Читать книгу Warum ich tue, was ich tue - Evelin Kroschel-Lobodda - Страница 11
Оглавление1. Die Suche nach dem Grund hinter dem Grund
»Das Menschenherz ist gefährlicher als Berg und Wildbach und schwerer zu erkennen als der Himmel.
Der Himmel hat doch wenigstens seine Jahres- und Tageszeiten; des Menschen Äußeres aber ist dicht verhängt, und sein eigentliches Wesen ist tief verborgen.«
(Dschuang Dsi, Buch XXVII,15)
Was bewegt uns, was bringt uns dazu, Bestimmtes zu tun und anderes zu unterlassen? Was erzeugt Gefühle von Angst, Zorn, Scham, Traurigkeit, Freude, Stolz, Zufriedenheit, Rachegefühle, Zuneigung, Liebe und was es sonst noch an unzähligen Gefühlen gibt? Warum geraten wir in bestimmte Situationen und warum handeln oder reagieren wir manchmal in unerklärlicher Weise?
Bei der Frage nach dem »Warum« geht es nicht nur um unsere Motive, Leidenschaften, Interessen und Ziele und darum, wie sie unser Handeln bestimmen und unsere Persönlichkeit. Die Frage nach dem Warum wird manchmal einseitig verstanden im kausalen Sinn, d. h. rückwärtsgewandt. Sie beinhaltet jedoch immer auch das Wozu. Wenn wir unser Handeln hinterfragen nach dem Grund, dann bedeutet das immer: Warum und wozu? Wir Menschen handeln intentional, unser Handeln ist zielgerichtet - auch dann, wenn es nicht danach aussieht und wenn wir selbst nicht wissen, was das Ziel eigentlich ist. ›Warum‹ und ›Wozu‹ sind die zwei Seiten einer Münze.
Bei der Frage nach dem ›Warum‹ geht es nicht nur um unsere Motive, Leidenschaften, Interessen und Ziele und darum, wie sie unser Handeln bestimmen und unsere Persönlichkeit formen. Es geht dabei auch um unser gesamtes Lebensschicksal, das von vielen Kräften aus verschiedenen Dimensionen unserer Psyche gesteuert wird, die uns meist nicht bewusst sind. Und wenn sie nicht bewusst sind, haben wir keinen Einfluss darauf. Es geht also darum, Einfluss zu gewinnen auf unser Leben und unser Schicksal, auf die Entwicklung unserer Persönlichkeit und auf die Entwicklung unserer Gemeinschaft, in der wir leben.
Einer meiner Lieblingsfilme ist der Western Spiel mir das Lied vom Tod. Der Film zeigt in grandioser Form, wie das Leben des Helden vom Rachemotiv beherrscht wird. Nun ist das Rachebedürfnis bzw. Vergeltungsmotiv ein Phänomen, das in der psychologischen Forschung und in der Philosophie, abgesehen von einzelnen philosophischen Betrachtungen wie z. B. Sloterdijks Werk Zorn und Zeit,1 absolut unterbelichtet ist – im Gegensatz zu Literatur und Film. Rache ist jedoch nicht nur eines der Hauptmotive bei Verbrechen – schon in den ältesten Texten der Weltliteratur gibt es kaum eine Geschichte, in der es nicht zu finden ist, und bei genauem Hinsehen ist auch unser alltägliches Handeln von Vergeltungsmotiven durchzogen. Das ist nur ein kleines Beispiel dafür, dass sich Theorie und Praxis nicht immer decken und dass ich auf der Suche nach Erklärungen für Phänomene, die ich in der psychologischen Arbeit mit Menschen erlebe, oft in der großen Literatur fündiger wurde als in meinem Wissenschaftsbereich. Ob im sumerischen Gilgamesch-Epos, im Alten Testament, im indischen Mahabarata, in Homers Epen, ob bei Shakespeare oder Dostojewski, ob bei Goethe, Hesse, Chatwin oder Davies – in der Literatur aus den unterschiedlichen Weltregionen, Ethnien und Epochen fand ich viele Antworten auf die Frage, was uns tatsächlich antreibt und die Menschen immer schon angetrieben hat. Diese Suche entwickelte sich zu meiner großen Leidenschaft: Warum tun wir das, was wir tun? Warum fühlen wir, was wir fühlen? Und warum passiert uns das, was uns passiert?
Unser ganzes abendländisches Verständnis geht vom selbstverantwortlichen Individuum und der Wahlfreiheit bei seinen Entscheidungen aus. Ich selbst ging natürlich auch davon aus. Doch irgendwann bekam diese Sicherheit Risse. Wie häufig müssen wir uns fragen »Wie, um Himmels Willen, bin ich in diese Situation geraten?« oder »Welcher Teufel hat mich da geritten, dass ich das getan habe?« Himmels-Wille, der uns steuert und Teufel, die uns reiten – was sind diese Götter und Dämonen, die da in uns wirken und oftmals unseren Willen beherrschen?
Während in der Antike die antreibenden Kräfte bildhaft mit den Begehren der Götter beschrieben wurden, haben wir in unserer modernen Wissenschaftssprache nüchterne Begriffe: Trieb, Bedürfnis, Motiv, Leidenschaft, Begierde, Sucht, Gier, Geiz, Streben, Drang – je nach Thema und Theorie werden andere Worte verwendet, die aber alle für das Gleiche stehen, nämlich für unsere allgegenwärtigen Beweger, ohne die es kein Leben und keine Entwicklung gäbe. Ich bin mir allerdings nach zwanzig Jahren Forschung zu diesem Thema inzwischen nicht mehr sicher, ob nicht die antiken Vorstellungen näher an den Phänomenen liegen, als unsere rationalen, wissenschaftlichen Erklärungsmodelle es vermögen. Je tiefer ich in das Thema eingedrungen bin, umso deutlicher konnte ich erkennen, wie lange die Menschheit sich schon mit diesem Thema beschäftigt. Und ich musste erkennen, dass wir mit unserem naturwissenschaftlichen Paradigma der Welterklärung viele Phänomene bisher nicht erfassen können.
Nun sind wir bei der Betrachtung menschlichen Verhaltens und Handelns nicht so frei, wie wir zumeist vermuten. Unsere Wahrnehmung ist eingeschränkt von unseren unbewussten Vorstellungen von der Natur des Menschen und der Gesellschaft, die wiederum in höchstem Maße kulturell und zeitgeistig geprägt sind. So ist z. B. der theoretische Horizont des westlichen Denkens von einer spezifischen Vorstellung durchdrungen, bei der die individuelle Autonomie des Menschen betont wird. Diese Sichtweise des Menschen hat eine lange Geschichte in der westlichen Philosophie und wurde während der Aufklärung vorherrschend. Das Menschenbild der Aufklärung impliziert, dass der Mensch von seinem zwischenmenschlichen und physischen Umfeld getrennt gesehen werden könnte. Dies ist eine Sichtweise, die nicht für alle Kulturen und historische Epochen gilt. Dieses individuelle und klar umrissene Subjekt, das sich deutlich von den anderen Objekten im Universum abhebt, steht im Gegensatz zur Vorstellung in nicht-westlichen Kulturen.
Die Arbeit in der Psychotherapie und im Coaching gewährt große Einblicke in das Lichte und Schattige der Menschen – ich glaube, nirgendwo sonst wird so offen über die innersten Angelegenheiten gesprochen. Und nirgendwo sonst lässt sich besser erforschen, welche Geister und Götter, Dämonen und Heilige sich in uns verwirklichen. Denn wir sind nicht nur unseren individuellen Bedürfnissen unterworfen, die wegen ihrer Gegensätzlichkeit schon konfliktträchtig genug sind. Wir werden auch noch von Begehren aus tieferen Schichten in uns gesteuert. Sigmund Freud wird die Erkenntnis zugeschrieben, dass wir nicht Herr im eigenen Haus sind. Das hat vor ihm schon Schopenhauer postuliert. Er hat Leben und Schicksal als Produkt und Veranstaltung seelischer Kräfte erklärt, deren Wirken dem bewussten Wollen weitgehend oder völlig entzogen ist. Albert Einstein fasste diese Philosophie in die griffige Formel, dass wir tun können, was wir wollen, aber nicht wollen können, was wir wollen.
Nun ist es aber gerade die Selbsterfahrungs-Arbeit, die dieser Ohnmacht entgegenwirken will und kann. Tatsache ist, dass Psychotherapie und Coaching genau an dem Punkt ansetzen, an dem Menschen feststellen, dass in ihrem Leben etwas anders läuft, als sie es eigentlich wollen. Dass sie mit ihrem Willen nicht weiterkommen. Dass irgendetwas sich ihrem Willen entgegenstellt; dass sie sich in Situationen befinden, in denen sie nicht sein möchten; dass sie psychisch, körperlich oder sozial unter etwas leiden oder dass etwas ganz anders läuft, als sie sich vorgenommen haben.
Während ich diese Zeilen überarbeite, läuft gerade die mediale Beschäftigung mit der Steuerhinterziehung des Präsidenten eines der berühmtesten Fußballclubs auf vollen Touren. Es wird gefragt, wie es sein kann, dass jemand, von dem man doch weiß, wie sozial und großzügig er handelt, welch gutes Herz er zeigt für Menschen in Not und mit wie vielen Millionen er jährlich soziale Einrichtungen unterstützt, so etwas tun kann. Mit dieser Tat habe er seinen guten Ruf verloren und sein Lebenswerk vernichtet, so wird postuliert. Die Spekulationen über das »Warum« werden in jeder Talkshow und in jeder Zeitung erörtert. Viele meinen, dass nicht Geldgier das treibende Motiv gewesen sein kann – was dann? Andere vermuten, es könnte das Machtmotiv gewesen sein – er habe im größenwahnsinnigen Realitätsverlust geglaubt, sich über das Gesetz stellen zu können. Oder vielleicht brauchte er den Kick, den unerlaubtes, gefährliches Verhalten bringen kann? Warum also hat er etwas getan, was sein Verstand sicher als »Dummheit« einschätzt? Vielleicht weiß er es nicht einmal selbst. Vielleicht stellt er sich genau die Frage: »Um Himmels Willen – welcher Teufel hat mich da geritten?«
Was sind also die Antriebskräfte, mit denen wir es den ganzen Tag zu tun haben – bei uns selbst und bei unseren Mitmenschen? Warum treffen wir uns mit bestimmten Leuten oder lehnen eine Verabredung ab? Warum sind wir zu einem bestimmten Menschen freundlich, zu einem anderen aggressiv und wieder bei einem anderen gleichgültig? Warum lassen wir uns auf ein risikoreiches Abenteuer ein, warum gehen wir eine Beziehung ein oder beenden sie, warum sind wir großzügig oder kleinlich, warum verzeihen wir oder sind unbarmherzig, warum schauen wir einen Film an, spielen Fußball oder lesen einen Roman? Warum teilen wir mit anderen oder machen Geschenke? Warum verhalten wir uns selbstsüchtig oder hilfsbereit?
Wie oft fragen wir uns, warum jemand dieses oder jenes wohl getan hat. Und wie oft fragen wir uns selbst, was uns zu einer bestimmten Handlung getrieben hat – vor allem dann, wenn wir uns eigentlich das Gegenteil vorgenommen hatten oder wenn wir schon im Voraus ahnten, dass das, was wir tun, nicht gutgehen wird.
Der Literatur-Nobelpreisträger Isaac Bashevis Singer meint: »Das größte Geschenk der Menschheit ist die freie Wahl. Es ist richtig, dass wir beim Gebrauch der freien Wahl begrenzt sind. Aber das Wenige an freier Wahl, das wir haben, ist ein solch großes Geschenk und ist potentiell so viel wert, dass es sich lohnt, gerade dafür zu leben«.2 Dem möchte ich aufgrund meiner Erfahrungen widersprechen: Wir haben keineswegs das Geschenk der freien Wahl, sondern wir haben das Geschenk des Lebens mit dem dazugehörigen Potenzial zur freien Wahl. Doch dieses Potenzial entfaltet sich nicht von selbst.
Während sich unsere körperlichen Potenziale während der pränatalen Phase vom Embryo bis zum Säugling von selbst entwickeln und bei einigermaßen nährenden Umweltbedingungen sich über die Kindheit und Pubertät zu ihrer reifen Form auswachsen, verhält es sich mit unseren psychisch-seelischen Potenzialen nicht ganz so einfach. Und was das Potenzial zum freien Willen angeht, so scheint es dasjenige zu sein, das für seine Entwicklung am längsten braucht und den meisten Einsatz erfordert, um sich zu entfalten.
Solange wir dieses Potenzial nicht entwickeln – und dazu braucht es mehr als die Trotzphase der Kleinkindzeit und die Rebellion der Pubertät –, solange sind wir, wie es die Hirnforscher postulieren, tatsächlich Marionetten der Verschaltungen unseres Gehirns, die offenbar von Kräften geformt und genutzt werden, die weit über die bisher in der Wissenschaft erforschten genetischen und sozialisierten Einflüsse hinausreichen. In den Kapiteln Der Kampf um den freien Willen und Gedankenwelten beschäftige ich mich mit dem Phänomen, dass unser Kommunikationsorgan Gehirn offensichtlich mit anderen Gehirnen bzw. Informationsgestalten mehr kommuniziert und vernetzter ist, als es ein materialistisches Weltverständnis wahrhaben will.
Eine Erkenntnis, die ich aus meiner Arbeit ziehe, ist die Tatsache, dass die psychischen Grundbedürfnisse und -motive einer neuen Bewertung bedürfen: Sie sind die Wegweiser zur Entfaltung unserer Potenziale; das heißt, wenn sie nicht befriedigt werden, können sich die jeweils in ihnen verborgenen Potenziale nicht entwickeln. Die Ergebnisse aus der Hirnforschung, der Vergleich mit den körperlichen Bedürfnissen und die genaue Betrachtung, wie sich das Bedürfnis nach einem freien Willen äußert und unter welchen Bedingungen sich der freie Wille entfaltet, lassen erkennen, dass sich nur bei ausreichender Befriedigung der psychisch-seelischen Bedürfnisse die inhärenten menschlichen Potenziale entwickeln können. Diese Bewertung steht im Gegensatz zu Philosophien und religiösen Dogmen, die in den Bedürfnissen etwas sehen, das bekämpft und möglichst unschädlich gemacht werden soll. Verbote bestimmter Grundbedürfnisse führen zu Fixierungen und Entgleisungen (dieses Thema behandle ich in den Kapiteln 3 und 6 ausführlich). Auch die angestrebte Bedürfnislosigkeit als Weg zur Befreiung von Leid (z. B. im Buddhismus) oder als Möglichkeit zum Seelenfrieden (z. B. bei den Stoikern) oder als Bedingung zur individuellen Freiheit (z. B. bei Laotse) macht erst dann Sinn, wenn im Laufe der Persönlichkeitsentwicklung die psychisch-seelischen Grundbedürfnisse schon so weit befriedigt wurden, dass sich die Potenziale bereits entwickelt haben. So sind z. B. beim indischen Prinzen Siddhartha Gautama, dem späteren Buddha, während seiner Kindheit und jungen Erwachsenenzeit sämtliche körperlichen und psychischseelischen Bedürfnisse wohl tief befriedigt worden, so dass sich seine Potenziale entfalten konnten. Auch Seneca, der die stoische Ethik zu einem glanzvollen Höhepunkt führte, stammte aus einer der reichsten Familien des römischen Reichs zu Zeiten von Kaiser Nero und war ein mächtiger und schon zu Lebzeiten berühmter Philosoph. Von ihm ist überliefert, dass er seine Bedürfnisse immer vortrefflich befriedigt hat (was übrigens damals schon als Gegensatz zu seiner Lehre empfunden wurde3) und so seine Potenziale entwickeln konnte.
Die Selbsterfahrungs-Arbeit zeigt, dass es mehrere Dimensionen von Bedürfnissen in der Psyche gibt, die wiederum in vielfacher Beziehung miteinander vernetzt sind. Da gibt es zum einen die individuelle, bewusste Ebene, die sich in den Interessen, Wünschen und angestrebten Zielen ausdrückt. Selbst für diese bewusste Dimension gilt, dass wir sehr häufig unsere wirklichen Absichten nicht kennen. Wir halten oft vordergründiges Verlangen oder bewusste Interessen und Ziele für die Motive unseres Handelns ohne zu den eigentlichen Beweggründen vorzustoßen. Wir haben rationale Gründe für unser Handeln – doch es gibt meist den Grund hinter dem Grund.
Denn hinter oder unter oder neben dieser bewussten Dimension liegt die individuelle unbewusste Dimension. Hier tummeln sich die Begehren, die von der Person aufgrund ihrer unbewussten Glaubenssätze und ihrer unbewussten Lebenspläne (Lebensscripte) aus ihrer Wahrnehmung bisher ausgeschlossen wurden und die nicht zu Motiven werden dürfen – und die sich deshalb in unverständlichen Handlungen, unangenehmen Situationen, Symptomen oder Krankheiten Gehör verschaffen wollen.
Und dann gibt es noch die unbewusste, kollektive Dimension. Sie ist ein Teil unserer Psyche, deren Kraft unser Schicksal in einer oft monströsen Weise bestimmt. Das ist der »tiefe Brunnen der Vergangenheit«, wie Thomas Mann4 es ausdrückt, der in uns wirkt und seine eigenen Begehren enthält, die er uns aufdrängt und die wir dann unbewusst erfüllen, auch wenn sie meist unseren eigenen, individuellen Bedürfnissen absolut zuwider laufen.
Trotz dieser hohen Komplexität unserer Psyche sind es aber immer wieder die wenigen gleichen Bedürfnisse und Motive, die sich durch alle Dimensionen ziehen und auf die alle inneren und äußeren, hilfreichen und destruktiven Kräfte einwirken. Und diese wenigen gleichen Grundbedürfnisse und Motive unterliegen einem Gesetz, das bisher in keiner Bedürfnis- und Motivationstheorie berücksichtigt wurde: dem Gesetz der Polarität. Das heißt, zu jedem Grundbedürfnis gibt es ein gegenteiliges und jedes Grundbedürfnis besteht in der Polarität von Haben-Wollen und Geben-Wollen. Und jedes Grundbedürfnis kann entgleisen, wenn es zu starken Einseitigkeiten in der Polarität kommt. Wenn ein Bedürfnis in die Fixierung gerät und dadurch der Gegenpol ausgeblendet wird, dann entstehen all diese Motive, die wir als Untugenden begreifen. So entsteht dann z. B. bei einer Fixierung des Besitz / Erkenntnis-Bedürfnisses Habgier, Geiz oder faustischer Erkenntnisdrang.
Im Kapitel Der Kreis der Bedürfnisse beschreibe ich mit meinem Modell eines Bedürfniskreises bzw. Motivrads diese gegensätzlichen Grundbedürfnisse und -motive in ihren jeweiligen Ausprägungen. Sie bilden nicht nur die Tiefenstruktur der menschlichen Psyche, sondern auch die Tiefenstruktur aller menschlichen Gemeinschaften, wie Familien, Organisationen, Gesellschaften und Kulturen. Sie sind die Gestalter nicht nur unseres individuellen Schicksals, sondern auch die prägenden Kräfte in allen Systemen, d. h. Familien, Organisationen, Gesellschaften und Kulturen.
Da sich aus den menschlichen Grundbedürfnissen die jeweiligen Werte einer Gemeinschaft ableiten, ist es auch für die Entwicklung und das Schicksal einer Gesellschaft von größter Bedeutung, von welchen Motiven sie sich steuern lässt (darauf gehe ich im Kapitel Zur universalen Dimension des Bedürfniskreises ein).
Ich habe die kulturellen und zeitgeistigen Unterschiede in der Betrachtung des Menschen durchaus im Blick und wage trotzdem die These aufzustellen, dass die Tiefenstruktur der menschlichen Psyche – ihre Potenziale, Bedürfnisse und Motive – in allen Kulturen und historischen Epochen (zumindest so weit zurück, als wir Schriftzeugnisse haben) gleich ist. Denn die älteste Weltliteratur gibt Aufschluss über das Erleben, das Handeln und die Motive der Menschen in ihrer jeweiligen Kultur und historischen Epoche (siehe Kapitel Ein Blick Jahrtausende zurück) und die historischen Ereignisse zeigen, mit welchen Bewertungen Gesellschaften bestimmte Grundbedürfnisse erhöhen und zu ihren »höchsten Werten« erklären bzw. sie zu »Unwerten« oder »Sünden« stempeln und verdammen.
Nur wenn wir zu den tieferen Gründen unserer Handlungen vorstoßen, jenseits unserer rationalen Erklärungen, und wenn wir verstehen, was die wirklichen Motive unseres Verhaltens und Handelns sind, welchen unbewussten Steuerungen wir unterliegen und in welche Situationen uns unbewusste Kräfte hineinlaufen lassen, können wir mit diesen Kräften in Kontakt kommen und ihr Wirken auflösen bzw. transformieren und dadurch unseren freien Willen und unsere Selbstbestimmung entwickeln und erweitern. Im Kapitel Der Kampf um den freien Willen zeige ich an zwei Fallbeispielen auf, wie das in der Praxis aussehen kann und wie wir den inneren Drahtziehern auf die Spur kommen können, die sich unserer Motivstruktur – ohne dass wir dies als Fremdeinfluss erkennen – bedienen. Wie sich diese Phänomene des Fremdeinflusses theoretisch erklären lassen, versuche ich im Kapitel Gedankenwelten zu erfassen.
Der Bogen, den ich in diesem Buch spanne, ist im Lauf der letzten zwölf Jahre, die ich nun daran arbeite, immer größer geworden. Als ich 1996 (überarbeitete Neuauflage 2008) in meinem Buch Die Weisheit des Erfolgs einen ersten Entwurf des Motivrades veröffentlichte, war dies eingebunden in den Kontext der Entwicklung von persönlicher Autorität. In der langen Zeit, die ich nun an und mit diesem Thema arbeite, ist mein Modell der menschlichen Motivstruktur gründlich gereift und meine Erfahrungen damit haben mir selbst erst verdeutlicht, dass dieses Thema nicht nur für die individuelle Persönlichkeitsentwicklung von grundlegender Bedeutung ist, sondern auch für die Analyse und Veränderung von Organisationen und Gesellschaften.
1 Sloterdijk, P. (2006): Zorn und Zeit. Frankfurt a. M. (Suhrkamp)
2 zit. nach Libet, B. (2004): Haben wir einen freien Willen? In: Ch. Geyer (Hrsg.): Hirnforschung und Willensfreiheit. Zur Deutung der neuesten Experimente. Frankfurt a. M. 2004 (Suhrkamp)
3 vgl. Berthold, H. (2005): Seneca. Mensch und Werk. In: Seneca. Handbuch des glücklichen Lebens. Köln (Anaconda)
4 zit. nach Assman, J. (2006): Thomas Mann und Ägypten. München (C. H. Beck)