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Chinesische Philosophie als Weltphilosophie

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Der Weg zu einer von chinesischen Quellen maßgeblich inspirierten Weltphilosophie ist noch weit. Die Sprache der klassischen chinesischen Philosophie in ihrer Entwicklung über die Jahrtausende hinweg ist im Westen nach wie vor weitgehend unbekannt und unübersetzt. Durch den ökonomischen und politischen Aufstieg Chinas zu einer modernen Weltmacht wächst der Druck auf Philosophie in Europa, dieser Entwicklung Aufmerksamkeit zu schenken. In der chinesischen Gegenwartsphilosophie gibt es zunehmend Stimmen, die von geistiger Größe träumen: »Heute gehört das, was zu China gehört, auch zur Welt. Das ist eine Tatsache. Das ökonomische Gewicht bestimmt das Gewicht von Politik, Kultur und Denken (Marx’ Theorie des ›ökonomischen Unterbaus‹ ist nach wie vor gültig). Sobald China ein wichtiger Teil der Welt wird, müssen wir die Bedeutung von Chinas Kultur und Denken für die Welt diskutieren. Wenn Chinas Wissenssystem nicht am Aufbau des Wissenssystems der Welt teilnehmen kann, so dass ein neues, universales Wissenssystem entsteht, und wenn China nicht zu einem großen Land der Wissensproduktion werden kann, dann bleibt es bloß ein kleines Land, unabhängig davon, wie groß sein Umfang auf dem Gebiet der Ökonomie und der materiellen Produktion ist.« (Zhào 2005: 2)

Dies ist ein Zitat aus dem Buch Das System des Himmelunten von Zhào Tīngyáng 趙汀陽. Sein Buch Die Aktualität des Himmelunten – ins Deutsche übersetzt unter dem Titel Alles unter dem Himmel. Vergangenheit und Zukunft der Weltordnung – hat dazu beigetragen, die Diskussion über damit verbundene Fragen auch in den deutschsprachigen Raum zu tragen. (Zhào 2016) Aus einer Perspektive, die der Schweizer Sinologe Jean François Billeter formuliert hat, lässt sich die Rede vom »Himmelunten« (tiānxià 天下) ohne große Schwierigkeiten als eine Waffe im »Krieg der Ideen« identifizieren, den das »chinesische Regime« gegen »uns« führt. (Billeter 2020: 101) Deutsche Kommentare sehen in Zhàos Versuch, mit Hilfe der Idee eines »Systems des Himmelunten« über die »Weltordnung« nachzudenken, düster das Aufdämmern einer »von China dominierten Weltordnung« (Osterhammel 2020) und eine »politische Kosmologie«, die als »freundliche Ordnung« (Assheuer 2020) daherkommt, hinter der sich aber der Aufruf zu einem neuen »Kampf der Weltanschauungen« verbirgt: »Und wer wollte bestreiten, dass unsere Zeit an der Schwelle einer Konfrontation zweier Weltmächte, der USA und China, steht, eine Zeit, die mithin auch durch die Konfrontation zweier Philosophien geprägt wird: eines westlichen, die Menschenrechte in sein Zentrum stellenden Universalismus, sowie eines Universalismus der friedlichen Koexistenz unterschiedlicher Systeme […].« Es verdichten sich, so Brumlik weiter, »die Hinweise auf eine auch philosophische Konkurrenz zwischen China und dem ›Westen‹, sofern man heute […] überhaupt noch von ›dem Westen‹ sprechen kann«. Dabei wird eine »aus China kommende, erklärtermaßen neokonfuzianische Philosophie gegen die klassische liberale Philosophie, etwa von John Rawls, in Stellung gebracht«. (Brumlik 2020: 81)

Ein Grundprinzip der chinesischen »Kunst des Krieges« lautet: Wer weder den gegnerischen Anderen noch sich selbst kennt, läuft Gefahr, jeden Kampf zu verlieren. (Klöpsch 2009: 20) Auf die Situation des von Brumlik beschworenen »Kampfes der Weltanschauungen« übertragen, stellt sich für Philosophie in Europa die Frage, ob sie von China und chinesischer Philosophie denn überhaupt genug weiß, um auf einen solchen »Kampf« hinreichend vorbereitet zu sein. Unkenntnis und Desinteresse hinsichtlich chinesischer Philosophie sind so offensichtlich und stark, dass diese Frage ohne Zögern verneint werden kann. Wie in der interkulturellen Kommunikation zwischen China und Europa die Gewichte verteilt sind, zeigt das von Brumlik lobend angeführte Beispiel des monumentalen Werkes von Jürgen Habermas Auch eine Geschichte der Philosophie, in dem »Konfuzianismus und Taoismus« ein kurzes Kapitel gewidmet ist (Habermas 2019: 383–405) – das Gewicht, das darin chinesischer Philosophie zukommt, ist so gering wie schon in Hegels Vorlesungen zur Geschichte der Philosophie, der sie unter der Rubrik »orientalische Philosophie« auf wenigen Seiten abhandelt, denn »sie ist nur ein Vorläufiges, von dem wir nur sprechen, um davon Rechenschaft zu geben, warum wir uns nicht weitläufiger damit beschäftigen, und in welchem Verhältnis es zum Gedanken, zur wahrhaften Philosophie steht«. (Hegel 1986/18: 138) Es sieht leider so aus, als ob sich in Europa seitdem fast nichts geändert hat. Daran schließt sich die weitergehende Frage an, ob ein Europa sich selbst kennt, das den gegnerischen Anderen – in diesem Fall China – nicht kennt? Ich gehe in diesem Buch der These nach, dass auch diese Frage verneint werden muss. Ein Europa, das sich weiterhin selbstbezüglich und selbstgefällig für den normativen Maßstab von dem hält, was als modern und fortgeschritten gelten kann, hört auf zu verstehen, was »Moderne« bedeutet, weil es sich von der Dynamik einer globalen Modernisierung abschneidet, die dereinst von Europa ausgegangen ist: Die chinabezogene Unkenntnis lähmt auch die europäische Fähigkeit zur kritischen Selbsterkenntnis.

Ganz anders steht es um die chinesische Aufarbeitung der europäischen Philosophiegeschichte, die seit dem 19. Jahrhundert große Fortschritte gemacht hat und vom Altertum bis in die jüngste Gegenwart unablässig übersetzt und erörtert wird – der Wissensunterschied ist so groß, dass das Unterfangen einer vergleichbaren Aufarbeitung der chinesischen Philosophiegeschichte in Europa geradezu utopisch erscheint. Deutsche Philosophie hat im China des 20. Jahrhunderts einen geradezu ungeheuren Einfluss ausgeübt, allen voran einer der schärfsten Kritiker des deutschen Idealismus: Karl Marx. Chinesische Philosophie hat sich durch die Öffnung für europäische Einflüsse tiefgreifend verändert. Dem steht auf europäischer Seite nichts Entsprechendes gegenüber. Das hat zu einer geistigen Enge geführt, die von ihrer eigenen Enge kaum etwas ahnt, ja sich sogar selbstgefällig für weltoffen hält. Zhào dreht deshalb den Spieß um und kann durchaus mit Recht behaupten, dass politische Philosophie in Europa weltblind ist. Aber was bedeutet »Welt«? An dieser Stelle führt er einen umfassenden Begriff von »Welt« im Sinne des »Himmelunten« ein. (Zhào 2005: 25) Seiner Auffassung nach bleiben Versuche, die destruktiven Konsequenzen des modernen Nationalismus zu überwinden, leicht im Rahmen des inter-nationalen Verhältnisses zwischen Nationalstaaten befangen. Und spricht nicht auch Kant vom ewigen Frieden »unter Staaten«?

Die Diskussion um Zhào Tīngyángs Buch ist ein Beispiel für die geistigen Widerstände, die sich in Europa schnell gegen China aufbauen. Seitdem sich im 18. Jahrhundert die Gegenüberstellung von aufgeklärtem Europa und despotischem China etabliert hat, liegt das Thema eines »Kampfes der Weltanschauungen« in der Luft. Nach etwa zweihundert Jahren des ungleichen Kampfes, in dem die chinesische Seite hoffnungslos unterlegen war und ums Überleben zu kämpfen hatte, taucht China nun, zu Beginn des 21. Jahrhunderts, aus dem Abgrund der Geschichte wieder auf. Um diesen Wiederaufstieg zu verstehen, ist es offenbar nicht ausreichend, sich mit der Herausbildung bestimmter moderner politischer Regime und ideologischer Diskurse zu beschäftigen. Es ist notwendig, das alte China einzubeziehen und es als ebenso wichtig für das tiefergehende Verständnis der Gegenwart Chinas anzusehen wie die griechisch-römische Antike für das Verständnis Europas.

Wenn nun versucht wird, den in der klassischen chinesischen Philosophie weit verbreiteten Begriff des »Himmelunten« etwa in ein »Confucian New Tian Xia Model« zu überführen, wird deutlich sichtbar, wie sehr die »Renaissance des Klassischen« (gǔdiǎn fùxīng 古典復興) bereits in der Erörterung aktueller Probleme und Konflikte angekommen ist. (Bai 2020: 175–213) Das ist eine Entwicklungstendenz, die auf das Ende der Kulturrevolution (1976) zurückgeht und sich seitdem andauernd verstärkt und ausgeweitet hat. Das bedeutet, dass der philosophische Diskurs der chinesischen Antike für die Auseinandersetzung mit dem modernen China allmählich an Bedeutung gewinnt. Es wird nun zunehmend deutlich, dass es nicht mehr bloß ein bestimmtes politisches Regime ist, das die »liberale Weltordnung« auf die Probe stellt, sondern das, was manche chinesische Intellektuelle gerne »chinesische Zivilisation« (zhōnghuá wénmíng 中華文明) nennen. Auf europäischer Seite wird in dieser Situation geradezu reflexhaft ein Diskurs reaktiviert, der China in bedrohlichem Licht zeichnet. Interkulturelle Kommunikation nimmt dadurch die Gestalt ideologischer Konfrontation an. Die Möglichkeit sich geduldig mit chinesischer Philosophie auseinanderzusetzen, sie also kritisch zu analysieren, wo es nötig ist, aber auch von ihr zu lernen, wo es möglich ist, droht im Pulverdampf dieses Kampfes zu verschwinden. Damit schwindet indes auch die Möglichkeit, sich Klarheit darüber zu verschaffen, um was für einen »Anderen« es sich überhaupt handelt. Der »Kampf der Weltanschauungen« droht auf europäischer Seite zum Kampf gegen chinesische Gespenster zu werden.

Worin ist dieser reflexhafte Widerstand gegen alles Chinesische begründet? Die kritische Auseinandersetzung mit dem Werk des einflussreichen französischen Philosophen und Sinologen François Jullien, die im Zentrum des ersten Teils dieses Buches steht, versucht Antworten zu geben. Im ersten Kapitel gehe ich der Selbstblockade interkulturellen Philosophierens nach, die ich in seinen Schriften sehe. Julliens Deutung »chinesischen Denkens« liefert bequeme Gründe für den Ausschluss »chinesischer Philosophie« aus dem philosophischen Diskurs der Moderne. Gleichwohl hat er eine »philosophische Interpretation« klassischer chinesischer Texte entwickelt, von der sich viel lernen lässt und die für meinen Zugang zu ihnen immer wieder eine wichtige Orientierung war. Jullien ist allerdings ein Meister darin, die teilweise willkürlich gewählten Quellen für seine Deutung zu verschleiern, um ihr den Anschein der Allgemeingültigkeit zu verleihen – deshalb werde ich wiederholt auf die Bedeutung zu sprechen kommen, die der konfuzianische Philosoph Wáng Fūzhī 王夫之 (1619–1692) für die Herausbildung seiner Perspektive hatte.

Julliens Strategie der Verschleierung hat gute Gründe, denn sobald die Erörterung chinesischer Texte beginnt, philosophisch und philologisch ein wenig in die Tiefe zu gehen, wirkt das auf Leserinnen und Leser ohne Grundkenntnisse sofort allzu sinologisch und abschreckend »chinesisch«. Das Problem besteht jedoch weniger im Fachchinesisch als in der mangelnden Allgemeinbildung auf dem Gebiet des Chinesischen. Die Zeit scheint reif zu sein für Bemühungen, diesen Teufelskreis zu durchbrechen – dem Risiko der Überforderung zum Trotz wird deshalb in diesem Buch systematisch die international anerkannte Standardumschrift Hànyǔ Pīnyīn mit diakritischen Zeichen für die vier Töne verwendet, ohne die eine korrekte Aussprache der Umschrift nicht möglich ist. Entsprechend halte ich es für notwendig, auf die Strategie der Verschleierung zu verzichten und immer wieder auf den spezifischen Kontext hinzuweisen, in dem meine Kritik an Jullien entstanden ist. Ein solches Vorgehen weckt leicht den Verdacht subjektiver Willkür. Dieser Verdacht ist aber unbegründet, sobald anerkannt wird, dass auch die Auseinandersetzung mit chinesischer Philosophie unvermeidlich von bestimmten Forschungsperspektiven geprägt ist, die sich ergänzen, aber auch miteinander konkurrieren können. Die von Habermas vorgelegte »Geschichte der Philosophie« etwa wird angeleitet von der »Frage einer Genealogie nachmetaphysischen Denkens«. Mein Zugang zu chinesischer Philosophie orientiert sich an der Frage einer philosophischen »Theorie des Energiewandels« (qìhuà lùn 氣化論) und des dazu gehörenden Paradigmas »energiewandelnder Subjektivität« (qìhuà zhǔtǐxìng 氣化主體性). Das ist eine Perspektive, die explizit von einem transkulturellen Diskussionskontext innerhalb der chinesischen Gegenwartsphilosophie ausgeht, der in Europa weitgehend unbekannt ist.

Einen Anfang zu machen und mit neuen Möglichkeiten des Denkens zu experimentieren, kann leicht den Charakter des Beliebigen annehmen. Zufällig wirkt zumindest die Tatsache, dass gerade die deutsche Rezeption eines Buches von Zhào Tīngyáng einen Schritt in die Richtung einer längst überfälligen Diskussion angeregt hat. (Brunozzi / Hahn 2020) Angenommen also, dass die Gegenüberstellung von Liberalismus und Konfuzianismus, von Kant und »Tianxia«, auf eine bedenkenswerte Problematik hinweist, stellt sich sogleich die Frage, was denn »Tianxia« bedeutet – tiānxià 天下 kann verstanden werden als »etwas, was unter dem Himmel ist«. Ich bevorzuge die sicherlich etwas gewöhnungsbedürftige Übersetzung als »Himmelunten«.

Was ist chinesische Philosophie?

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