Читать книгу Kreuz Teufels Luder - Evelyna Kottmann - Страница 11

Drei

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Ich, Luisa, war mit all den anderen Mädchen für lange Zeit im obersten Stockwerk untergebracht, im Schlafsaal. Die vielen Treppen, die ich steigen musste, rundeten den Tag ab und übergaben mich der Nacht. Die Betten waren in zwei Reihen aufgestellt, vor jedem ein Stuhl für die Kleider. Fein säuberlich gefaltet musste ich sie am Abend hinlegen. Am Anfang gelang mir das nicht recht, und bevor ich ins Bett durfte, musste ich so lange vor diesem Stuhl stehen, bis ich es schaffte. Dann konnte ich endlich in das Land der Träume eintauchen. Ich lag im Bett, schaute in die Nacht hinaus und bestaunte die vielen hellen Sterne, manchmal auch den Mond. Ich wurde immer trauriger, und vor lauter Trauer verschlug es mir allmählich die Sprache.

Das Aufstehen am Morgen war das Schwierigste. Ich hatte Angst, aus dem Schlafsaal zu gehen und in den Tag hinein. Die Buben, zu denen auch mein Bruder Arabat gehörte, hatten ihren Schlafsaal unter uns. Wir Mädchen mussten immer zuerst an den Buben vorbei in den Speisesaal gehen. Hatte einer von ihnen ins Bett gemacht, mussten wir zu ihm sagen: «Du hast ins Bett gemacht. Pfui, du bist ein böses Kind!» Die Tage, an denen sich das auch Arabat von uns Mädchen bieten lassen musste, wurden immer zahlreicher. Seine tieftraurigen Augen versetzten meinem Herzen jedes Mal einen schmerzhaften Stich. Ich konnte ihm kein Lächeln schenken, was ich zu Hause oft gemacht hatte. Arabat war sehr einsam, wie ich. Ein einziges Mal nahm ich seine Hände, als ich vor ihm stand, aber eine Schwester trennte uns heftig und gab uns eine Ohrfeige. Zum Glück hatte Arabat das Weinen nicht verlernt. Ich hatte es zu Hause auf dem Tisch verloren, doch innerlich weinte ich Tag und Nacht. Arabat lernte nicht, das Bett bis zum Morgen trocken zu halten.

Ich zog mich in eine Welt zurück, die niemand kannte. Jeden Abend schlüpfte ich aus meinem kleinen Körper hinaus, aber nicht mehr zur Decke hinauf, um mich selbst zu beobachten. Nein, ich hatte gelernt, auf diese Weise meine Geschwister zu besuchen, um ihnen nahe zu sein und mit ihnen zu kuscheln. Doch dieses Kuscheln genügte mir nicht, und die Reisen zu meinen Geschwistern waren anstrengend. Ich wurde davon immer trauriger und blasser.

Wenn ich konnte, klebte ich in dem grossen Essraum mit der Fensterfront stundenlang an der Scheibe und schaute in den grossen Garten. Bis eines Tages ein Kopf vor diesem Fenster hin und her spazierte. Es war ein weisser Kopf ohne Augen, Ohren, Nase und Mund, der immer nur hin und her ging. Ich schloss die Augen und dachte: «Jetzt ist er weg!» Doch als ich die Augen öffnete, war er wieder da. Meine Angst wurde immer grösser, bis ich vor allen Kindern, die still dasassen, zu schreien begann. Mein Schreien schlug in die Stille ein wie ein gewaltiger Blitz. Die Schwestern kamen angerannt, als jagte ein Bienenschwarm hinter ihnen her. Ich hatte schreiend meine Sprache wiedergefunden und zeigte auf den weissen Kopf, der immer noch ganz gemütlich vor der Fensterfront hin und her spazierte. Aber ich begriff schnell, dass niemand ausser mir ihn sehen konnte. Eine Schwester führte mich hinaus und steckte mich ins Bett. Ich zog die Bettdecke über den Kopf, denn ich wollte nichts mehr hören und sehen. Ich hatte genug gesehen.

Der weisse Kopf erschien immer wieder, wenn ich im Esssaal war. Mit der Zeit wurde er zu meinem ständigen Begleiter und bald freute ich mich sogar, ihn da zu sehen. Dann konnte ich in die Welt hinauslachen, zum Erstaunen der anderen, die nicht wussten, weshalb ich lachte. Im Garten war auch immer ein Mann zu sehen, der Einzige im Heim. Er machte sich dort an den Bäumen und Sträuchern zu schaffen. Manchmal kämpfte er mit einem grossen Schwert gegen die langen Gräser, die dann auf dem Boden liegen blieben, bis er sie mit einer grossen, schweren Gabel zusammenschob, als müsse er das Gras aufessen.

Seit meiner ersten Begegnung mit dem Geist durfte ich nicht mehr beim grossen Fenster sitzen. Aber wir wurden in den Garten geschickt zum Spielen. Die Buben durften immer zuerst nach draussen. Erst wenn sie wieder im Haus waren, durften wir Mädchen hinaus. Die Schwestern sprachen oft mit dem Mann im Garten, und so waren ihre Augen nicht immer auf uns gerichtet. Es gelang mir, zu entwischen und im Garten mein eigenes Abenteuer zu suchen. Es gab dort so vieles zu entdecken und zu bestaunen. Für mich war es ein Paradies. Mehrere kleine Häuschen standen verstreut zwischen Sträuchern, als wollten sie sich verstecken. Wenn man nicht genau hinschaute, sah man sie kaum. Ich wollte natürlich wissen, was in diesen Häuschen drin war, ob vielleicht jemand darin wohnte, vielleicht sogar Kinder. Aber ich war noch zu klein, um an den Türriegel zu gelangen, auch wenn ich die Zehen spitzte. Ich musste etwas zum Hinaufsteigen finden, das ich aus eigener Kraft schieben oder tragen konnte, einen Stuhl vielleicht. Nach langem Suchen fand ich einen Kübel voller Gartengeräte.

Ich leerte den Kübel und trug ihn zu dem Häuschen, das ich auskundschaften wollte. Ich stellte mich darauf und versuchte, die Tür zu öffnen, aber meine Kraft reichte nicht aus. So ging ich rund um das Häuschen und entdeckte ein kleines Fenster, das mit kräftigen, grünen Blättern und vielen kleinen Wurzeln überwachsen war. Ich war auch zu klein, um durch das Fenster zu schauen. Aber auch hier half mir der Eimer, der vor der Tür nur darauf wartete, mit mir eine neue Herausforderung zu bewältigen. Trotzdem gelangte ich nicht ganz an das Fenster heran. Da es nach aussen gekippt war, konnte ich mich aber mit beiden Händen daran hinaufziehen, und meine Füsse halfen mir, ganz nach oben zu klettern. Ich zwängte mich durch die Öffnung hindurch, klammerte mich am Fensterrahmen fest und fand mit den Füssen einen festen Untergrund. Meine Hände schmerzten und bluteten ein wenig.

Ich stand hoch oben auf einem Gestell mit lauter Flaschen, Büchsen und Schläuchen, alles fein säuberlich nebeneinander, aber staubig. Der kleine Raum war voll mit Gestellen. An einem blieben meine Augen hängen: Darauf lagen ganz viele bunte Bälle, und sie sahen aus, als hätte sie noch nie jemand angerührt. Ich kletterte vorsichtig hinunter, sodass nichts in die Brüche gehen oder herunterfallen konnte. Endlich bei den bunten Bällen angelangt, traute ich meinen Augen nicht: Die Bälle dufteten wie neu erfunden, es gab kleine und grosse in allen Farben, prall gefüllt mit Luft! Sie luden mich ein, mit ihnen zu spielen, denn bis jetzt war es ihnen langweilig gewesen in diesem Verliess. Ich vergass die grosse Welt draussen und rollte die Bälle, spielte sie an die Decke, fing sie wieder auf, schnupperte an ihnen. Ich räumte auch die Gestelle auf, in denen sie lagen. Danach waren viele Sachen am Boden verstreut, die im Gestell hätten bleiben sollen. In den Ecken und an den Wänden hingen kleine Netze, an denen Fliegen und andere kleine Lebewesen hingen. Die Bälle und ich, wir holten sie herunter. Es stob, und ich musste immer wieder niesen, da es mich in der Nase kitzelte. Unser Spiel hörte erst auf, als plötzlich verschiedene Stimmen die Luft mit meinem Namen füllten.

Ich wusste, dass ich schnell wieder hinausmusste. Auf den Zehenspitzen versuchte ich, die Tür von innen zu öffnen. Doch es war dasselbe schwierige Unterfangen, wie von aussen nach innen zu gelangen. So blieb mir nichts anderes übrig, als auf das Gestell hochzuklettern und mich wieder durch die schmale Fensteröffnung hindurchzuzwängen. Doch der Rückweg stellte sich als einiges schwieriger heraus. Mein Körper sass fest und kam auch mit aller Kraft nicht weiter. Die Stimmen, die meinen Namen riefen, klangen immer unfreundlicher, sie machten mir Angst. Ich gab auf und kroch rückwärts wieder hinun­ter. Erschöpft setzte ich mich auf den kühlen Holzboden neben die vielen, bunten Bälle, die mich freundlich anstrahlten. Bald konnten sich meine müden Augen nicht mehr offen halten, und ich reiste für eine ganze Weile in die Welt der Träume. So lange, bis ich ausgeträumt hatte und die Kälte mich zurückholte. Es waren keine Stimmen mehr zu hören, nur die Dunkelheit hielt mich in ihren Armen. Es war so dunkel, dass ich gar nichts erkennen konnte. Auch die bunten Bälle hatten sich in der Dunkelheit versteckt.

In die Stille horchend hörte ich, wie es um das Häuschen herum ganz leise raschelte. Das Geräusch erschreckte mich, und ich wünschte mir plötzlich, im grossen Haus bei den anderen zu sein. Das Geraschel näherte sich dem Fenster, ich versuchte, etwas zu erkennen. Ich konnte nur einen Schatten ausmachen, der sich langsam und behutsam bewegte. Das waren keine Menschen. Aber was sonst bewegte sich so leicht geschmeidig an diesem Fenster? Angst und Neugierde hielten sich in mir fest umschlungen. Sie waren wie Verwandte, die auf meinen abenteuerlichen Reisen immer dann aufeinandertrafen, wenn ich grossen Mut beweisen musste. Plötzlich sprang der Schatten hoch, weich und geräuschlos. Dann hörte ich ein leises Schnurren, wie ein Motörchen, das die Stille füllen wollte. Es war eine Katze, und ich war nicht mehr allein.

Die Katze näherte sich mir mit weichen Bewegungen, und mit einem ebenso weichen Miauen erzählte sie mir eine Geschichte aus ihrem Katzentag. Sie hatte viel zu erzählen und liess sich lange von mir streicheln, lag auf meinem Schoss und wärmte mir den Bauch, die Hände und die Beine. Vom Streicheln und Schnurren wurde ich müde und schlief wieder ein. Als mich die Kälte weckte, war die Katze weg. Von draussen konnte ich das frühmorgendliche Konzert der Vögel hören, es kam mir vor, als feierten sie ein grosses Fest. Ein bisschen Licht spähte durch das Fenster, es wollte wohl schauen, wie es mir ging. Und ich konnte schwach die Farben der Bälle wiederer­kennen.

Fröstelnd zog ich mich nochmals am Fensterrahmen hoch, und das eingetrocknete Blut an meinen Händen wurde wieder lebendig. Statt mit dem Kopf voran versuchte ich es nun zuerst mit den Beinen, stützte mich mit den Händen an der Wand ab und konnte mich so aus dem Fenster schieben. Dann hielt ich mich am Fensterrahmen fest, liess mich in die Tiefe fallen und landete nicht gerade sanft neben dem Eimer, der immer noch dastand. Die Beine taten mir weh, und auch die Hände. Ich musste eine Weile einfach so liegen bleiben. Ich roch Sträucher und das Gras, Wassertröpfchen befeuchteten meine Lippen, und ich merkte, wie durstig ich war. Dann hörte ich Schritte und Gesang. Ich rappelte mich auf, ging leise um das Häuschen herum und sah einen Mann in einem langen, braunen Mantel mit Kapuze, um den Bauch einen langen Strick. Auch um seinen Hals hing ein Strick.

Er sang und sang in einer mir unbekannten Sprache. Ich stand ganz still, damit er mich nicht bemerkte. Er schloss die Tür zum Häuschen auf, und als er die Türfalle hinunterdrückte, knirschte sie, als wollte sie sagen: «Lass mich doch in Ruhe.» Mir schien, dass die Tür sich nicht so richtig öffnen wollte, denn sie knirschte weiter und stimmte mit ein in seinen Gesang. Der Kapuzenmann ging hinein. Die Tür blieb einen Spaltbreit offen, sodass ich mich anschleichen und hineinschauen konnte, ohne dass der Mann mich sah. Er rückte einen Tisch mit einem Stuhl darauf in die Mitte des Raums, stieg hinauf, stellte sich auf den Stuhl und hantierte ununterbrochen singend an der Decke herum. Ich konnte nicht so richtig sehen, was er machte. Plötzlich stiess er den Stuhl um und baumelte an der Decke. Er zappelte mit den Beinen, als wollte er durch die Luft rennen. Er zuckte noch eine Weile, dann wurde er wohl müde. Dann hing er da, als würde er schlafen.

Ich musste an die Katze denken, die ihr Zünglein draussen hatte, nicht mehr frass und nicht mehr auf ihren Beinen stehen konnte. Ich wollte nachsehen, ob der Kapuzenmann auch die Zunge draussen hatte, und schlich mich leise in den Raum. Ich konnte nicht recht sehen, ob seine Zunge heraushing, aber seine Augen waren gross, und er starrte in den Raum. Dieses Starren erschreckte mich, und ich rannte aus dem Häuschen und in die Arme einer Schwester, die betend im Garten stand.

Dann ging alles sehr schnell. Ich stand plötzlich vor der Schwester Oberin. Tausende von Fragen prasselten auf mich nieder, es war, als würden mich grosse Wellen verschlingen. Ich rang nach Luft, bis mir ganz schwarz wurde vor Augen und ich in den tosenden Wellen die Orientierung verlor. Ich konnte keine einzige dieser vielen Fragen beantworten. Den Mann, der so oft in dem grossen Garten gewesen war, sah ich nie mehr.

*

Natürlich wollte ich danach auch die anderen Häuschen im Garten auskundschaften. Jedes Mal, wenn wir draussen spielten, suchte ich eine Gelegenheit, um zu verschwinden. Doch die Augen der Schwestern waren jetzt immer auf mich gerichtet. Bis es mir eines Tages schliesslich gelang, mich ihren Blicken zu entziehen, und meine Entdeckungslust mich wieder lebendig machte. Ich rannte davon, so schnell ich konnte, und stand plötzlich vor einem grösseren Häuschen. Die Tür stand offen, als hätte es auf mich gewartet und sich für mich geöffnet, damit ich nicht durch das Fenster klettern musste.

Drinnen lag ein riesiger Plastikknäuel. Er bewegte sich ganz langsam auf mich zu und machte eigenartige Geräusche. Dieses lebendige Plastik machte mir Angst. Trotzdem blieb ich stehen, starrte ihn an und hielt den Atem an. Er kam näher und näher, und ich wusste nicht, ob er mit mir spielen oder mich fressen wollte. Dann erschien wie aus dem Nichts der weisse Kopf. Er ging langsam zur Tür hinaus, kam wieder zurück und ging wieder hinaus, so als wollte er mir sagen: «Komm mit mir, ich bringe dich zurück.» Ich rannte davon. Mein Herz schien hinter mir herzurennen, so schnell waren meine Beine. Ich wollte an dem kleinen Häuschen mit den bunten Bällen vorbeirennen, doch meine Füsse liefen dort einfach nicht mehr weiter. Also blieb ich stehen und verschnaufte, bis auch mein Herz wieder bei mir war. Die Tür zum Häuschen stand einen Spaltbreit offen. Und auch ihr unfreundliches Knarren konnte mich nicht daran hindern, noch einmal hineinzugehen. Vielleicht warteten die bunten Bälle ja darauf, dass ich mit ihnen spielte.

Ich schaute zur Decke, wo der Kapuzenmann durch die Luft gerannt war, bis er ausgezuckt hatte. Aber es sah alles genauso aus, wie als ich durchs Fenster gekrochen war. Nur die bunten Bälle waren nicht mehr da. Ich dachte, sie hätten sich vielleicht versteckt, und begann sie zu suchen. Ich kletterte auf den Gestellen herum und schob alles zur Seite, aber die schönen Farben waren nirgends zu entdecken, und es lag auch kein Duft nach etwas Neuem mehr in der Luft.

Dann hörte ich eine Stimme meinen Namen rufen und beeilte mich, wieder zu den anderen zurückzukehren. Lauter fragende Augen schauten mich an, als ich wieder auftauchte. Eine Schwester packte mich schimpfend und schüttelte mich, hob ihre Hand und schlug mir ins Gesicht, sodass mein Kopf ganz heiss wurde und meine Wangen Feuer fingen. Ich vergoss keine Träne.

Wieder musste ich ins Büro der Schwester Oberin. Durch das Fenster sah ich auf der Strasse Mutter Lilith mit dem Kinderwagen auf und ab gehen. Ich wollte geradewegs zu ihr laufen. Doch ich musste dableiben und der Schwester Oberin ­zuhören. Ich hörte ihre Stimme nur aus der Ferne, denn ich wollte doch sehen, was in dem Scheesenwagen war. Ich wollte zu meiner Mutter, wollte sie riechen und bei ihr sein. Ich spürte, wie es mein Herz zerriss, weil ich nicht zu ihr durfte, und mein Körper begann zu weinen. Ich zitterte am ganzen Leib, bis ich mich nicht mehr auf meinen Beinen halten konnte und zusammenbrach. Dann kam der Mann im weissen Kittel, den ich von unserer Ankunft im Heim her kannte. Er stach mich und ich fiel in einen tiefen und heftigen Schlaf.

Von jenem Tag an musste ich jeden Abend ein kleines Becherchen mit einer Flüssigkeit trinken, die mir nicht schmeckte. Am Anfang spuckte ich sie wieder aus, bis die Schwestern anfingen, mich zu zweit dazu zu zwingen, sie zu schlucken. Die eine hielt mich fest, umklammerte mich mit dem Arm, als müsste sie mich ersticken, die andere hielt mir die Nase zu, bis ich den Mund öffnete und sie mir den Trank einflössen konnte. Sie krallte sich solange an meiner Nase fest, bis ich ihn geschluckt hatte. Danach schlief ich sehr schnell ein. Am Morgen war ich immer müde. Der Trank machte mich zu einem kleinen, leblosen Mädchen, das immer lieb und nett bei den anderen Mädchen blieb, nicht sprach und nicht lachte. Ich war in einer Welt, die still und ohne Farben war und in der ich keinen weissen Kopf mehr als Begleiter hatte.

Ich dachte, ich sei gestorben. Bald konnte ich das Bett nicht mehr verlassen. Die Einsamkeit machte mich krank. Ich vermisste die Wärme meiner Geschwister. Man rollte mich in Wolldecken ein, die mich von aussen wärmten, aber in mir drin wurde es kälter und kälter. Im grossen Schlafsaal war ich für Stunden ganz allein. Ab und zu kam eine Schwester, die mich mit viel Geduld und Überredungskunst dazu brachte, etwas zu trinken und zu essen. Eines Tages begann diese Schwester, an meinem Bett zu singen. Mein Herz wärmte sich an ihrem Gesang. Er erfüllte den Raum mit Freude, und ich konnte wieder Farben sehen. Licht und Wärme durchfluteten den Schlafsaal und liessen die Kälte weichen. Meine innere Kraft kam langsam zurück, und bald konnte ich wieder aufrecht sitzen.

Dann begann die Schwester, mir Geschichten zu erzählen. Ihr Singen gefiel mir aber besser, denn die Geschichten handelten immer von einem Mann, der alle Menschen liebte und alles heilen konnte. Das Geheimnis sei, einfach daran zu glauben. Einmal fragte mich die Schwester: «Glaubst du daran?» Ich schüttelte den Kopf. Es konnte nicht stimmen, dass es einen Mann gab, der so lieb war. Wenn sie aber Lieder sang über eine Mutter, die Maria hiess, gefiel mir das. Dann strömte viel Licht aus ihren Augen und Wärme strahlte durch ihr langes, schwarzes Kleid. Und ich stellte mir vor, dass diese Mutter Lilith sein könnte.

Als ich wieder gesund war, durfte ich mit dieser Schwester zusammen oft die Kapelle besuchen. Dort gab es an den Wänden grosse Bilder zu den Geschichten, die sie mir erzählt hatte. Die Mutter Maria stand in einem blau-weissen Kleid in einer Nische und schaute mich mit sanftem Blick an. Auf dem Arm hielt sie ein Kind, das Jesus hiess. Die Mutter und auch das Kind trugen einen strahlenden, goldenen Reif um den Kopf, der mir sehr gefiel. Ich schaute mir die vielen Bilder an den Wänden lange an, doch für meinen kleinen Kopf ergaben sie keinen richtigen Sinn. Maria und alle Erwachsenen in der Himmelswelt waren in lange Kostüme gekleidet. Nur die kleinen Kinder und die Engel, die sich durch diesen goldenen Kranz von den Kindern unterschieden, waren nackt. Die Bilder liessen mich wieder nackt auf dem Tisch tanzen, die Gerüche und das Stöhnen der Männer erfüllten plötzlich den Raum.

Die himmlische Welt war in zarten Farben gemalt, und in allen Gesichtern war ein leidendes Lächeln. Ich sah, wie Mutter Lilith lächelnd und leidend vom Gemälde herabstieg, ihr Kostüm auszog und es gegen kräftig bunte Kleider tauschte. Zu­oberst an der Decke war ein Bild in Rot und Violett, das ganz anders war und doch irgendwie zu den anderen gehörte. Die Gestalt darauf war Mensch und Tier zugleich, sie hatte Hörner auf dem Kopf wie eine Kuh oder ein Geissbock, und ihre Augen waren eher Schlitze als kleine schwarze Kugeln wie bei den anderen himmlischen Gestalten. Nicht die Hörner störten mich, sondern der lange Schwanz, den sie in der einen Hand hielt. Mir kam es vor, als wäre das etwas Heiliges. Die Schwester aber meinte, das sei der Teufel, der die Menschen zu schlimmen Taten verführe, und dass wir uns vor ihm in Acht nehmen müssten. Warum er Hörner hatte und einen so langen Schwanz, konnte sie mir nicht erklären.

Als ich mich an den Bildern in der Kapelle sattgesehen hatte, kletterte ich in den Bänken herum und sang die Lieder über Maria, die die Schwester mir beigebracht hatte. Obwohl ich sie nicht verstand, machten sie mich glücklich. Während dieser Stunden in der Kapelle war ich das glücklichste Kind, denn es gab nur mich, die Bilder und die Schwester. Ich konnte tun und lassen und denken, was ich wollte, ohne ermahnt zu werden.

*

Inzwischen war es heiss geworden, die Tage waren lang, und wir Mädchen durften in den Ferien in die Berge reisen. Das wollte ich nicht so gerne, denn dort konnte ich meinen Bruder Arabat nicht sehen, dem es nicht gut ging bei seiner Schwester und den anderen Buben. Und ich litt schon so sehr darunter, Mascha und Alioscha nicht mehr sehen zu können.

Wir fuhren in einem grossen Auto, von dem aus wir auf die anderen Autos hinunterschauen konnten, an einen abge­legenen Ort. Es gab dort keine grosse Eingangstür und keinen abgeschlossenen Garten. Es gab keine Grenzen, kein Nicht-hinein-Dürfen und Nicht-hinaus-Dürfen. Dieses Haus mit seinen offenen Armen gefiel mir. Es hatte kleine Schlafzimmer mit je zwei Betten. Ich fühlte mich geborgen und nicht so verloren wie in dem grossen Schlafsaal im Heim.

In dem Raum, wo wir assen, stand ein Ofen, der mit glatten, glänzenden Blumenplättchen eingepackt war, als wollte er seine Wärme nicht so gerne mit uns teilen. Dieser Ofen war so gross, dass eine Steinbank auf ihm Platz hatte, auf die wir Mädchen uns setzten und einen ganz warmen Hintern bekamen. Damit der Ofen warm wurde, durften wir ihn von der Küche aus mit Holz füttern.

Während dieser Ferien mussten wir sehr viel zu Fuss gehen. Einmal fuhren wir mit einem Schiff, und der Wind tanzte mir um die Ohren, und das Wasser tobte und schäumte unter meinen Füssen, als wäre es wütend. Vielleicht hatte es Schmerzen, weil so ein Schiff ja gross und schwer ist. Dieser See musste einiges ertragen. Wir marschierten dann zu einem Ort, wo vor langer Zeit ein Kapuzenmann gewohnt hatte. Dieser Kapuzenmann konnte mit allen Tieren reden. Vielleicht verstand er die Sprache der Menschen nicht, so wie auch ich sie manchmal nicht verstand. Ich fand ihn nett und freundlich, denn er lachte mich an. Zu meinem Erstaunen trug er einen goldenen Kranz um den Kopf. Die Schwester erzählte, er sei der Schutzpatron der Tiere – die Menschen hätten ja die Engel. Er sei ein Gottesmann gewesen, so wie auch wir Kinder Gottes seien. Aber wir Kinder trugen doch keinen goldenen Kranz um den Kopf, sondern ein helles Licht, das wie ein Regenbogen un­seren ganzen Körper umhüllte. Und auch der Kapuzenmann redete eigentlich nur mit den Vögeln. Also fing ich an zu zwitschern und auszuprobieren, ob ich auch mit den Vögeln reden konnte, wurde aber sofort zurechtgewiesen.

Als wir diesen heiligen Ort verliessen, bekamen wir zum Abschied eine Kette mit einem kleinen Kreuz, an dem der Jesus hing – so wie ich ihn aus der Kirche kannte. Nur waren dort das Kreuz und der Jesus viel grösser. Ich bekam eine hellblaue Kette, doch ich wollte eine rote, denn die gefiel mir besser, und ich durfte mit einem Mädchen tauschen. Die Schwester sagte, wir sollten ihr die Ketten geben, aber ich weigerte mich, zog meine über den Kopf und band sie mir so fest um den Hals, dass es fast wehtat. Jede einzelne der roten Perlen konnte ich am Hals spüren, als wollten sie sich in mich hineinfressen. Die Aufforderungen der Schwester, ihr meine Kette zu geben, blieben erfolglos, denn sie auszuziehen, war nicht so einfach. Damit wir in Frieden zurückgehen konnten, gab sie es schliesslich auf. Ich kam mir vor wie eine Prinzessin mit der Kette, die rot funkelte und glänzte, mir aber auch die Luft wegnahm. Alle anderen Mädchen wollten ihre Ketten jetzt auch gerne um den Hals tragen. Sie schielten immer wieder zu mir hinüber.

Später nahm mich die Schwester im Ferienhaus zur Seite und erklärte mir, das sei keine Halskette, sondern ein Rosenkranz zum Beten. Das wusste ich bereits, denn die Schwester hatte in der Kapelle immer einen braunen Rosenkranz dabei und zupfte beim Beten an den Perlen herum. Aber wie konnte ein rot glänzender Rosenkranz nur zum Beten sein, wenn er so in die Welt hinausstrahlte und wunderschön war. Da wollte er sich doch nicht verstecken! Sie konnte mich nicht überzeugen. Sie sagte, wenn ich ihr den Rosenkranz nicht gebe und ihn nicht mit Würde behandle, werde Gott mich strafen. Doch ich behielt ihn lieber an.

Als wir abends im Bett lagen und alles still war, nahm ich die enge Kette ab, um einschlafen zu können. Ich hielt sie fest in der Hand und ballte sie zur Faust, drehte mich vom Rücken auf den Bauch, meine Faust darunter. So konnte keine der Schwestern sie mir wegnehmen, während ich schlief. Doch die Nacht dauerte nicht lange. Der Himmel grollte, es donnerte laut, helle Streifen zuckten durch den Schlafsaal und gleich darauf donnerte es wieder. Die Schwestern holten uns alle in den Raum mit dem Ofen, und es wurde viel und heftig gebetet, als könnte jeden Augenblick etwas Schlimmes geschehen. Das helle Licht zuckte immer schneller, und das Krachen wurde immer lauter. Manche Mädchen weinten, während die Schwestern beteten und immer wieder mit einem Bäseli Wasser über uns träufelten. Dann zuckte ein gewaltiger, heller Strahl durch das Zimmer und verstreute kleine, rote Funken. Es roch nach Rauch und krachte über uns, als würde das Gebäude einstürzen. Die Gebete verstummten, und wir wurden alle mit lautem Geschrei in die wütende Nacht hinausgetrieben. Ich war barfuss und trug nur mein dünnes Kleidchen, in meiner Faust die rote Kette. Die anderen rannten weiter, nur ich blieb auf der Wiese vor dem Haus stehen. Der Himmel war immer noch voller Wut, und das Haus spuckte Feuer aus dem Dach. Es sah aus, als würden das Haus und der Himmel sich streiten. Der Himmel liess die hellen Strahlen zucken, das Haus liess die Flammen tanzen, und je roter die Flammen wurden, desto weniger zuckte der Himmel, und schliesslich verzog sich das Donnerwetter. Mit der Kette in der Hand sah ich zu, wie die Flammen das Haus verschlangen. Bis ich die Hand einer Schwester spürte, die mich vom Haus wegführte.

Am Morgen hielt ich meine Kette immer noch fest in der Hand. Die Schwester sah sie und zwang mich, sie ihr zu geben. Sie habe mich ja gewarnt vor Gottes Zorn, sagte sie. Gott musste dieses grelle Licht gewesen sein, das am Himmel gezuckt und das Haus mit den Flammen hatte tanzen lassen. Meine rote, glänzende Kette sah ich nie wieder.

*

Als wir aus den Ferien zurückkamen, war Arabat nicht mehr in der Bubengruppe. Das grosse Haus hatte ihn verschluckt, und für mich war das die schlimmste Gottesstrafe. Die Tage vergin­gen, und meine Einsamkeit wurde immer grösser, nur meine innere Welt konnte mich am Leben halten. Meine Fantasie brachte ab und zu Farbe in das dunkle Heim. So oft wie nur möglich hielt ich mich im grossen Garten auf. Oder ich machte das Versteckisspielen zu meinem Abenteuer, denn immer, wenn man mich suchte, wurden alle Mädchen eingespannt. Ich konnte mich gut verstecken. Es gab in dem grossen Haus so vie­le Ecken, die nur darauf warteten, endlich entdeckt zu werden.

Eines Tages musste ich von Kopf bis Fuss Sonntagskleider anziehen. Ich durfte mit einer Schwester in die Stadt fahren, denn es musste abgeklärt werden, ob in meinem kleinen Kopf alles mit rechten Dingen zuging. Ich sprach viel und gerne mit mir selbst, mein Kopf war ja voller Fragen, die ich mir selbst beantworten musste.

Als ich mit der Schwester in der Stadt war, durfte ich bei einer Frau spielen und zeichnen. Diese Frau nahm sich viel Zeit für mich, aber ihre Fragerei war mir zu viel, und ich weiger­te mich zu sprechen. Trotzdem fand sie, dass es mir vielleicht ganz guttäte, den öffentlichen Kindergarten zu besuchen. Man woll­te mir die Chance geben, mich nicht mehr wie ein wildes Mädchen zu benehmen, sondern mich anzupassen, sodass man Freude an mir bekommen könne. Obwohl es natürlich schwierig sei, Vaganten beizubringen, was normal und sauber und korrekt sei.

Im Kindergarten gefiel es mir. Nur das lange Sitzen und Zuhören machte mir Mühe. Ich wollte viel lieber mit den vielen schönen Spielsachen spielen, da wir im Heim doch nur so wenige hatten. Die Glaskugeln waren besonders verführerisch mit all diesen Farben drin, und sie hatten auch so gut Platz in meiner Rocktasche. Also sammelte ich Stück für Stück, nahm sie mit ins Heim und versteckte sie im grossen Garten unter einem Strauch. Für mich waren sie ein Schatz. Wenn ich konnte, lief ich zu ihm, spielte im Gras mit den Kugeln Versteckis, sammelte sie wieder ein und vergrub sie dann wieder. Ich hatte bald ganz viele Murmeln, und im Kindergarten gab es fast keine mehr. Das fand die Kindergärtnerin nicht gut, und sie wusste genau, wer die Murmeln mit nach Hause genommen hatte. Liebevoll, aber sehr bestimmt sagte sie zu mir, ich solle die farbigen Kugeln wieder in den Kindergarten bringen. Immer wieder forderte sie mich dazu auf, aber meine Kugeln blieben in ihrem Versteck. Ich achtete gut darauf, dass mich keiner im Garten erwischte. Und auch die Schwestern konnten keine Murmeln finden, auch wenn sie noch so eifrig und überall danach suchten.

Dann sollte ich lernen, die Schuhe zu binden. Ich kämpfte mit den Bändeln und war die Letzte, die es schaffte, sie ordentlich zusammenzuknüpfen. Viel lieber liess ich sie frei an den Schuhen herumfliegen, oder ich stopfte sie zwischen Fussknöchel und Schuhe. Das ging viel einfacher und auch schneller. So musste ich nicht so lange auf dem Bänklein hocken und kam auch nicht zu spät in den Kindergarten oder ins Heim. Das Kindergartenlied nahm ich beim Anziehen nämlich sehr ernst:

S Elfiglöggli lütet scho, jetzt esch Ziit zum heime go!

Uf em Wäg ned ome stoo

Und ned wie es Schnäggli goo

Bim Bam Bum

Zeit, um die Schuhe zu binden, nahm ich mir keine, liess mir dafür aber viel Zeit auf dem Hin- und Rückweg. Ich schaute einer Schnecke zu und lernte so ihre Welt und ihre Zeit kennen. Sie bewegte sich so langsam und genüsslich. Mich faszinierte, wie sie ihre Knopfaugen ausfuhr und wieder einzog, wenn ich sie berührte. Sie konnte ihre Augen überallhin richten, aber von dem vielen Gucken wurde sie müde und verkroch sich dann in ihrem Häuschen. Manchmal musste ich dann lange warten, bis sie wieder herausgekrochen kam. Und so kam ich immer zu spät dorthin, wo ich doch pünktlich hätte erscheinen sollen. Ab und zu tanzten auf meinem Weg auch gelbe Schmetterlinge herum, die mich dazu verführten, in ihrer Welt zu verweilen. Weil ich mit ihnen mittanzte, kam ich vom Weg ab und wusste am Ende nicht mehr, wo ich war. Das Tanzen und Flattern liess mich die Welt vergessen, in die ich eigentlich zurück musste.

Wieder einmal kam ich zu spät in den Kindergarten, weil mich eine Ameise aufgehalten hatte, die etwas trug. Ich wollte herausfinden, wohin sie damit wanderte, verlor sie aber aus den Augen und konnte sie nicht mehr ausfindig machen. Als ich schliesslich im Kindergarten ankam, setzte ich mich auf das Bänklein im Umkleideraum und wartete, bis die anderen Kinder herauskommen würden. Ich hatte viel Zeit, um die fein gestrickten Wolljäckchen der anderen Mädchen zu betrachten. Einige waren sehr schön, darin hätte ich mich wohlgefühlt. Ich hatte nicht so schöne Kleider wie meine Gspänli. Ich war das einzige Kind aus dem Heim.

Als es Zeit war, wieder nach Hause zu gehen, kamen die Kinder alle fröhlich heraus, und ich gab mir alle Mühe, so zu tun, als wäre ich wie alle anderen von Anfang an dabei gewesen. Die Kinder merkten nicht, dass ich draussen gewartet hatte, aber die Kindergärtnerin schon. Sie behielt mich zurück und fragte, wo ich denn gewesen sei. Aber sie bekam von mir keine Antwort. Zur Strafe musste ich auf der Bank sitzen bleiben und warten, bis sie mit ihren Vorbereitungen fertig war. Ich sass ganz allein im Vorraum und hatte viel Zeit, um mir nun die Finken genauer anzuschauen. Ich entdeckte ein Paar, das mir sehr gefiel. Da niemand mehr da war, probierte ich die schönen Finken an, und sie gefielen mir so gut, dass ich sie anbehielt. Meine Schuhe stellte ich an den Ort, wo ich mir die Finken genommen hatte. Ich glaubte, so nichts Unrechtes getan zu haben. Die Kindergärtnerin bemerkte nichts und begleitete mich ins Heim zurück. Auch die Schwestern schauten nicht auf meine Füsse. Niemandem fiel auf, dass ich neue Schuhe hatte. Ausser einem Mädchen, das merkte ich an ihrem Blick beim Mittagessen, und ich wusste, dass ihr die Finken auch gefielen.

Nach dem Essen ging ich in den dunklen Keller hinunter, zog die schönen Finken aus und versteckte sie hinter einem dicken Rohr. Da stand ich nun in den Socken und überlegte mir, wie ich das den Schwestern erklären sollte. Ich beschloss, sofort in den Kindergarten aufzubrechen, um ganz früh da zu sein. So könnte ich die Finken wieder gegen meine Schuhe tauschen, ohne dass jemand bemerken würde, dass ich sie spazieren geführt hatte.

Die Kindergärtnerin war sehr erfreut, dass ich es diesmal rechtzeitig geschafft hatte. Ich war die Erste, was noch nie vorgekommen war, und vor Freude übersah sie die Finken an meinen Füssen. Ich durfte mir zur Belohnung ein Buch aussuchen aus einem Regal, an das wir Kinder nur mit ihrer Bewilligung durften. Beschämt griff ich mir eines heraus und dachte schon, sie würde es mir erzählen wollen, bis die anderen eintrafen. Dabei hatte ich doch etwas zu erledigen. Zum Glück liess sie mich mit dem Buch wieder allein im Vorraum und ich konnte die Finken rasch zurückstellen, bevor die anderen Kinder kamen. Ei, war ich erleichtert!

Ich war so froh, dass ich nach dem Kindergarten schnurstracks und singend ins Heim zurücklief. Kaum angekommen, musste ich ins Büro der Schwester Oberin. Sie tadelte mich, weil ich immer zu spät kam, aber das machte mir nichts aus, denn ich war glücklich. Doch dann schaute sie auf meine Füsse und meinte, ich hätte doch am Mittag andere Schuhe angehabt. Ich war mir aber völlig sicher, dass das an meinen Füssen meine Schuhe waren. Und auch wenn sie nicht so schön waren wie die anderen, kamen sie mir in diesem Moment zauberhaft vor. Da ich so darauf bestand, dass es meine Schuhe wa­ren, liess die Oberin die Schwester kommen, die für mich zuständig war. Sie schaute auf meine Füsse und sah nichts anderes als meine alten, abgetragenen Schuhe, die ich von ihr be­kommen hatte. Erstaunt war sie aber schon, offenbar hatte sie etwas anderes erwartet.

Als die Schwester bestätigte, dass die Schuhe mir gehörten, wurde das Mädchen, das am Mittag die Finken an meinen Füssen bemerkt hatte, ins Büro geholt. Sie hatte etwas ganz anderes über meine Schuhe erzählt, als zu sehen war, und die Schwestern glaubten mir. Von jenem Tag an schaute mich das Mädchen immer böse an, wagte es aber nicht, mich zu reizen.

7. Februar 1968,

Organisation an das Gericht zur Scheidung

von Vater Jakob und Mutter Lilith:

Ihrem Gesuch vom 22. November 1967 entsprechend übermitteln wir Ihnen in den Beilagen die ergangenen Akten und einen ausführlichen Bericht unsere gesammelten Eindrücke über die Frage der Kinderzuteilung im Ehescheidungsprozess. Es darf nicht verantwortet werden, die elterliche Gewalt dem einen oder anderen Elternteil zu übergeben, da sowohl der Vater als auch die Mutter charakterlich zu labil und unstet veranlagt sind.

Die familiären Verhältnisse waren durch all die Zeit, da die Vaganten herumzogen, keine erfreuliche Sache. Alkoholismus, Hurerei, Herumziehen von einem Ort zum anderen, Schlägereien, das Betteln der Kinder und Stehlen, das nicht konforme Erziehen der Kinder wie auch die Pflege. U. a. kannten sie keinen geregelten Tages-Rhythmus, da oft ganze oder halbe Nächte nicht geschlafen wurde, war es natürlich schwierig, am anderen Tag für die Kleinen richtig zu sorgen. In dem Kinderheim, wo die 4 Geschwister seit einem Jahr platziert sind, hat man an der kleinen Luisa zum Teil beträchtliche Milieuschäden festgestellt.

Unter den geschilderten Umständen darf es u. E. auf keinen Fall verantwortet werden, die elter­liche Gewalt dem einen oder anderen Elternteil zu übertragen.

Mit vorzüglicher Hochachtung

Schreiben des Gerichts:

22. Februar 1968

Das Gericht hat einstimmig erkannt:

Die Ehe ist geschieden. Beiden Parteien wird in Anwendung von Art. 150 Abs. 1 ZGB die Eingehung einer neuen Ehe für die Dauer eines Jahres untersagt.

Die aus der Ehe hervorgegangenen Kinder werden unter die Gewalt der Vormundschaftsbehörde gestellt.

Vater Jakob hat die drei Kinder die nicht von ihm gezeugt wurden als seine anerkannt und bezahlt für sie auch seinen Anteil der Platzierung.

Mutter Lilith weigert sich, und ihr wurde auferlegt von den Kindern Abstand zu halten.

Mit freundlichen Grüssen

Gerichtspräsident und Gerichtsschreiber

Vormundschaftsbehörde der Gemeinde

an Vormundschaftsbehörde der Stadt

3. April 1968

In der Beilage übermitteln wir Ihnen eine Fotokopie des Urteils des Bezirksgerichtes vom 22. Februar 1968. Dem Erkenntnis kann entnommen werden, dass die aus der Ehe hervorgehenden Kinder unter die Gewalt der Vormundschaftsbehörde gestellt werden.

Die Erhebungen haben ergeben, dass sich die Kinder bei der Mutter in der Stadt aufhalten. Die Überwachung im Sinne des gerichtlichen Entscheides ist für unsere Behörde sehr kompliziert.

Daher möchten wir sie anfragen, ob Sie bereit wären, die vormundschaftliche Massnahme im Sinne des gerichtlichen Urteils ( Ziffer 3 ) zu treffen.

Wir erwarten Ihren baldigen Bericht und danken Ihnen zum Voraus für Ihre Bemühungen.

Mit vorzüglicher Hochachtung

Vormundschaftsbehörde der Stadt:

23. April 1968

Sehr geehrte Herren,

Unter Bezug auf ihr Schreiben vom 3. April 1968 müssen wir Ihnen mitteilen, das Mutter Lilith und ihre Kinder in der Stadt nicht gemeldet und den zuständigen Bezirksorganen nicht bekannt sind. Unter diesen Umständen dürfen die Voraussetzungen zur Übernahme der Vormundschaft – abgesehen vom Fehlen des weiteren Erfordernisses einer gewissen Aufenthaltsdauer – nicht erfüllt sein. Wir retournieren Ihnen daher in der Beilage die uns übersandte Fotokopie.

Mit vorzüglicher Hochachtung

Vormundschaftsdirektion der Stadt

1.3.1969

An die Herren

Da wir vor kurzem vernommen haben das Luisa in ein anderes Heim versetzt werden sollte, wegen der Schliessung in dem sie jetzt ist möchte ich sie dringlich bitten mir meine Luisa so wie die anderen Kinder wieder in meine Obhut zu geben. Bei der ­Wegnahme haben sie mir versprochen das ich die Kinder nach einer Weile wieder haben kann, wenn ich mich um einen festen Wohnsitz bemühe. Ich lebe schon längere Zeit an einem festen Wohnsitz und bin auch angemeldet.

Ich bin durchaus in der Lage für meine Kinder zu sorgen, und nicht ihr habt die Kinder geboren ich. Ihr habt kein Recht mit mir so umzugehen. Was diese bestimmte Organisation betrifft, kann ich ihnen nur mitteilen das diese wenn sie den Mund aufmacht nur Lügen über mich verbreitet.

Wie ich für mich und meine Kinder den Lebensunterhalt bestreite geht dies wohl niemanden was an, ich sage ihnen ja auch nicht was sie tun und lassen sollten.

Es ist nicht relevant wie viele Kinder ich auf die Welt bringe, denn eines mehr am Tisch kommt nicht ins Gewicht.

Es wäre ausser dem schön wenn die Kinder wieder alle zusammen wären und auch die in der Zeit geborenen Kinder ihre anderen Geschwistern kennen lernen könnten.

Ich finde es unmenschlich das Arabat, Luisa, Mascha und Alioscha getrennt wurden und ihre neuen Geschwistern nicht kennen.

Wenn dieses Versprechen das sie mir bei der Wegnahme gegeben haben nicht eingehalten wird, werde ich mit Gewalt die Kinder holen, und wenn ich wütend bin so gnade Mutter Maria ihnen.

Ich werde mir eines nach dem anderen holen kommen wenn ich nicht alle vier zu gleich haben kann.

Jetzt bitte ich sie noch höfflich, doch sollte dieser Brief nicht ernst genommen werden und bear­beitet werde ich auf meine Art und Weise Handeln müssen, denn sie zwingen mich dazu.

Hochachtungsvoll Grüsst

[ein Zuhälter und Mutter Lilith]

Organisation an die Gemeinde:

24.3.1969

Leider ist es in gar keiner Weise zu verantworten, dass die vier Kinder zur Mutter Lilith zurückkehren können. Es fehlt dort an den aller einfachsten und grundlegendsten Voraussetzungen.

Die Frau ist in persönlicher Hinsicht dem Teufel vom Karren gefallen und kann sowie unsere Erfahrungen an diesem Volk sich zeigen, von ihrem Vagantenleben sich nicht distanzieren.

Diese wilden Kinder, besonders das eine, das von der Mutter und ihrer Herkunft so geprägt ist, weiter in ordentliche Bahnen gebracht werden, ­auch wenn es schwierig ist mit den Vaganten.

Die anderen drei haben durchaus eine Chance wie sich zeigt, doch bei der kleinen Luisa braucht es noch viel Arbeit und vor allem eine Feste Hand. Mutter Lilith würde alle wieder verderben.

Wenn sie für die Kinder als Gemeinde nicht aufkommen können, habe ich für jedes einzelne Kind einen Platz in einer Bauernfamilie, doch es ist keiner Familie zu zumuten vier Vaganten bei sich auf zu nehmen.

Ich denke für das wildeste der vier Kinder wäre so eine Bauerfamilie das Rechte würde man dieses Kind mit Mithilfe im Haus und Hof bändigen können, wenn auch nicht ganz.

Vater Jakob haben wir versprochen die Kinder in seiner Nähe zu behalten, sind seine Gene nicht die Schlechten. Wir sind der Meinung das die Kinder keinen Kontakt zu Mutter Lilith unterhalten sollten, damit das Gute das wir ihnen schon gegeben ­haben nicht wieder verdorben wird.

Wir haben von Vater Jakob erfahren, dass die Kinder mit ihm bei Mutter Lilith waren und wir bitten Sie dies zu unterbinden.

Mit Vater Jakob habe ich persönlich gesprochen und ihm klar gemacht, wenn er diese Besuche nicht unterbindet, dann darf er seine Kinder auch nicht mehr sehen.

Die Überlegung wäre zu prüfen, die Kinder so weit wie möglich von den Eltern weg zu platzieren, da die Mutter mit Gewalt gedroht hat. Vier verstreute Kinder zu finden in abgelegenen Bauernbetrieben, ist auch für Vaganten keine einfache Sache.

Ich bitte sie auf das Gesuch von Mutter Lilith auf gar keine Weise einzugehen, am besten ist es Mutter Lilith ins Leere laufen zu lassen.

Mit freundlichen Grüssen

Die Organisation

Gemeinde an die Organisation:

27.3.1969

Nach Erhalten dieser Mitteilung wandte ich mich an Vater Jakob. Er versicherte mir mit Unterschrift, dass er keine Besuche mehr unternimmt mit den Kinder zu Mutter Lilith zu gehen und unterschrieb ein aufgesetztes Papier.

Wir übernehmen auf seinen Wunsch hin, sowie recht­lichen Abklärungen die Übernahme, der vier Kinder das sie in der Nähe von Vater Jakob bleiben können.

Aus dieser Verantwortung heraus ist es mir sehr daran gelegen, dass die vier Geschwister, denen ein normales häusliches Familienleben nicht vergönnt ist, wenigstens wider beieinander und zusammen Aufwachsen dürfen. In unserem neuen modernen Kinderheim, wo die einzelnen Gruppen sowohl nach Alter wie nach Geschlecht gemischt geführt werden können. Die Umplatzierung von der Stadt in die Gemeinde wo nun die Vormundschaft geführt werden muss, dürfte deshalb unter den gegebenen spärlichen Möglichkeiten das einzige Richtige sein.

Damit die Kinder in den nächsten paar Wochen noch ruhig und ungestört in der Stadt bleiben können, möchte ich sie dringend bitten ihren Entscheid wenn möglich nicht vor dem 20. April ac. in die Stadt zu schicken. Die Umplatzierung ist vorge­sehen für die Woche nach dem Weissen Sonntag.

Mit vielem Dank für Ihre Bemühungen und

Mit vorzüglicher Hochachtung

Vormundschaftsbehörde der Gemeinde

Brief der Gemeinde an Mutter Lilith:

16. April 1969

Es kann unter keinen Umständen verantwortet werden, Ihnen die vier Kinder zu überlassen.

Es fehlt bei Ihnen an den allereinfachsten und grundlegendsten Voraussetzungen in geistig – seelischer und materieller Hinsicht. Sie leben immer noch mit verschiedenen Herren im Konkubinat. Die Vormünderin und die Vormundschaftsbehörde wären glücklich wenn Sie den beiden Kindern, die seit 1967 zur Welt gekommen sind, ein wirkliches Daheim und ein Mindestmass an Erziehung bieten könnten. Für die Betreuung von sechs Kindern reichen indessen die gegebenen Voraussetzungen bestimmt nicht aus.

Der Gemeinderat hat deshalb Ihr Begehren um Überlassung der vier Kinder Arabat, Luisa, Mascha und Alioscha abweisen müssen und hat die Vormünderin ermächtigt, deren Übersiedlung in die Wege zu leiten. Es tut uns leid, Ihrem Begehren nicht entsprechen zu können. Wir können es unter keinen Umständen verantworten, die Kinder nicht in gu­ter Obhut zu wissen.

Hochachtungsvoll Die Gemeinde

Irgendwann glaubte ich, dass meine Mutter Lilith und auch Vater Jakob mich vergessen hatten.

Kreuz Teufels Luder

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