Читать книгу Warum ich tue, was ich tue - Evelin Kroschel-Lobodda - Страница 12
Оглавление2. Gefühlswelten
Alles, was von den Menschen getan und erdacht wird, gilt der Befriedigung gefühlter Bedürfnisse sowie der Stillung von Schmerzen.
Dies muss man sich immer vor Augen halten, wenn man geistige Bewegungen und ihre Entwicklung verstehen will.
Denn Fühlen und Sehnen sind der Motor alles menschlichen Strebens und Erzeugens, mag sich uns Letzteres auch noch so erhaben darstellen.
Albert Einstein (Mein Weltbild)1
Häufig benennen wir Gefühle als Ursache bzw. Gründe für unser Handeln. So werden Angst, Wut oder Lust als Motive bezeichnet, wenn wir z. B. sagen: »das habe ich aus Angst getan« oder »ich habe es getan, weil ich wütend war« oder »ich hatte einfach Lust, das zu tun« usw. Mit solchen Aussagen benennen wir Gefühle als die Verursacher unserer Handlungen. Doch das sind Kurzschlüsse – Gefühle sind nicht die Ursache und nicht die Motive für Handlungen – sie sind die Auslöser für unser Tun bzw. Nichttun. Gefühle sind das Kommunikations- und Signalsystem des Organismus im Dienste der Bedürfnisse.
Das Gebiet der Emotionsforschung ist riesig und vielfältig. Je nach Wissenschaftsgebiet werden verschiedene Perspektiven eingenommen und unterschiedliche Teilbereiche angeschaut. Abgesehen von philosophischen Betrachtungen einzelner Emotionen (wie z. B. Sloterdijks Werk Zorn und Zeit, das sich ganz dem Gefühl des Zorns in all seinen Facetten widmet), gibt es im Groben fünf Denkrichtungen: Die physiologische Theorie, die kognitivistische Theorie, die kulturrelativistische Theorie, die evolutionspsychologische Theorie und die soziologische Sichtweise.
Die physiologische Theorie besagt, dass Emotionen aufgrund körperlicher Vorgänge entstehen. Während wir üblicherweise meinen, dass das Gefühl der Angst einen flacheren Atem oder Zittern auslöst, fanden die Vertreter der physiologischen Theorie heraus, dass wir deshalb Angst spüren, weil unser Atem flach ist oder weil wir zittern. Unser Organismus sorgt in Bruchteilen von Sekunden für die körperlichen Reaktionen, die in Bedrohungssituationen notwendig sind für Flucht oder Kampf. Das geschieht, noch bevor das dazugehörige Gefühl der Angst in unser Bewusstsein kommt. Dabei wird zwischen Empfindungen und Emotionen unterschieden. Als Empfindung wird die Wahrnehmung der körperlichen Befindlichkeit bezeichnet, aus der wiederum eine Emotion, ein Gefühl entstehen kann.
Die Vertreter der kognitivistischen Theorie sind der Meinung, dass es nicht die Ereignisse sind, auf welche die Menschen mit Gefühlen reagieren, sondern ihre Vorstellungen über diese Ereignisse. Sie interessieren sich vor allem für die Denkvorgänge und haben herausgefunden, dass wir bewusst oder unbewusst ständig an alles, was wir wahrnehmen, ein Bewertungsraster anlegen und unsere Emotionen dann durch diese Bewertungen ausgelöst werden. So lässt z. B. eine Mischung der Bewertungen unerfreulich + unvorhergesehen + fremdverursacht ein Gefühl des Zorns entstehen.
Ganz sicher ist es so, dass wir dieses unaufhörliche Bewertungsraster in unseren Denkprozessen haben – allein es greift zu kurz, die Gefühle nur auf diese Bewertungen zurückzuführen. Die kognitivistische Theorie betrachtet einen den Empfindungen und Gefühlen nachgelagerten Denkprozess, aus dem dann weitere Emotionen resultieren. Der Neurowissenschaftler Joseph Ledoux drückt das so aus: »Die Bewertungstheorien haben sich mehr mit Anlässen als mit Ursachen befasst.«2 So bemängelt z. B. auch Antonio Damasio,3 einer der führenden Emotionsforscher, dass sich die Kognitionswissenschaft weder mit der Homöostasefunktion noch mit der organismischen Funktion der Emotionen beschäftige. Für ihn gehört die Emotion untrennbar zur Logik des Überlebens.
Die kulturrelativistische Theorie vertritt die Ansicht, dass es keine angeborenen universalen Gefühle gibt, sondern dass Gefühle Teile einer Kultur seien, die in der Kindheit und Jugend sozialisiert, d. h. gelernt werden, und dass es dementsprechend in unterschiedlichen Kulturen und unterschiedlichen Epochen auch unterschiedliche Gefühle gibt. So zogen die Verfechter der kulturrelativistischen Position beispielsweise die Beobachtung der kanadischen Anthropologin Jean Briggs, dass die Angehörigen des Volks der Inuit niemals in Zorn gerieten, als Beweis dafür heran, dass Zorn keine universale menschliche Emotion sei. Tatsache ist jedoch, dass Briggs (sie lebte in den Sechziger-Jahren längere Zeit bei den Inuit in den West-Northern-Territories) zwar beobachten konnte, dass bei den Inuit Zorn niemals gezeigt oder ausagiert wurde, dass dies aber nur darauf zurückzuführen war, dass er in höchstem Maße kontrolliert wurde. »Die Kontrolle der Emotionen genießt bei den Eskimos hohe Wertschätzung, und wenn sie unter den beschwerlichsten Umständen ihren Gleichmut bewahren, gilt das als wichtigstes Zeichen von Reife, von einer Erwachsenen-Haltung.«4 Die Inuit bewerten zorniges Verhalten als »nutaraqpaluktuq«, das bedeutet ungefähr kindisches Benehmen. Diese Zuschreibung zeigt, dass die Inuit den Zorn also durchaus bei ihren Kindern beobachten, sonst könnten sie ihn nicht als kindisch bewerten, die Erziehung aber dann stark dahingehend wirkt, dass das Erleben und der Ausdruck von Zorn strikt unterdrückt wird. In einer so unwirtlichen Gegend (bis in die Fünfziger-Jahre hatten Hungersnöte die Eskimostämme dezimiert) ist eine uneingeschränkte Solidarität innerhalb der Gruppe die Voraussetzung zum Überleben. Der Zorn mit all seinen Risiken – wie Spaltung der Gruppe oder Ächtung von Einzelnen – wurde als zu gefährlich betrachtet, um toleriert zu werden.
Die langjährige Vormachtstellung der kulturrelativistischen Theorie ist inzwischen durch viele Forschungen der letzten Jahrzehnte massiv in Frage gestellt worden. Wie das Beispiel der Inuit zeigt, liegen die kulturellen Unterschiede nicht darin, dass die Menschen in verschiedenen Kulturen unterschiedliche Gefühle hätten, sondern dass in verschiedenen Kulturen die Emotionen je nach ihren gesellschaftlichen Bedürfnissen unterschiedlich bewertet und dementsprechend ihre Wahrnehmung und ihr Ausdruck unterschiedlich sozialisiert werden. So ist z. B. das Gefühl des Ekels universal – wovor sich Menschen in unterschiedlichen Kulturen und Epochen ekeln, ist jedoch sozialisiert. Genauso ist auch das Gefühl der Angst universal – wovor sich Menschen ängstigen ist jedoch kulturell und zeitgeistig unterschiedlich.
In der evolutions-psychologischen Theorie wird der Standpunkt vertreten, dass wir Emotionen verspüren, weil sie unserem Überleben dienen. Die Vertreter dieser Position sind überzeugt, dass Emotionen sich im Laufe der menschlichen Entwicklungsgeschichte durch viele Selektionen herausgebildet haben und zu unserem genetischen Erbe gehören. Darwin hielt sechs Emotionen für universal: Freude, Überraschung, Traurigkeit, Angst, Ekel und Zorn. Dafür spricht, dass sich emotionale Reaktionen wie Erschrecken (als eine Form von Überraschung), Freude, Angst, Ekel und Zorn beim Menschen schon im frühesten Säuglingsalter zeigen – eine Tatsache, die der Theorie, dass Gefühle nur aus Denkprozessen entstehen, entgegensteht.
Ein berühmter Neurowissenschaftler auf dem Gebiet der Emotionsforschung ist Joseph Ledoux. Auch er hält die Emotionen für Funktionen des Organismus, die dem Überleben dienen. Er kommt zu dem Ergebnis, dass wir eine neue Herangehensweise an das emotionale Gehirn brauchen, weil die Theorie vom limbischen System im Gehirn als Sitz der Emotionen überholt sei, da kaum etwas für die Existenz dieses Systems oder für seine Beteiligung an der Emotion spreche: »Die Theorie des limbischen Systems war eine Theorie der Lokalisation. Sie wollte uns verraten, wo die Emotion im Gehirn angesiedelt ist. Doch McLean und spätere glühende Verfechter des limbischen Systems konnten uns nicht verlässlich sagen, welche Teile des Gehirns denn nun tatsächlich zum limbischen System gehören. […] Aus heutiger Sicht bestand sein Fehler wohl darin, das ganze emotionale Gehirn und seine Evolutionsgeschichte in ein einziges System zu packen. […] Die Emotionen sind sehr wohl Funktionen, die dem Überleben dienen. Da die einzelnen Emotionen aber an unterschiedlichen überlebenswichtigen Funktionen beteiligt sind, kann es sehr wohl sein, dass sie jeweils andere Hirnsysteme in Anspruch nehmen, die sich aus unterschiedlichen Gründen entwickelt haben. Es könnte dementsprechend nicht bloß ein emotionales System im Gehirn geben, sondern etliche.«5
Neben den philosophischen, anthropologischen, neurobiologischen und psychologischen Wissenschaften haben sich auch die Soziologen mit Emotionen beschäftigt. Der soziologische Blick auf Emotionen ist vor allem geprägt von Fragestellungen im Zusammenhang mit der Gesellschaft, z. B. wie Emotionen sozial geprägt werden und welche Wirkungen sie zeitigen. Die Beschäftigung der Soziologie mit den Emotionen ist noch nicht sehr alt, weil angeblich die Väter der Soziologie die Emotionen als soziologisch ungeeignete Untersuchungsgegenstände ablehnten. Wie Flam6 ausführt, entstand eine ausgesprochene Soziologie der Emotionen erst etwa Mitte der 1970er-Jahre in den USA mit Untersuchungen von Funktion und Einfluss von Emotionen in ausgewählten eichen wie z. B. im Umgang mit Geld, in der Politik oder am Arbeitsplatz. Inzwischen wird der Erforschung des Zusammenhangs von sozialen Strukturen und Emotionen viel Aufmerksamkeit gewidmet.
Die Entdeckung der Spiegelneurone des italienischen Hirnforscherteams um Giacomo Rizzolatti7 hat nun die Emotionsforschung auf fundamentale Weise bereichert. Die Spiegelneuronen bieten nicht nur die biologische Erklärung für Phänomene wie Mitgefühl und Mitleid, sondern auch dafür, wie es möglich ist, von Gefühlen – und damit Bedürfnissen und Motiven – anderer infiziert zu werden. Die Wissenschaftler der Universität von Parma fanden Nervenzellen, in denen sich spiegelt, was andere tun und welche Gefühle sie zum Ausdruck bringen – und nannten diese Nervenzellen ›Spiegelneurone‹. Das bedeutet, dass dann, wenn wir eine Handlung beobachten, unsere Spiegelneurone genauso funken, wie sie es im Falle der eigenen Handlung tun, und wenn wir bei jemandem starke Gefühle wahrnehmen, dann funken unsere Spiegelneurone genauso, wie wenn wir selbst diese Gefühle hätten. Diese Spiegelneurone sind zuständig für Empathie und Mitleid, für unsere Einfühlungsfähigkeit; so sind sie z. B. auch dafür verantwortlich, wenn wir bei traurigen Filmen weinen oder uns bei gruseligen Psychoschockern fürchten (sofern wir uns nicht ständig bewusst machen, dass wir nur Zuschauer eines Kunstprodukts sind). Sie sind auch für das Phänomen verantwortlich, das in der Massenpsychologie schon lange als Resonanzphänomen bezeichnet wird.8 Das heißt, dass Gefühle einer Menschenmenge auf bisher Unbeteiligte ›überspringen‹ und dadurch bei diesen die gleichen Gefühle entstehen. Das gilt jedoch nicht nur für die Massenpsychologie, sondern für jede zwischenmenschliche Beziehung.9 Jeder von uns kennt das Phänomen, dass sich unser Gefühlszustand durch den Gemütszustand eines Gesprächspartners stark verändern kann, dass man sich von Gefühlen anstecken bzw. ›ergreifen‹ lässt. Der Hirnforscher Christian Keysers drückt das so aus: »Unser Gehirn ist bei weitem nicht so privat, wie wir dachten. Es erlebt die Zustände anderer Menschen mit.«10
Die Sprache von Körper und Psyche
Neben meinen phänomenologischen Erkenntnissen aus der psychologischen Praxis hat mir das Studium der Weltliteratur (Beispiele im Kapitel Ein Blick Jahrtausende zurück) gezeigt, dass sich durch alle Kulturen und Epochen hinweg die gleichen Gefühle nachweisen lassen und vor allem, dass sie immer im Dienste der Bedürfnisse stehen. Damit dienen Gefühle tatsächlich dem Überleben, wie es sowohl physiologische als auch psychologisch-evolutionäre Theorien postulieren – doch ihre Funktion geht weit darüber hinaus, denn sie dienen nicht nur dem Überleben, sondern auch der Entwicklung der Persönlichkeit, der Entfaltung unserer menschlichen Potenziale und der Wegbereitung unserer Fähigkeiten. Sie sind das Kommunikationsmittel innerhalb des Individuums und ein Kommunikationsmittel zwischen Individuum und Umwelt.
Gefühle stehen immer im Dienste der Bedürfnisse
Die genaue Betrachtung unserer körperlichen Bedürfnisse zeigt den grundlegenden Prozess auf. Viele Bedürfnisse des Körpers erfüllt er sich selbst autonom, ohne dass wir etwas tun müssen, zum Beispiel sein Bedürfnis nach Zellteilung, Zellwachstum, Zellzerfall und er regelt selbst seine Temperatur, Verdauung, Herzkreislauf usw. entsprechend den organismischen Homöostase-Bedürfnissen.
Doch wenn unser Organismus (Körper und Psyche) Bedürfnisse hat, die von uns handelnd befriedigt werden müssen, dann kommuniziert er uns das. Seine Kommunikationsmittel sind die Empfindungen, Gefühle, Emotionen und Affekte. Er zeigt uns über Gefühle, was er braucht. Wenn er Nahrung braucht, fühlen wir uns hungrig; wenn er Flüssigkeit braucht, fühlen wir uns durstig; wenn er Kontakt braucht, fühlen wir uns wach; wenn er Schlaf braucht, fühlen wir uns müde; wenn er sich entleeren will, fühlen wir einen Drang; wenn er Wärme braucht, dann frieren wir; wenn er nach Sexualität verlangt, zeigt er das über Lustgefühle; wenn er eine Vermeidung eines schädlichen Einflusses oder eine Heilbehandlung braucht, dann fühlen wir Schmerz, usw. Wenn also z. B. jemand sagt, »ich habe gegessen, weil ich hungrig war«, dann benennt er nicht die Ursache, die ihn zum Essen veranlasst hat, sondern er benennt das Kommunikationsmittel, mit dem ihm sein Körper kundgetan hat, dass er ein Nahrungsbedürfnis hat. Hunger ist kein Bedürfnis, sondern das Gefühl, mit dem das Bedürfnis gemeldet wird.
Also immer, wenn der Körper etwas braucht, was unser Handeln erfordert, meldet er das in Form von Empfindungen und Gefühlen. Sie sind die Sprache des Körpers, mit denen er uns eine Botschaft gibt.
Mit Psyche und Seele verhält es sich genauso. Auch sie melden uns ihre Bedürfnisse durch Gefühle. Auch ihr Kommunikationsinstrument sind die Gefühle.
Gefühle sind die Sprache des Körpers und unserer Seele, mit denen sie uns kundtun, dass sie etwas brauchen oder wenn sie frustriert sind; über Gefühle zeigen sie uns, wenn sie gesättigt bzw. befriedigt sind; über Gefühle zeigen sie uns, wenn sie übersättigt sind, und über Gefühle zeigen sie uns, wenn ein Befriedigungszustand bedroht ist.
Wenn ich in diesem Zusammenhang von Gefühlen spreche, mache ich keinen Unterschied zwischen Empfindungen, Emotionen, Gefühlen und Affekten, wie es in der psychologischen und philosophischen Literatur vielfach gemacht wird.11 So macht z. B. Antonio Damásio den Vorschlag, zwischen Emotionen und Gefühlen dergestalt zu unterscheiden, dass als Emotionen bezeichnet wird, was nach außen gerichtet und öffentlich sichtbar ist, und als Gefühle zu bezeichnen, was innerlich subjektiv erlebt wird.12 Ich mache auch keinen Unterschied zwischen nichtmoralischen und moralischen Emotionen, womit sich z. B. Wollheim vertieft beschäftigt hat.13 Denn ob moralische oder nichtmoralische Emotion, ob Empfindung, Gefühl oder Affekt – sie alle stehen im Dienste der Bedürfnisse und haben die Aufgabe, unser Bewusstsein auf den Zustand eines Bedürfnisses aufmerksam zu machen und unsere Wahrnehmung, unser Denken und unser Handeln in eine bestimmte Richtung zu lenken. So werden moralische Gefühle z. B. immer durch das Bedürfnisfeld Gerechtigkeit/Ideale ausgelöst. Zu jedem der Grundbedürfnisse gehören jeweils entsprechende Gefühle, mit denen sie sich ausdrücken. Um das an zwei Beispielen deutlich zu machen: Das Bedürfnis nach Rache drückt sich immer durch Gefühle von Ärger, Wut, Zorn und/oder Zerstörungslust aus – niemals durch Gefühle von Liebe, Fürsorge oder Angst. Dagegen drücken sich Bedürfnisse nach Bindung/Gemeinschaft durch Gefühle von Zuneigung, Liebe, Dazugehörigkeit, Fürsorge, Sehnsucht nach jemandem, Heimweh, usw. aus – aber nie durch Gefühle von Ärger, Wut oder Zorn. Werden jedoch Versuche zurückgewiesen, das Bedürfnis nach Gemeinschaft zu befriedigen, dann kann als Reaktion Ärger, Wut und Zorn entstehen – Gefühle, mit denen uns die Psyche kommuniziert, dass ein Bedürfnis frustriert wurde. Es können als Reaktion auf die Frustration aber auch Trauer und Niedergeschlagenheit entwickelt werden. Ob Zorn- oder Trauer-Gefühle uns signalisieren, dass ein Bedürfnis frustriert worden ist, hängt von unserer Bewertung ab (im Sinne der kognitiven Theorie). Meinen wir z. B., dass wir ein Recht auf die Befriedigung haben und sie uns von jemandem verwehrt wird, dann reagieren wir mit aggressiven Gefühlen wie Zorn. Meinen wir dagegen z. B., dass uns die Befriedigung nicht zusteht oder nicht möglich ist (z. B. wegen des Todes eines Partners), dann reagieren wir mit Trauer- oder Ohnmachtsgefühlen.
Jede Kultur hat ihre speziellen Vorlieben oder Notwendigkeiten zur Unterdrückung von bestimmten Primärbedürfnissen sowie den dazugehörigen Gefühlen (einhergehend mit der Erhöhung der jeweils gegenteiligen Bedürfnisse zu höchsten Werten). Durch jede Sozialisation wird das Individuum bezüglich der Wahrnehmung bestimmter Bedürfnisse desensibilisiert. Bei dieser kulturellen Desensibilisierung lernen wir, die entsprechenden Bedürfnisse und Gefühle so zu unterdrücken, dass wir sie gar nicht mehr wahrnehmen oder erkennen können (wie das Beispiel der Inuit zeigt, das eine sozialisierte Unterdrückung des Zorns beschreibt). Wir lernen, unliebsame oder unerlaubte Gefühle mit anderen Gefühlen zu überdecken oder zu verschleiern, wobei das Überdecken und Verschleiern dem Bewusstsein meist entzogen ist. So wird beispielsweise Trauer unbewusst häufig unter Wut versteckt, und umgekehrt ist Wut oft in eine Depression eingehüllt. Wir lernen, Gefühle unter einen Wust von Gedanken zu verstecken. Unsere westliche kulturelle Dominanz der Ratio macht es uns nicht einfach, unseren Gefühlen die Bedeutung zu geben, die sie haben und ihre Informationsqualität zu erkennen.
Wie sehr Gefühle z. B. unter einem dichten Schleier von Gedanken versteckt sein können, mag eine kleine Gesprächssequenz aus einer Coachingsitzung zeigen:
Der Klient erzählte von einer Kränkung durch seinen Vorgesetzten, die ihm so zugesetzt hatte, dass er deswegen erwog, die Firma zu verlassen (trotz vieler sich daraus ergebender Nachteile). Während er darüber sprach, konnte ich sehen, wie sein Atem flacher und sein Gesicht blasser wurden und seine Arme auf der Sessellehne angespannt waren. Ich: »Wenn Sie das Ganze so vor ihrem geistigen Auge haben – was empfinden Sie dabei?« Er: »Ja, ich denke, das war ziemlich unfair.« Ich: »Und wenn Sie nun daran denken und mir erzählen, wie unfair das Ganze war – wie fühlt sich das an?« Er: »Ich denke, der braucht einen Denkzettel.« Ich: »Sie wollen ihrem Chef einen Denkzettel verpassen. Aus welchem Gefühl heraus wollen Sie das denn?« Antwort: »Nun, ich denke, so etwas darf nicht ungestraft bleiben!« Nach meinen vergeblichen Versuchen, seine Wahrnehmung auf seine Gefühle zu richten, machte ich ihn schließlich auf meine Beobachtung seiner körperlichen Reaktionen aufmerksam: »Mir fällt auf, dass Ihre Arme ganz angespannt sind und Ihr Reden sich ein bisschen atemlos anhört.« Er stutzte und sagte dann ganz überrascht: »Ja, stimmt, ich fühle mich völlig angespannt – – (lange Pause) – – und außerdem bin ich echt zornig!«
Im weiteren Verlauf der Sitzung stellte sich dann heraus, dass »zornig sein« in der Familie des Klienten mit Verachtung und Beschämung bestraft wurde. Das hatte dazu geführt, dass der Klient lernte, seine Ärgergefühle zu verdrängen (was ihm offenbar Bluthochdruck verschaffte, denn ein halbes Jahr später am Ende des Coachings hatte sich sein Blutdruck normalisiert). Durch das Bewusstwerden und die Akzeptanz seines Zorns konnte er sein Rachebedürfnis erkennen und aus verschiedenen Perspektiven betrachten. Ihm wurde klar, dass er mit dem Verlassen der Firma nur sich selbst geschadet hätte und er damit keineswegs eine Bedürfnisbefriedigung erreicht hätte. In der vertieften Selbsterkenntnisarbeit kam er einer inneren Instanz auf die Spur, die zur Eskalation der Situation geführt hatte. Er erkannte, dass sein Verhalten durch ein sogenanntes Introjekt gesteuert war, das lautete »ich muss Autoritäten bekämpfen«. (Ein Introjekt wirkt wie ein unbewusster innerer Befehl, die Welt auf bestimmte Art zu sehen und/oder sich auf bestimmte Weise zu verhalten.) Das führte dazu, dass er in subtiler Weise immer wieder versuchte, die Hierarchie in der Firma in Frage zu stellen und die Autorität seines Chefs zu sabotieren. Als dieser seine Führungsrolle klar definierte und die Übergriffe abwehrte (was mein Klient als mangelnde Wertschätzung seiner Person empfand), eskalierte die Situation.
Mein Klient erkannte, dass ihm seine eigenen aggressiven Gefühle und das dahinter stehende Bedürfnis nach Macht nicht bewusst gewesen waren und er deshalb viel davon auf seinen Chef projiziert hatte. Da seine familiäre Sozialisation Unterwerfung verlangt hatte (was im Gegensatz zu seinem Introjekt stand, das einen Kampf gegen Autoritäten verlangte), musste mein Klient die Wahrnehmung seiner Machtbedürfnisse und seiner aggressiven Gefühle verdrängen, was dazu führte, dass sich diese Bedürfnisse unter einer Haltung versteckten, die sich in einer Mischung von nörglerischer Rechthaberei, ironischen Sticheleien und selbstdestruktivem Querulantentum ausdrückten. Als mein Klient dies erkannte, sein Machtbedürfnis in sein Selbstbild integrieren konnte und das destruktive Introjekt auflöste, veränderte sich die Situation deutlich. Hatte er vorher das Gefühl gehabt, ständig missachtet gegen Windmühlen zu kämpfen, so konnte er nun seine Kompetenz wirksam zum Ausdruck bringen und die Anerkennung, die er bekam, wahrnehmen und annehmen.
Gefühle sind die Sprache des Organismus. Wenn wir sie vernachlässigen, bedeutet das, dass wir die Informationen, die uns durch sie vermittelt werden sollen, nicht erkennen und in der Folge auch nicht adäquat damit umgehen.
Die vier Grundaussagen der Gefühle
Solange wir die Sprache unserer Psyche nicht verstehen, solange sind wir auch nicht in der Lage, mit ihr zu kommunizieren und Einfluss auf sie zu nehmen. Trotz der unzähligen Variationen und Kombinationen von Gefühlen beschränken sich ihre Aussagen auf vier Grundformen:
1. Gefühle melden einen Mangel bzw. Verlust an Befriedigung von Grundbedürfnissen:
Mangel bzw. Verlust signalisiert der Organismus z. B. durch Hunger, Durst, Müdigkeit, Wachheit, Lust, Tatendrang, Aggression, Mut, Strebsamkeit, Interesse, Wunschgefühle, Sehnsucht, Neugier, Heimweh, Fernweh, Rivalität, Erregung, Ehrgeiz, Gier, Sucht, Zorn, Wut, Hass, Groll, Ressentiment, Missgunst, Rachewunsch, Neid, Eifersucht, Entrüstung, Erschütterung, Demütigung, Scham, Reue, Sorge, Verunsicherung, Aufregung, erschrockene Überraschung, Irritation, Resignation, Erschöpfung, Verdruss, Niedergeschlagenheit, Verdrießlichkeit, Ungeduld, Trauer, Bitterkeit, Verbitterung, Trübsinn, Burn-out, Missbilligung, Schuldgefühl, schlechtes Gewissen, Sich-gekränkt- oder -beleidigt-Fühlen, Sich-angestrengt-Fühlen usw.
Die Unterschiedlichkeit dieser Gefühle hat zum einen mit der organismischen Unmittelbarkeit – im Sinne der physiologischen und psychologisch-evolutionären Theorien – zu tun (z. B. Hunger, Durst, Müdigkeit, Erschrecken, Angst usw.). Zum anderen rührt die Unterschiedlichkeit von der inneren Bewertung – im Sinne der kognitiven Theorie – ob der Mangel als Ansporn oder als Verlust empfunden wird, ob er als selbst- oder fremdverursacht bewertet wird, ob er als normal oder als schlimm erlebt wird, ob er als behebbar oder als nicht zu beseitigen angesehen wird (z. B. Zorn, Ärger, Trauer, Hilflosigkeit usw.).
Während Gefühle wie z. B. Verdruss, Niedergeschlagenheit, Trübsinn, Erschöpfung unspezifisch auf sämtliche Bedürfnisse bezogen sein können, gibt es Gefühle, die klare Hinweise auf einen spezifischen Mangel geben. So weisen z. B. Gefühle der Scham, der Demütigung, der Eifersucht, des Ehrgeizes usw. auf eine Betroffenheit des Bedürfnisfelds Selbstwert/Anerkennung hin. Wohingegen z. B. Schuldgefühle, Rachegefühle, schlechtes Gewissen, Missbilligung, Entrüstung usw. dann entstehen, wenn das Bedürfnisfeld Gerechtigkeit/Ideale betroffen ist.
Da für den Organismus ein Mangelzustand Stress bedeutet, werden dabei alle physiologischen und psychologischen Stress-Reaktionen ausgelöst – die ich im Abschnitt Die Macht der Bedürfnisse näher beschreibe.
2. Gefühle melden eine Bedrohung des derzeitigen Befriedigungszustandes:
Eine Bedrohung der Bedürfnisbefriedigung signalisiert der Organismus durch Angst, Furcht und Sorge in ihren unterschiedlichsten Ausprägungen.
Der legendäre Neurowissenschaftler Eric Kandel bezeichnet die Angst als »normale, angeborene Reaktion auf eine Bedrohung – der eigenen Person, der eigenen Einstellungen oder der Selbstachtung – oder auf die Abwesenheit von Menschen oder Dingen, die Sicherheit gewähren oder bedeuten.«14 Damit benennt Kandel schon fünf der wichtigsten Bedürfnisfelder: Sicherheit/Beständigkeit, Selbstwert/Anerkennung, Gerechtigkeit/ Ideale, Bindung/Gemeinschaft und Besitz/Erkenntnis, auf deren Bedrohung wir mit Angst reagieren.
So signalisieren z. B. die Todesangst, die Kriegsangst oder auch hypochondrische Ängste die Bedrohung des Lebens, betreffen also das Sicherheitsbedürfnis; soziale Ängste signalisieren eine Bedrohung der Zugehörigkeit oder des Selbstwertes; Bindungsängste signalisieren eine Bedrohung der eigenen Freiheit bzw. Unabhängigkeit; von Verlustängsten spricht man meistens im Zusammenhang mit der Angst vor dem Verlassen-Werden durch einen geliebten Menschen oder vor dem Verlust des Besitzes; und Existenzangst bezieht sich auf die Bedrohung des Lebensstandards, der Sicherheit, des Wohlstandes (Besitzes) und des Selbstwertes, z. B. wenn der Arbeitsplatz bzw. das Einkommen als unsicher wahrgenommen werden.
In seiner Signalfunktion ist Angst adaptiv und schützend und bereitet uns auf potenzielle Gefahren vor. Auf diesen Aspekt geht Willi Butollo in Angst ist eine Kraft15 detailliert ein.
Andererseits kann Angst dysfunktional werden, indem sie entweder unangemessen intensiv ist oder durch Verknüpfung bzw. Konditionierung auf neutrale Ereignisse oder Dinge verschoben wird, die weder selbst gefährlich sind, noch Gefahr anzeigen. Dann ist die Angst pathologisch und äußert sich z. B. in Panikattacken, in Phobien (z. B. Klaustrophobie, Agoraphobie, Tierphobien usw.), in hypochondrischen Ängsten oder in chronischer Angst (ein dauerhaftes Gefühl der Anspannung), ohne genau zu wissen, wovor. So ist dysfunktionale Angst z. B. ein zentrales Merkmal einer posttraumatischen Belastungsreaktion, bei der eine massive körperliche oder psychische Verletzung aus der Vergangenheit immer wieder als gegenwärtige Bedrohung erlebt wird.
Oft ist die Angst auch verbunden mit entweder aggressiven Gefühlen wie Ärger, Zorn, Empörung, Ungeduld, Sich-angegriffen-Fühlen usw. oder (gegenteilig) mit Ohnmachtsgefühlen wie z. B. Hilflosigkeit, Mutlosigkeit, Sorge, Erschütterung, Unbehagen, Nervosität, Unruhe, Verstimmung, Lähmung, Trübsinn, usw.
Die ungeheure Bedeutung des Gefühls der Angst ergibt sich aus diesem ursächlichen Zusammenhang von Grundbedürfnissen und ihrer tatsächlichen oder vermeintlichen Bedrohung, ganz gleich, welches Bedürfnisfeld als bedroht wahrgenommen wird. Gefühle von Furcht, Angst und Sorge entstehen also, wenn die Befriedigung eines unserer Grundbedürfnisse in Gefahr ist und wir dabei den Verlust einer Bedürfnisbefriedigung in die Zukunft projizieren, ohne dass gegenwärtig tatsächlich schon ein Mangel vorhanden wäre. Normalerweise sind wir uns dieser Verlust-Projektion in die Zukunft nicht bewusst, sondern wir reagieren so, als wäre der Mangel schon eingetreten.
3. Gefühle melden eine Bedürfnis-Befriedigung:
Eine Bedürfnisbefriedigung wird immer durch ein positiv empfundenes Gefühl signalisiert: z. B. durch Freude, Glück, Zufriedenheit, Sättigung, freudige Überraschung, Angekommen-Sein, innere Ruhe, Gelassenheit, Heiterkeit, Genugtuung, Sicherheit, Dankbarkeit, Wohlbehagen, Geduld, Stolz, Gleichmut, Bewunderung, Entzückung, Freiheit, Liebe, Zugehörigkeit, Wohlgesonnen-Sein, Sich-anerkannt-Fühlen, Sichwertgeschätzt-Fühlen, Sich-geehrt-Fühlen, Sich-erfolgreich-Fühlen, Sich-nützlich- oder -wichtig-Fühlen, Sich-erfrischt-Fühlen, Sich-im-»flow«-Erleben16 usw.
Auch bei den Emotionen, die eine Befriedigung melden, ist es so, dass einige Gefühle, wie z. B. sich freuen, sich glücklich fühlen, zufrieden sein usw. unspezifisch sind und sich auf alle Bedürfnisse beziehen können, während andere sehr spezifisch für bestimmte Bedürfnisfelder stehen. So bedeutet z. B. ein Flow-Gefühl, dass die gegensätzlichen Bedürfnisse nach Hingabe und Wirksamkeit sowie nach Sicherheit und Neuheit gleichzeitig befriedigt sind. Gefühle wie Zugehörigkeit oder Aufgehoben-Sein, geliebt zu werden usw. melden eine Befriedigung des Bedürfnisfelds Bindung/Gemeinschaft; Gefühle wie Anerkennung oder Wertschätzung, geehrt zu sein, gesehen zu werden usw. signalisieren, dass das Bedürfnis nach Selbstwert/Anerkennung gerade befriedigt wird. Sich dankbar zu fühlen, Genugtuung zu erleben, etwas oder jemanden zu bewundern, sich im Recht zu fühlen usw. sind Emotionen, die anzeigen, dass ein Bedürfnis aus dem Feld Gerechtigkeit/Ideale befriedigt ist.
4. Gefühle melden eine Übersättigung von Grundbedürfnissen:
Übersättigung kann sich z. B. durch Gefühle von Überdruss, Trägheit, Ekel, Lustlosigkeit, Stumpfsinnigkeit, Ablehnung, Lähmung, Fadheit usw. bemerkbar machen.
Vor allem äußert sich eine Übersättigung jedoch durch ein Umschlagen auf das jeweils gegensätzliche Bedürfnis. So schlägt beispielsweise ein übersättigtes Sicherheits-/ Beständigkeits-Bedürfnis um in das gegenteilige Bedürfnis nach Neuheit/Veränderung; ein übersättigtes Bindungs-Bedürfnis schlägt um in einen Freiheitsdrang (und jeweils umgekehrt). Ein übersättigtes Besitz-Bedürfnis schlägt um in ein Selbstwert-/Anerkennungs-Bedürfnis (ein Beispiel dafür ist, wenn Menschen mit großem materiellen Besitz nur noch Ruhm und Ehre wollen – so bezeichnete z. B. der Milliardär George Soros sein Leben als Spekulant als »elend« und wünscht sich, als Philosoph und Philantrop anerkannt zu werden). Ein übersättigtes Gerechtigkeits-/Ideale-Bedürfnis schlägt um in ein Freude-/Genuss-Bedürfnis (ein extremes Beispiel dafür ist, wenn ein leistungsbetonter oder sehr pflichtbewusster Mensch plötzlich zum Aussteiger wird und nur noch der Muße, der Kunst oder dem Naturgenuss frönt).
Gefühle sind also nicht die Ursache, sondern die Impulse unseres Tuns bzw. Nicht-Tuns – Ursache unseres Tuns sind die Bedürfnisse und die in ihnen enthaltenen Potenziale, die zur Entfaltung drängen. Über die als negativ empfundenen Gefühle fordert uns unser Organismus auf, seine Bedürfnisse zu erkennen und zu befriedigen, und über die positiv empfundenen Gefühle signalisiert er uns die gelungene Befriedigung.
Aggression – eine emotionale Funktion im Dienste der Bedürfnisse
Sigmund Freud betrachtete den Aggressionstrieb als selbstständigen Trieb (er nannte ihn Thanatos) und stellte ihn der Libido (dem Lebenstrieb) gegenüber. Aggression ist jedoch kein Trieb im Sinne eines eigenständigen Bedürfnisses, sondern ein physiologisches Potenzial im Dienste aller anderen Bedürfnisse.
Wenn wir die Aggression von Tieren betrachten, zeigt sich diese Funktion sehr deutlich. Es geht immer um den Status in der Gruppe, um die Rangfolge bei Platz und Nahrung oder um die Abwehr von Bedrohung.
Wenn wir menschliche Aggression genauer betrachten, finden wir die gleiche Ausgangslage wie bei Tieren: sie ist nie sinnlos oder unmotiviert. Wenn von »sinnloser Gewalt« gesprochen wird, dann handelt es sich hierbei immer um die Zuschreibung oder Interpretation von außen, d. h. dass sie dem Betrachter als sinnlos erscheint. Für den Handelnden selbst gibt es immer ein Motiv, das ihn aggressiv sein lässt. Es ist zwar häufig so, dass jemand selbst den Grund seines aggressiven Handelns nicht kennt, weil er unbewusst und automatisch handelt (vgl. Kapitel Der Kampf um den freien Willen) und seine eigenen Motive nicht kennt. Doch mangelnde Selbsterkenntnis ist nicht gleichbedeutend mit mangelndem Motiv.
Aggression ist ein grundlegendes physiologisches Potenzial, das jedoch unbedingt eines psychischen Anreizes bedarf, damit es zu einem aggressiven Verhalten bzw. zu einer aggressiven Handlung kommt. Das heißt, Aggression steht immer im Dienste eines Bedürfnisses bzw. Motivs. Das kann z. B. das Vergeltungsmotiv sein, wenn man sich für eine Demütigung, Ungerechtigkeit oder Frustration rächen will. Es kann das Machtmotiv sein, wenn man mit der Aggression seine eigene Wirksamkeit erhöhen will; es kann das Besitzmotiv sein, wenn man mit Aggression etwas erbeuten oder seinen Besitz verteidigen möchte; es kann das Selbstwertmotiv sein, wenn mit der Aggression die eigene Ehre verteidigt oder wieder hergestellt werden soll; es kann das Bindungsmotiv sein, wenn mit der Aggression etwas für die eigene Gemeinschaft erkämpft oder verteidigt werden soll; es kann das Sicherheitsmotiv sein, wenn mit der Aggression der eigene Schutz verteidigt werden soll; es kann das Neuheits-/Veränderungsmotiv sein, wenn mit der Aggression das Alte zerstört werden soll, um dem Neuen Platz zu machen; es kann das Individualitäts- und Freiheitsmotiv sein, wenn mit der Aggression Vereinnahmung und Unfreiheit abgeschüttelt werden soll, usw.
In einer sorgfältigen Verhaltensbeobachtungs-Studie wurden Kinder im Alter von drei bis elf Jahren in je einer Gemeinde aus sechs Kulturen – Kenia, Mexiko, Nordindien, Okinawa, Philippinen und USA – in Bezug auf Aggressionen untersucht. Dabei stellte sich heraus, dass bei Kindern, solange sie noch nicht voll in die besonderen Sozialisationsnormen ihrer jeweiligen Kultur hineingewachsen sind, die Art und Häufigkeit der Aggression in den unterschiedlichen Kulturen fast völlig gleich sind. »Nimmt man die häufigsten Formen der Aggression (wie beleidigen, schlagen), so zeigen Kinder zwischen drei und elf Jahren in jeder Kultur durchschnittlich neunmal pro Stunde aggressive Akte. Davon sind 29 Prozent unmittelbare Vergeltungsreaktionen auf Angriffe, die man gerade von anderer Seite erfahren hat. […] Mit dem Alter ändern sich in allen Kulturen die Formen der Aggression: Die Häufigkeit körperlicher Angriffe nimmt ab zugunsten stärker ›sozialisierter‹ Formen wie Beleidigung und Balgereien. […] Bemerkenswert ist des Weiteren, dass in jeder Kultur die jüngeren Kinder und die altersgleichen weit mehr Aggression abbekommen als die älteren, zumal mit jüngerem Alter die Angegriffenen auch eher zur Aggression einladen, weil sie sich getroffen fühlen oder weinen. Lambert (1974) sieht darin eine Verschiebung auf wehrlosere Opfer.«17
Jede Kultur hat bei allen Gemeinsamkeiten der kindlichen Aggressionsformen dann jedoch ihre eigenen Normen und Wertungen für aggressives Handeln. Sie legt fest, was erlaubt und was nicht erlaubt ist und wann und welche Aggressionen sogar erwünscht sind oder zumindest indirekt belohnt werden. Manches von diesen Normen findet ihren Niederschlag in den Strafgesetzbüchern. So wird z. B. Mord aus niedrigen Beweggründen schwer, Töten aus Notwehr dagegen gar nicht bestraft. Die meisten der Normen und Regeln werden aber einfach über Bekräftigungs- und Vorbildlernen internalisiert und zu ungeschriebenen Gesetzen.
Wie unterschiedlich kulturelle Regeln und Normen in Bezug auf Aggressionen das individuelle aggressive Handeln prägen, durch welche Motive das aggressive Handeln verursacht werden kann und welche Motive der Betreffende selbst sich dann zuschreibt, möchte ich am Beispiel des aktuellen Terrors von islamistischen Fundamentalisten aufzeigen:
Unter dem Titel »Blutige Taten, heilende Rache« beschäftigte sich der Autor Sudhir Kakar in der Wochenzeitung »Die Zeit« vom 18.8.2005 mit der Psychologie von islamistischen Terroristen. Sudhir Kakar schaut jenseits von medialen oder politischen Kurzsichtigkeiten sehr genau auf die Beweggründe von religiösen Fanatikern. Dabei postuliert er, dass die Gewalt von säkularen Terrorgruppen noch heute verblasse gegenüber den schrecklichen Bluttaten von religiösen Tätern. Dabei zeigt er auf, wie diese religiösen Täter durch die Botschaften fundamentalistischer Prediger geprägt werden.
Diese Botschaften beginnen mit der Klage über den verlorenen Ruhm des Islam und die beklagenswerte Lage, in der sich Muslime heute befänden im Vergleich zum Glanz vergangener Zeiten. Auf die Beschreibung der Symptome folgt dann die Diagnose: Muslime hätten alles verloren – politische Autorität, Respekt, spirituellen und materiellen Reichtum – weil sie durch einen geschwächten oder abhanden gekommenen Glauben der moralischen Verkommenheit der modernen globalisierten Welt nicht genügend entgegenträten. Die Heilung bestehe also in einer Rückbesinnung auf die Scharia und die im Koran aufgestellten Glaubensgrundsätze.
Die als düster und verachtenswert geschilderte Sicht der Gegenwart im Vergleich zur hell und glanzvoll erscheinenden Vergangenheit und möglichen Zukunft kennzeichnet das ideologische Fundament des islamischen Terroristen, der bereit ist, in den Tod zu gehen.
Psychologisch gesehen ist der Fundamentalismus also für den Außenstehenden eine Krankheit, für den Insider der Weg zur Gesundung.
Triebkraft des Dschihad ist keineswegs ein Mangel an Werten. Nur unterscheiden sich diese Werte von denjenigen, die die moderne Gesellschaft prägen. Einem Manifest des Gründers der ägyptischen Muslimbrüder zufolge sind Alkohol, Unzucht, Konsum und vulgäre Vergnügungen charakteristisch für spirituell und moralisch verdorbene Gesellschaften. Im Terrorismus gegen die »unreine, moralisch verdorbene« westliche Gesellschaft sieht der fundamentalistische Gewalttäter eine Chance, Heldentum und Idealismus auszudrücken im Dienste Gottes. Aufgrund der religiösen Motivation sieht er seinen Kampf als den Kampf des Guten gegen das Böse, den Kampf für Gott gegen Satan.
Bei seinen Gewaltaktionen, die seiner Zuschreibung nach einzig Gott dienen, sieht er sich erhaben und nicht klein und ihn plagen auch keine Schuldgefühle, wenn er unschuldige Menschen in den Tod schickt. Dies gilt besonders für den Selbstmordattentäter. Er ist nicht zu vergleichen mit dem »normalen« Selbstmörder, der aus Verzweiflung, Hilflosigkeit oder Ohnmacht handelt. Solche persönlichen Gründe wären für den Selbstmordattentäter eine feige, gotteslästerliche Tat. Nach Kakar ist es auch ein Irrtum, wenn wir annehmen, die fundamentalistischen Attentäter kämen aus Verhältnissen von Armut, Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit. Er beruft sich auf den Soziologen Scott Atran, der in seinem Buch Holy Terror. The Inside Story of Islamic Terror nachgewiesen hat, dass Terroristen meist besser ausgebildet sind und wirtschaftlich besser dastehen als der Großteil der Bevölkerung und dass z. B. laut eines saudischen Untersuchungsberichtes die meisten palästinensischen Selbstmordattentäter studiert haben und aus wohlhabenden und angesehenen Familien stammen.
Diese gebildeten und materiell gut gestellten Muslime sind mit ihrer Geschichte meist wohlvertraut. Sie fühlen sich angesprochen von Darstellungen alten islamischen Glanzes, nehmen die marginale Bedeutung moderner islamischer Staaten sehr stark wahr und sind empfänglich für Gefühle kollektiver Demütigung. Sie reagieren weitaus empfindlicher als andere Muslime, wenn der Westen von der Rückständigkeit muslimischer Gesellschaften redet und seine eigene Überlegenheit herausstellt. Dank seiner Bildung und Herkunft nimmt der islamische Terrorist die Unterdrückung in seiner eigenen Gesellschaft und in der modernen Welt insgesamt stärker wahr.
Diese Antriebskräfte, die aus den Gefühlen von Erniedrigung, Demütigung und Vergeltungsbedürfnissen entstehen, sind in der muslimischen Welt nicht überall gleich stark. Arabische Gesellschaften, in denen Ehre und Ehrverlust eine große Rolle spielen, reagieren viel sensibler auf empfundene Demütigungen und narzisstische Kränkungen als muslimische Gesellschaften, in denen diese Ehrstrukturen nicht so stark ausgeprägt sind.
Analysieren wir diese Ausführungen noch genauer, dann sind die Motive für die Selbstmordattentate zum einen Rachemotive für Erniedrigung und Demütigung und zum anderen Selbstwertmotive, weil durch die Terrorhandlungen versucht wird, den eigenen Selbstwert und die eigene Ehre zu erhöhen und die Ehre der Gruppe wieder herzustellen. Neben diesen beiden Bedürfnissen sind die Motive für fundamentalistischen Terror allgemein immer fixierte Ideale-Bedürfnisse (das bedeutet, die eigenen Ideale werden in selbstgerechter Hybris allen anderen verordnet), verbunden mit fixierten Machtbedürfnissen (das heißt, die eigenen Ziele werden mit Gewalt und Unterwerfung verfolgt).
In einem Punkt allerdings irrt Sudhir Kakar in seinen Ausführungen. Nämlich wenn er schreibt, dass säkularer Terror angesichts religiöser Bluttaten verblassen würde. Wenn wir nur in die jüngste Geschichte schauen, dann denke ich, kann diese Aussage nicht aufrecht erhalten werden. Es war sicher ein unbeschreiblich grausamer und tödlicher Terror, den Deutschland während des Nationalsozialismus veranstaltete. Es war ein mörderischer und blutrünstiger Terror, den die Pol-Pot-Anhänger in ihrem Land verbreiteten. Es war ein mörderischer und tödlicher Terror und Genozid, den die Türken gegen ihre armenische Bevölkerung betrieben. Es war ein grausamer und tödlicher Terror, den die Klu-Klux-Klan-Mitglieder (alles »ehrbare Bürger« mit »moralischen« Begründungen ihres Handelns) unter der schwarzen Bevölkerung der amerikanischen Südstaaten anrichtete. Es war und ist ein unvorstellbarer Terror und blutrünstiges Morden bis zum Genozid in verschiedenen afrikanischen Staaten im Gange. Und so weiter und so weiter. Die entsprechende Aufzählung wäre schon endlos, ohne die »offiziellen Kriege« zwischen Staaten oder Völkern.
Aggression bzw. aggressives Verhalten wird schon in den ältesten menschlichen Schriften beschrieben. Es steht immer im Dienste anderer Motive. Als Beispiel gehe ich kurz auf das Gilgamesch-Epos ein (die ausführliche Analyse findet sich im Kapitel Ein Blick Jahrtausende zurück): Im Gilgamesch-Epos finden wir aggressives Handeln aus den unterschiedlichsten Motiven: Es beginnt damit, dass die Bürger von Uruk sich über das aggressive Verhalten ihres Königs bei den Göttern beklagen. Daraufhin schicken die Götter einen an Kraft ebenbürtigen Gegenspieler, Enkidu. Als dieser von der Stärke Gilgameschs hört, will er sich sogleich im Kampf mit ihm messen (Aggression im Dienste des Selbstwertbedürfnisses). Gilgamesch weist aggressiv das Liebeswerben der Göttin Ischtar zurück (Aggression im Dienste der eigenen Sicherheit). Sie schickt daraufhin den Himmelsstier, der Gilgamesch töten soll (Aggression im Dienste des Rachebedürfnisses). Gilgamesch besiegt und tötet den Himmelsstier. (Aggression zur Verteidigung, also Sicherheitsmotiv). Gilgamesch und Enkidu sind inzwischen unzertrennliche Freunde und wollen nun gegen »das Böse« in den Kampf ziehen (Gerechtigkeits-Motiv). Als Inkarnation des Bösen wird nun der Hüter des Zedernwaldes, Chumbaba, ausersehen, weil dieser (von Gott Enlil eingesetzt) den Zederwald gegen die Menschen verteidigt (Aggression nun im Dienste von drei Motiven: Selbstwert-, Macht- und Besitzmotiv). Sie töten Chumbaba. Diesen Frevel rächt Gott Enlil nun wiederum mit dem Tod von Enkidu.
Im Pol Vuh, in dem die ältesten Mythen der Inkas festgehalten sind, wird die Frühgeschichte der Menschen als ein blutrünstiges Wettbewerbsspiel erzählt.
1 Einstein, A. (1953): Mein Weltbild. Zürich (Europa)
2 Ledoux, J. (1996): Das Netz der Gefühle. Wie Emotionen entstehen. 5. Aufl. München 2010 (dtv), 72
3 Damasio, A. (1999): Ich fühle, also bin ich. Die Entschlüsselung des Bewusstseins. 8. Aufl. Berlin 2009 (Ullstein)
4 Briggs zit. nach F. LeLord / Ch. Andrè (2001): Die Macht der Emotionen. 8. Aufl. München 2011 (Piper), 50
5 Ledoux, J. (1996): Das Netz der Gefühle. Wie Emotionen entstehen. 5. Aufl. München 2010 (dtv), 107 ff.
6 Flam, H. (2002): Soziologie der Emotionen. Konstanz (UVK)
7 Rizzolatti, C. / Sinigaglia, C. (2008): Empathie und Spiegelneurone. Die Biologische Basis des Mitgefühls. Frankfurt a. M. (Suhrkamp)
8 Le Bon, G. (1982): Psychologie der Massen. Stuttgart (Kröner)
9 vgl. auch: Bauer, J. (2006): Warum ich fühle, was du fühlst. 4. Aufl. München (Heyne)
10 Keysers, C. im Spiegel-Interview »Eine fast mystische Verbindung«. Spiegel 29/2013
11 vgl. dazu Harbsmeier, M. / Möckel, S. (Hrsg.) (2009): Pathos, Affekt, Emotion. Transformationen der Antike. Frankfurt a. M. (Suhrkamp)
12 Damásio, A. (2009): Ich fühle, also bin ich. Die Entschlüsselung des Bewusstseins. München (List), 50 ff.
13 vgl. Wollheim, R. (2001): Emotionen – eine Philosophie der Gefühle. München (Beck)
14 Kandel, E. (2008): Psychiatrie, Psychoanalyse und die neue Biologie des Geistes. Frankfurt a. M. (Suhrkamp), 191
15 Butollo, W. (1999): Angst ist eine Kraft. München (Piper)
16 vgl. Czikszentmihalyi, M. (2010): Das Flow-Erlebnis. Jenseits von Angst und Langeweile. Stuttgart (Klett-Cotta)
17 vgl. Heckhausen (1980): six-culture-study, 352