden sind Störungen von Beziehungen, und zwar nicht nur der menschlichen, sondern auch derjenigen zur Natur und der kosmischen Ordnung. »Diese Betonung der transpersonalen Natur des Menschen durchdringt medizinische, astrologische, anthropologische und psychologische Theorien in Indien. Im indischen Körperbild werden die innige Verbundenheit mit der Natur und dem Kosmos und der unablässige Austausch mit der Umwelt betont. In der traditionellen Medizin – Ayurveda – gibt es keine Topographie des Körpers mit seinen Organen, sondern nur eine Ökonomie, das heißt Ströme, die hereinkommen oder hinausgehen, in einem asrya (Empfänger) verweilen oder durch irgendwelche srotas (Kanäle) fließen.«5
Auch das chinesische Menschenbild steht im Gegensatz zum westlichen. Auch hier wird der Mensch nicht als abgeschlossenes Individuum gesehen, sondern als ein aus Energieströmen bestehendes Beziehungsgeflecht. »Der Mensch vereint in sich die Geisteskräfte von Himmel und Erde, in ihm gleichen sich die Prinzipien des Lichten und Schattigen aus, in ihm treffen sich die Geister und Götter …«, heißt es im Buch der Sitte.6 ›Universismus‹ wird das uralte metaphysische System genannt, das allem chinesischen Denken zugrunde liegt. Danach haben alle Erscheinungen im Makrokosmos im physischen, psychischen und gesellschaftlichen Leben des Menschen ihre Entsprechung, und alles steht in inniger Wechselbeziehung zueinander. Seinen praktischen Ausdruck findet dieses Menschenbild in der traditionellen chinesischen Medizin, in den Ernährungsempfehlungen und in der Tradition der Körper- und Geisteskultivierung. Die Methoden dieser Tradition sind z. B. Tai Chi und Qigong, Meditation, Visualisation, Imagination und geomantische Methoden (Feng Shui), die alle das Chi (die Lebenskraft) positiv beeinflussen und damit Glück, Reichtum und langes Leben verwirklichen sollen.
Das indische ist sehr verschieden vom chinesischen Menschenbild. Trotzdem besteht zwischen beiden eine enge Verwandtschaft, wenn man sie mit dem westlichen Bild des Individuums vergleicht. Beide betonen die transzendente Natur des Menschen und ihre energetische Verflechtung mit der gesamten Umwelt, also nicht nur mit der menschlichen, sondern mit allen sichtbaren und unsichtbaren, materiellen und immateriellen Gegebenheiten.
So führte meine Frage, ob die von mir postulierten Grundbedürfnisse und Motive menschheitsweit gültig sind, ob sie sich auch in allen Kulturen und in allen Zeitepochen finden lassen, zu einer intensiven Beschäftigung mit Werken aus anderen Kulturen und Epochen. Ich habe in der Weltliteratur geforscht, angefangen bei den ältesten Texten der Welt, dem Gilgamesch-Epos, dem I Ging, dem Alten Testament, Homers Ilias und Odyssee, dem Tao te King, dem Mahabarata-Epos usw. bis in die neueste Literatur, welche Motive sich in diesen Mythen und Geschichten finden lassen.
Parallel zu meiner Lesetätigkeit machte ich in meiner Praxis immer häufiger die Erfahrung, dass sich viele Störungen, derentwegen Klienten in ein Coaching oder in eine Therapie kamen, nicht aus deren individueller Geschichte oder ihrer gegenwärtigen Situation erklären ließen. Erfahrungen, die zeigten, dass wir offenbar unbewusst auch von fremden Motiven gesteuert werden und unbewusste Einflüsse – jenseits der genetischen und sozialisierten Determination – unser Erleben und Handeln steuern. Dazu passende Bemerkungen wie z. B. »Ich weiß nicht, welcher Teufel mich da geritten hat, dass ich das getan habe« oder »Wie um Himmels Willen bin ich in diese Situation geraten?« führten dazu, dass sich immer mehr das Thema des freien Willens in meinen Wahrnehmungs-Vordergrund schob. Das hatte zur Folge, dass ich mich nun intensiv mit der neuesten Gehirnforschung und mit dem uralten Streitthema zwischen Deterministen und Verfechtern des freien Willens beschäftigte. Die Auseinandersetzung mit den neurobiologischen, philosophischen und psychologischen Erkenntnissen, mit der Literatur aus nicht-westlichen Kulturen und vor allem auch meine praktischen Erfahrungen aus Therapie und Coaching veränderten allmählich mein Menschenbild.
So hat jeweils ein Thema ein neues generiert, und immer wieder entstand dadurch die Notwendigkeit und Lust, erst eine Unmenge von Literatur zum jeweiligen Thema zu lesen. Aus der Überlappung all dieser Themen und ihrem ständigen Überprüfen in der Praxis hat sich in mir allmählich ein sehr ganzheitliches Verständnis darüber herausgebildet, was Menschen im Innersten bewegt und wie sie von äußeren Kräften beeinflusst werden.
Ich erkannte eine bisher völlig übersehene Bedeutung der psychischen Grundbedürfnisse. Bedürfnisse, abgesehen von den körperlichen, werden ja häufig mit der Assoziation von ›Bedürftigkeit‹ gedeutet. In vielen Philosophien und Religionen wird die Askese, also das Unterdrücken oder Befreien von Bedürfnissen als Tugend gesehen. Ich kann mich zwar dem Argument, dass durch Bedürfnislosigkeit (die es m. E. gar nicht gibt, denn auch das Ziel der Bedürfnislosigkeit ist durch ein Bedürfnis motiviert) ein größeres Ausmaß an Unabhängigkeit von Menschen und Situationen erreicht wird, nicht verschließen, aber ich bin zu der Überzeugung gelangt, dass damit der eigentlichen Bedeutung der Bedürfnisse nicht Rechnung getragen wird. Das gleiche gilt für die Gefühle. Lange wurden sie als unwichtige und mitunter lästige Begleiterscheinungen des Lebens betrachtet, die man besser nicht beachtet oder unterdrückt und auf jeden Fall dem Verstand unterordnet.
In Gegensatz dazu bin ich zu der Einsicht gelangt, dass sich die Potenziale des Menschen in Bedürfnissen (die sich wiederum in Interessen und Zielen spiegeln) ausdrücken und dass sich im Umgang mit den Bedürfnissen, den eigenen und denen der anderen, das Wesen des Menschen formt. Mir wurde dabei auch immer deutlicher, welche immens wichtige Rolle die Gefühle in diesem ganzen Zusammenhang spielen und dass sie der Schlüssel zum Verständnis unserer selbst sind. Mir wurde deutlich, dass auch der freie Wille, den wir seit der Aufklärung in unserem abendländischen Verständnis so selbstverständlich voraussetzen, ein Potenzial ist, das in uns angelegt ist, das sich im Grundbedürfnis nach Freiheit ausdrückt, dessen Entfaltung aber keineswegs selbstverständlich ist. Im Gegenteil, dieser Entfaltung stehen viele Hindernisse im Weg. Nicht nur die kulturelle und familiäre Sozialisation, vor allem auch die ständig ablaufenden unbewussten Beeinflussungen unseres Gehirns durch innere und äußere Kräfte machen die Entwicklung eines freien Willens zur größten Herausforderung des Menschseins.
Fasse ich alle meine Erfahrungen, Erkenntnisse und Überlegungen zusammen, dann komme ich zu dem Schluss, dass die menschliche Psyche aus Potenzialen besteht, für deren Verwirklichung das Gehirn die Struktur und Funktionen bereitstellt. Diese Potenziale äußern sich in einer Bedürfnis- und Motivstruktur, die menschheitsweit gleich ist – eine Struktur, die kultur- und epochenübergreifend ist und die deshalb zu unserem menschlichen Erbgut gehört, genauso wie die Struktur unseres Körpers oder unseres Gehirns. Durch die intensive Beschäftigung mit den Epen und Mythen aus aller Welt, mit Philosophien und Religionen bin ich zur gleichen tiefen Überzeugung gekommen, wie der legendäre Mythenforscher Joseph Campbell. Er hat in seinem dreibändigen Werk Die Masken Gottes mit Hilfe der Forschungen und Erkenntnisse aus Archäologie, Religionswissenschaften und Ethnologie die ältesten Zeugnisse mythischen Denkens der Urvölker, des Ostens und Westens zusammengetragen und gezeigt, dass die Mythen seit Urzeiten das widerspiegeln, was die Menschen im Innersten bewegt. Dazu sagte er am Ende seiner zwölfjährigen Forschungsarbeit, dass ihr Hauptergebnis darin bestehe, dass er Gewissheit gefunden habe für »den Glauben an die Einheit der ganzen Menschheit, nicht nur in ihrer biologischen Beschaffenheit, sondern auch in ihrer Seelengeschichte.«7
Um auf mein Eingangszitat zurückzukommen: Das Buch endlich fertig zu schreiben, ist mir nicht nur schwer gefallen. Es hat zwar zu viele Jahre in Anspruch genommen, aber es war auch eine ständige Quelle der Freude. Denn die Arbeit hat mich, abgesehen von meinem Schwerpunkt Psychologie, in Gebiete geführt, die mir völlig unbekannt waren, und die verschiedenartigste Literatur – von den ältesten Menschheitsgeschichten über Philosophien und Religionen bis zur neuesten Hirnforschung – war und ist eine tiefe Bereicherung, für die ich den jeweiligen Autoren unendlich dankbar bin.
Dr. Evelin Kroschel-Lobodda München, im November 2014
1 Taylor, Ch. (1996): Quellen des Selbst. Frankfurt a. M. (Suhrkamp), 7
2 vgl. z. B. Heckhausen, J. u. H. (2010): Motivation und Handeln. 4. Aufl. Heidelberg (Springer)
3 Kroschel, E. (1996): Die Weisheit des Erfolgs. München (Kösel)
4 Kroschel, E. (2008): Die Weisheit des Erfolgs. München (ekl-edition); Neuaufl. Gevelsberg 2017 (EHP)
5 vgl. z. B. Heckhausen, J. u. H.: Motivation und Handeln. Heidelberg (Springer)
6 Kroschel, E. (2008): Die Weisheit des Erfolgs. München (ekl-edition); Neuaufl. Gevelsberg 2017 (EHP)
7 Kakar, S. (2012): Kultur und Psyche. Gießen (Psychosozial)