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Kapitel 2

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Beaumont Park, London

Der Beaumont Park, in dem der Ball stattfinden würde, lag am Südufer der Themse und hatte seine Tore gewöhnlich für jedermann geöffnet. Man reiste entweder per Boot oder Kutsche an und konnte gegen einen geringen Obolus die gepflegte Gartenanlage genießen. Der Vergnügungspark bot lange Alleen, die zum Flanieren einluden. Kleine Tempel, verborgene Bänke und Lauben verführten die Besucher zum Verweilen in verschwiegenen Winkeln. In verschiedenen Pavillons, die mit erlesenen Möbeln und Gemälden ausgestattet waren, konnte man Mahlzeiten einnehmen, Konzerten lauschen oder tanzen. Sogar für die Gentlemen gab es separate Räume, die die Möglichkeit zu einem Kartenspiel boten. Ein künstlich angelegter See, der in eine herrliche Wiesenlandschaft eingebettet war, gab den Besuchern die Gelegenheit für ein Picknick oder eine Gondelfahrt. Das Ungewöhnliche und die Hauptattraktion des Parks waren jedoch, dass Männer und Frauen aller Altersklassen und Gesellschaftsschichten sich hier in der Öffentlichkeit treffen konnten, ohne die strengen Regeln der Konvention zu verletzen.

An jenem Abend allerdings hatte der Marquess Shutterfield den gesamten Park gemietet, der nun lediglich für die geladenen Gäste des Balls zugänglich war, welcher zu Ehren seiner jüngsten Tochter am See stattfinden sollte. Als Arden Millard Grand Duke of Lyndoncastle die Gärten betrat, hatte sich bereits der größte Teil des Londoner Adels zu dem Ereignis der Saison schon eingefunden. Der dunkle Nachthimmel war wolkenfrei und zeigte sein funkelndes Firmament. Fackeln beleuchteten die Wege und Pfade, die sich hinter den Hügeln und Bäumen verloren. Die warme Sommerluft betörte durch den süßen Duft der üppigen Rosen und der blühenden Clematis, die sich um die griechischen Säulen und Statuen rankten. Ein großes weißes Zelt, in dem musiziert und getanzt wurde, war vor dem See aufgebaut worden, auf dem unzählige Lichter schwammen. Die mitreißenden Klänge einer Sinfonie und das leise Stimmengewirr der Gäste erfüllten den Park mit der fröhlichen Leichtigkeit des Lebens, was dem jungen Grand Duke zuwider war.

Missmutiger als sonst näherte sich der braunhaarige Mann dem Zelt, um seinem Gastgeber die Aufwartung zu machen. Es war seine Pflicht als Familienoberhaupt der Lyndons, den Einladungen des Adels zu folgen und den Festen, wenigstens für eine Weile, beizuwohnen. Denn man pflegte untereinander auch geschäftliche Verbindungen, die keinen Schaden nehmen sollten. Selbst wenn sein Bruder nachher auftauchen würde, sobald er verschwunden war, musste er den Marquess Shutterfield begrüßen. Der Grand Duke hasste es, sich zwischen den kichernden Debütantinnen hindurchquälen zu müssen, die von ihren Müttern begleitet wurden, welche fast noch schlimmer waren in ihrem ständigen Drängen und Suchen nach einem Ehemann für ihre Töchter. Arden war sich bewusst, dass er sich früher oder später um eine Ehefrau bemühen müsste, um einen Erben zu zeugen, damit die Linie Lyndons fortgeführt wurde. Mit seinen siebenundzwanzig Jahren hatte er für diese Suche allerdings noch genügend Zeit, vorerst galt es wichtigere Dinge zu erledigen.

»Großer Gott, Pearlene, da ist er«, flüsterte Reeva, die neben Pearlene am Rande der Tanzfläche stand. Aufgeregt wirbelte sie sich mit ihrem Fächer Luft zu und deutete mit einem Nicken durch die Menschenmenge auf einen dunkel gekleideten Mann. »Sieht Grand Duke Lyndon nicht unglaublich gut aus? Er ist so groß und kräftig gebaut. Und dann noch sein ernster, beinahe schon böser Blick, der mir jedes Mal eine Gänsehaut verursacht.«

Sie seufzte hingebungsvoll und Pearlene hob ihre Stielbrille an, um den Verursacher der Schwärmerei auszumachen. Aha, das war also der Grand Duke of Lyndoncastle, einer der Zwillinge von denen Reeva ihr so viel berichtet hatte. Er war wirklich ein stattlicher Mann und tatsächlich wirkten seine Gesichtszüge äußerst mürrisch, was seiner Attraktivität jedoch keinen Abbruch tat. Anscheinend gab er nichts auf die gängige Mode, denn sein schwarzer Rock, der sich um seine mächtigen Schultern schmiegte, war im Vergleich zu dem der übrigen Herren mit nur wenigen goldenen Ziernähten und Knöpfen versehen. Auch seine Kniehose, Strümpfe und Weste waren dunkel gehalten, außer seinem weißen Hemd, das durch ein feines Spitzenjabot hervorstach. Wie alle Männer trug er sein Haar zu einem Zopf im Nacken gebunden, verzichtete aber auf Puder und die seitlichen Locken. Glatt gekämmt mit einem Seitenscheitel wirkte seine gesamte Erscheinung streng und unnachgiebig, was seine aufrechte Körperhaltung ebenso vermittelte. Seine Augen mussten von einem kräftigen Blau sein, denn trotz der Entfernung konnte Pearlene ihre Farbe erkennen. Möglicherweise lag es jedoch auch an dem dunklen Teint, den der Grand Duke hatte, dass einem seine stechenden Augen sofort auffielen. Der grimmige Blick des Mannes flog über die Menge hinweg, als würde er etwas oder jemanden suchen. Er streifte sogar Reeva und sie … O Schreck, er hatte ihr ungebührliches Starren bemerkt, denn seine Augen fanden zurück zu ihr. Wie peinlich!

Hastig senkte Pearlene ihre Brille und wandte sich Reeva zu. Ihre Hitzewallung ignorierend fragte sie ihre Cousine: »Du behauptest, sein Bruder sieht genauso aus wie er? Woran kannst du dann erkennen, dass er der Grand Duke ist?«

Reeva schmunzelte. »Weil Bradford vollkommen anders ist. Eigentlich ist er, sozusagen, das Gegenteil von ihm, Arden. Bradford trägt immer helle Röcke und Westen. Außerdem lacht er immerzu und ist von seinen Freunden umgeben. Der Grand Duke, Arden, dagegen ist ein Eigenbrötler. Ich glaube, … ich habe ihn noch nie lachen gesehen. Aber das Wichtigste: Bradford ist ein charmanter Weiberheld, du musst dich vor ihm in Acht nehmen.« Sie beugte sich dichter zu Pearlene und murmelte ihr hinter dem Fächer zu: »Mutter erzählte, angeblich habe er in der letzten Saison mehrere Debütantinnen gepflückt.«

Entsetzt riss Pearlene die Lider auf. Ein Wüstling der schlimmsten Sorte war dieser Bradford Lyndon also? Um diesen Mann würde sie einen großen Bogen machen, falls er auf diesem Ball auftauchen würde.

Völlig in Gedanken hob Pearlene ihre Brille an, um wieder zu dem Grand Duke hinüberzuschauen, der sie, schockierender Weise, immer noch genauso beobachtete wie zuvor. Ohne eine erkennbare Regung starrte er ihr entgegen. Sofort blickte Pearlene zur Seite. Ihr Herz pochte ungestüm und ihre Wangen begannen zu glühen. Sah er sie an? Nein, sicher nicht, viel wahrscheinlicher war doch, dass er sich für Reeva interessierte.

»Ist der Grand Duke auch ein Schürzenjäger? Ich meine, hat er dich schon mal um einen Tanz gebeten?«, wollte Pearlene wissen und bemerkte, wie sich ihr Magen zusammenzog, was sie verwirrte, denn es fühlte sich beinahe nach Angst an.

Reeva kicherte. »Arden? Nein. Der kommt nicht mal in die Nähe von ledigen Frauen.« Plötzlich verstummte das Mädchen und warf einen Blick in die Richtung des Grand Duke. »Sag mal, schaut er etwa zu uns herüber? Ich falle gleich in Ohnmacht! Pearlene, er hat dich im Auge.«

Nervös strich sich Pearlene einzelne Haarsträhnen aus dem Gesicht, obwohl sie sie gar nicht störten. »Gewiss täuschst du dich, Reeva. Er schaut nur zufällig in unsere Richtung.«

Hatte ihre Cousine zuvor noch gestrahlt, so fiel nun ihr Gesicht in Enttäuschung zusammen. »Schade, anscheinend habe ich mich wirklich getäuscht. Arden geht nämlich.«

»Was?!« Erschrocken blickte Pearlene wieder durch ihre Brille. Sie konnte gerade noch Ardens braunen Haarschopf in der Menge verschwinden sehen und auf einmal schien ihr der Ball ein wenig reizloser geworden zu sein. Ein ähnliches Seufzen, wie das von Reeva, entwischte ihr, weshalb diese sie sacht mit ihrer Schulter anstupste.

»Er gefällt dir. Tja, Cousine, da bist du leider nicht allein. Aber warte, bis du seinen Bruder Bradford kennenlernst. Seit er vor einigen Wochen einen Unfall hatte, soll er mit seinen Freunden keine Matinee oder Soiree ausgelassen haben, um sich an die diesjährigen Debütantinnen heranzumachen.« Erneut flüsterte Reeva ihr vertraulich zu: »Er soll sogar diverse Affären mit Witwen unterhalten haben.«

»Er hatte einen Unfall? Himmel! Und dann noch zahllose Affären? Da kann man nur hoffen, dass die Hälfte dieser Gerüchte erfunden ist. Ansonsten müsste er ja ein fürchterlicher Kerl sein«, empörte sich Pearlene über die Ausführungen ihrer Cousine.

Diese schüttelte jedoch überrascht den Kopf. »Nein, das ist er eben nicht und genau deswegen glaube ich die Gerüchte auch. Na ja, zumindest das mit dem Unfall entspricht der Wahrheit. Vater hatte es Mutter und mir erzählt, als er an jenem Abend vom Herrenclub nach Hause kam. Bei einem Gig-Rennen durch den Park mit seinen Freunden hatte sich sein Wagen ausgekoppelt.«

»Grundgütiger!«, staunte Pearlene, woraufhin Reeva nickte.

»Ja, Bradford ist ein richtiger Draufgänger. Kein Wunder, dass er sich mit dem pflichtbewussten Arden überhaupt nicht versteht. Die zwei meiden sich wie Hund und Katze. Laut ihrer Dienerschaft sollen sie sich streiten, dass die Fetzen fliegen. Und seit Bradford keine Gelegenheit auslässt, um den ledigen Frauen nachzulaufen, soll es noch schlimmer sein. Arden ist stets darauf bedacht, den Ruf und das Ansehen seiner Familie reinzuhalten, während sein Bruder sich nicht einen Heller darum schert.«

Gerade als Pearlene Reeva noch weitere Fragen nach den Zwillingen stellen wollte, wurden sie von zwei jungen Gentlemen unterbrochen, die um einen Tanz baten.

Arden hatte gerade die Begrüßung seines Gastgebers hinter sich gebracht, als er sich im Zelt umschauen wollte, ob die Freunde seines Bruders schon angekommen waren. Er ließ seinen Blick über die Menge streifen. Es waren die altbekannten Gesichter der Älteren, denen er jedes Jahr begegnete, und die der Jungen, von denen er einige kannte, die ihren ersten Ball erlebten. Gerade den unschuldigen Jungfern wollte er keine besondere Aufmerksamkeit schenken, um keine falschen Vermutungen loszutreten, da man ihn auf solchen Bällen stets als guten Fang beobachtete. Aber als er das blonde Mädchen mitten im Pulk entdeckte, das als Einzige so etwas wie eine Halbmaske vor ihr Gesicht hielt, musste er nochmals genauer hinschauen. Einen Moment später begriff er, dass es keine Maske, sondern eine Brille war und dass sie ihn eingehend betrachtete. Im nächsten Moment wurde ihr klar, dass er sie dabei ertappt hatte. Allerdings konnte er sie weder verlegen kichern noch dreist auffordernd lächeln sehen, was die gewöhnlichen Reaktionen der Damen bei einem derartigen Blickkontakt waren. Die junge Frau senkte sofort ihre Gläser und wandte sich von ihm ab, als habe sie das Interesse an ihm verloren. Er hatte nur kurz ihr Gesicht gesehen, aber dennoch war ihm sofort ihr wundervoller Mund aufgefallen. Herrliche volle Lippen in ebenmäßiger Pracht.

Verwundert stellte Arden fest, dass sein Körper ihm auf unverständliche Weise deutlich machte, dass ihm die Blondine gefiel. Ja, je länger er sie musterte, desto eindeutiger wurde es, dass sie ihm außerordentlich gefiel. Vom seidig glänzenden Haar über ihr bezauberndes Gesicht, der schlanken Figur mit den kleinen und doch vollen Brüsten bis hin zu ihrer zurückhaltenden Art, all das zusammen löste ein Ziehen in seinen Lenden aus und den Wunsch, sie besitzen zu wollen. Sie war keine von den naiven, jungen Gören, sondern erweckte den Eindruck einer keuschen, bescheidenen Frau. Schmerzlich fiel ihm ein, dass Bradford, wenn er anwesend wäre, sofort Jagd auf sie machen würde. Und eins war so sicher wie das Amen in der Kirche: Sein Bruder würde heute Abend noch auftauchen und dann wäre die Kleine nicht mehr sicher vor ihm.

Nach einem letzten intensiven Blick auf die junge Frau, der von ihr nicht unbemerkt blieb und ihr sogleich die Röte ins Gesicht steigen ließ, machte sich Arden auf den Weg zu seiner Kutsche.


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