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Warum chinesische Philosophie?

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Anstatt mich an diesem »Kampf der Weltanschauungen« zu beteiligen, möchte ich in diesem Buch einen Schritt zurück tun und grundsätzlich einer anderen Frage nachgehen: Warum China? Warum chinesische Philosophie? Oder: Warum trotzdem, warum gerade jetzt chinesische Philosophie? Warum ist es Zeit, kritische Perspektiven in der Auseinandersetzung mit chinesischer Philosophie zu entwickeln? Statt einmal mehr europäische Werte zu verteidigen, schlage ich einen Perspektivenwechsel vor. Diesen vollziehe ich in diesem Buch weniger, indem ich direkt eine alternative Sicht der Dinge zum Ausdruck bringe, als vielmehr indirekt auf dem Weg immanenter Kritik, indem ich mich vor allem an den Schriften der drei philosophischen Chinakenner François Jullien, Jean François Billeter und Heiner Roetz abarbeite.

Das bedeutet, dass ich in diesem Buch versuche, die Perspektive eines beobachtenden Teilnehmers einzunehmen, der sich im »Kampf der Weltanschauungen« nicht eindeutig auf der einen oder auf der anderen Seite positioniert, obwohl er weiß, dass eine solche Position der Positionslosigkeit paradox ist. Mit dem Aufruf zum »Kampf« geht eine Vereinfachung zweier Seiten einher, durch welche die Gegend der Unbestimmtheit zwischen ihnen schrumpft oder gar zum Verschwinden gebracht wird. Die Aufgabe interkulturellen Philosophierens sehe ich indes darin, so zwischenChina und Europa zu wandeln, dass die zukunftsträchtige Unbestimmtheit dieses Zwischen (siehe Kap. 1) sich wieder erweitert, um Möglichkeiten transpositionalen Denkens zu erkunden: ein freies Denken, das sich durch zueinander gehörende und doch einander ausschließende Positionen hindurch zu bewegen und zu verwandeln vermag.

Ein chinesischer Philosoph und Literat, um den es in diesem Buch immer wieder geht, ist Zhuāngzǐ 莊子 (365–290). Er wird gewöhnlich dem Daoismus zugerechnet. Es gibt jedoch auch Stimmen, die ihn für einen heterodoxen Konfuzianer halten (siehe Kap. 7). An dieser Stelle möchte ich erwähnen, dass sich unter dem enormen Druck zur Modernisierung der »Weltanschauung« im China des 20. Jahrhunderts eine »feindliche Haltung« nicht nur gegenüber Kǒngzǐ, sondern auch gegenüber Zhuāngzǐ herausgebildet hat. In ihm wurde ein Hauptverantwortlicher für den mangelnden »Kampfgeist« der Chinesen gesehen. Der zum Repräsentanten marxistischer Literatur stilisierte Lǔ Xùn 魯迅 (1881–1936) etwa polemisiert unablässig gegen Zhuāngzǐ als Quelle einer so flexiblen und wandlungsfähigen wie konformistischen und realitätsflüchtigen Lebenshaltung. Sein Ziel war es, den Geist des Buches Zhuāngzǐ auszurotten und durch einen neuen »Kriegergeist« zu ersetzten: »ohne die mindeste Möglichkeit der Versöhnung«. (Liu 2016: 82) Es waren zwei politische (1911 und 1949) und zwei kulturelle (1919 und 1966–1976) Revolutionen nötig, um die massiven Widerstände gegen die Modernisierung in China zu brechen und im Inneren wie im Äußeren die Bedingungen der Möglichkeit für den »politischen« Kampf im Sinne Carl Schmitts zu schaffen. Es ist eine Ironie der Geschichte, dass heute Zhào Tīngyángs »System des Himmelunten« als Ausdruck eines neuen chinesischen Imperialismus gesehen wird, während er doch eher den maoistischen »Kriegergeist« in Richtung eines an Konfuzianismus und Daoismus orientierten Geistes der paradoxen Koexistenz sich ausschließender Positionen verschieben möchte. Es ist der Versuch, eine politische Perspektive denkbar zu machen, durch die verhindert werden kann, dass China und der Westen in einen mörderischen Kampf hineingeraten, der vom »Unterschied zwischen Freund und Feind« geprägt wird. Dem gegenüber taucht die Perspektive auf, im Namen von »Liberalismus« und »Menschenrechtsuniversalismus« in einen »Kampf der Weltanschauungen« einzutreten, in dem der Gegner ein »totalitäres Regime« (Billeter 2020: 116) ist, dessen »imperiale Ordnung« ungebrochen von der konfuzianisch geprägten Hàn-Zeit bis ins 1949 gegründete sozialistische China reicht. An diesem Punkt möchte ich dringend dazu raten, sich nicht blindlings in einen Kampf zu stürzen, in dem der zum »Feind« erklärte Gegner weitgehend unverstanden und unbekannt ist. Das vorliegende Buch versucht einen kleinen Schritt in diese Richtung zu tun, indem es nachzeichnet, wie und warum »chinesisches Denken« in den Schriften europäischer Sino-Philosophen mit Konformismus, Despotismus und Totalitarismus verbunden wird.

Es scheint mir falsch, Zhuāngzǐs paradoxen Perspektivismus als Relativismus zu verstehen. Er betont, dass jede Position aus Positionslosigkeit hervorgegangen ist und umgekehrt Positionslosigkeit immer eine Position voraussetzt. Der Begriff des »Himmelunten« (tiānxià 天下) ist nicht nur konfuzianisch, es ist ein Begriff, der von sehr unterschiedlichen, mit- und gegeneinander konkurrierenden Denkpositionen geteilt wird. In dem »Himmelunten« überschriebenen letzten Kapitel des Zhuāngzǐ wird eine denkwürdige Deutung dieses Begriffs skizziert. Dabei geht Zhuāngzǐ keineswegs von »friedlicher« oder »harmonischer« Koexistenz aus, sondern von der historischen Situation, die er erlebt hat: »Das Himmelunten ist in großer Unordnung« (tiānxià dàluàn 天下大亂) und »kämpfende Staaten« (zhànguó 戰國) ringen in verlustreichen Kriegen um die politische Vorherrschaft. In dieser Situation widmen sich im »Himmelunten« (tiānxià 天下) viele dem Studium der »Kunst des Weges« und halten ihre eigene Deutung dieses Weges für die richtige: Der wahre »Weg von innerer Heiligkeit und äußerer Königlichkeit« – von innerer und äußerer Kultivierung (Heubel 2016: 170) – ist dunkel geworden, das »große Wesen der Alten« ist verloren gegangen und die »Kunst des Weges« wird vom »Himmelunten [von aller Welt] gespalten«. (Guō 1961: 1069; Ziporyn 2020: 267–268) Ist diese Stelle ein Beleg dafür, dass Zhuāngzǐ der »Vielfalt […], die in die Gesellschaft Einzug gehalten hat« (Schleichert / Roetz 2020: 338), ablehnend gegenübersteht (siehe Kap. 10)?

Ganz zu Recht hat Billeter wiederholt darauf hingewiesen, dass Zhuāngzǐ kein harmloser Apologet esoterischer Weltflucht und geistiger Befreiung ist, sondern ein zutiefst politischer Philosoph, der versucht, durch die mörderischen Kämpfe seiner Zeit hindurch zu denken. Ein Beispiel ist der Beginn des ersten Gesprächs im vierten Kapitel des Zhuāngzǐ, das Billeter übersetzt und ausführlich kommentiert hat: »Yán Huí kam zu Kǒngzǐ [Konfuzius], um sich von ihm zu verabschieden. Kǒngzǐ fragte: ›Wohin willst du?‹ ›Ich will nach Wèi.‹ Kǒngzǐ sprach: ›Was willst du dort?‹ Er sprach: ›Ich höre sagen, dass der Fürst von Wèi, der im besten Mannesalter steht, in seinem Handeln alleinherrschend ist, dass er den Gebrauch seines Landes leicht nimmt und seine Fehler nicht sieht. Der leichtfertige Gebrauch [von Mitteln des Krieges] tötet das Volk. Die Leichen liegen in seinem Land umher, unzählbar wie das Heu auf den Wiesen, und das Volk ist hilflos.« (Wilhelm 1912: 26) In dem sich daran anschließenden Gespräch geht es um die Frage, wie ein kritischer Diskurs unter solchen Bedingungen möglich ist und wie politische Veränderung herbeigeführt werden kann, ohne das eigene Leben leichtsinnig zu gefährden (siehe Kap. 10). Vor diesem Hintergrund entwickelt Zhuāngzǐ seine »Kunst des Weges«, von der er durchaus zu glauben scheint, dass sie zur »Regierung des Himmelunten« als »Selbstregierung« führen kann. Innere Kultivierung – die (Selbst-)Regierung der Welt – und äußere Kultivierung – die Regierung der Anderen – gehören dabei untrennbar zusammen. Diese Philosophie der Kultivierung wird im »Subjektivität und Politik« überschriebenen zweiten Teil dieses Buches am Leitfaden eines neuen »Paradigmas der Subjektivität« diskutiert, das Billeter mit Bezug auf das Buch Zhuāngzǐ vorgeschlagen hat.

Der zweite Teil endet mit einem »Das Atmen der Freiheit« überschriebenen Kapitel, in dem der Versuch unternommen wird, von dem Atmen oder der Atem-Energie (qì 氣) und dem damit verbundenen Paradigma energiewandelnder Subjektivität her Freiheit zu denken. Ein hybrider Begriff wie energiewandelnde Subjektivität ist eine Herausforderung. Er bezeugt eine interkulturelle Vorgehensweise, die im ersten Teil des Buches vor allem in Auseinandersetzung mit den Schriften des französischen Philosophen und Sinologen François Jullien erläutert wird. Ich spreche in diesem Zusammenhang von einer transkulturellen Seite interkulturellen Philosophierens, auf der es prinzipiell unmöglich wird, Begriffe noch eindeutig dem Osten oder dem Westen, China oder Europa zuzuordnen. Dem steht eine komparative Seite gegenüber, auf der vielfach der hermeneutische Kontrast von Chinesischem und Europäischem zur Anwendung kommt. Methodisch gehe ich davon aus, dass die komparative und die transkulturelle Seite interkultureller Kommunikation zueinander gehören und einander benötigen. Aus komparativer Perspektive gilt der Gebrauch von Begriffen wie »Subjektivität«, »Energie« oder »Freiheit« in der Deutung chinesischer Texte als fragwürdig oder gar illegitim, weil damit fremde europäische Begriffe chinesischen Quellen aufgezwungen werden. Aus transkultureller Perspektive sieht die Sache anders aus. Denn in der chinesischsprachigen Gegenwartsphilosophie sind die Wendungen zhǔtǐxìng 主體性 (Subjektivität), néngliàng 能量 (Energie) oder zìyóu 自由 (Freiheit) nicht nur weit verbreitet in Diskussionen, die europäischer Philosophie gewidmet sind, sondern auch in Interpretationen klassischer chinesischer Texte. Mehr noch, transkulturelle Mischbegriffe sind aus der Alltagssprache nicht wegzudenken. Von daher ist »energiewandelnde Subjektivität« auch keine Neubildung meinerseits, sondern der Versuch, qìhuà zhǔtǐxìng 氣化主體性 ins Deutsche zu übersetzten (siehe Kap. 1). Hinzu kommt, dass die Rede von »Energiewandel« von der kritischen Evolutionstheorie angeregt ist, die ich während meiner Studienzeit kennengelernt habe. (Edlinger et al 1991: 36, 70) Die Suche nach einer Übersetzung für qìhuà 氣化 hat mich letztlich wieder auf diese Wendung zurückgebracht.

Im Unterschied zu Jullien und Billeter versuche ich in diesem Buch nicht etwas über das chinesische Denken oder die chinesische Philosophie zu sagen. Meine kritische Diskussion ihrer Perspektiven zeigt, dass das eine so hochmütige wie trügerische Anmaßung ist. Auf diesem Weg treten selbstverständlich auch Grenzen und Beschränktheiten meiner Perspektive hervor, die durch diese Auseinandersetzung Konturen gewinnt. Ich möchte nicht unerwähnt lassen, dass mein Zugang nur teilweise auf Bücherwissen gründet. Viele Überlegungen dieses Buches sind aus einer Vielzahl von Gesprächen mit chinesischen Freunden und Kollegen erwachsen, von denen ich kaum behaupten kann, dass sie besonders einflussreich und über Fachkreise hinaus international bekannt sind. Die Quelle meiner Reflexionen sind vielfach der lebendige Austausch und die Lektüre unveröffentlichter Texte oder Tagungsbeiträge, also ein Forschungskontext, in dem die Dinge noch unbestimmt und in Bewegung sind. Ich verstehe mich weniger als Geistesgeschichtler, denn als aktiver und kritischer Teilnehmer an einem philosophischen Diskurs, der noch im Entstehen begriffen ist. Zu den kritischen Perspektiven, die in diesem Buch erörtert werden, gehört auch meine eigene. Es ist eine von vielen möglichen Perspektiven, die gleichwohl nicht bloß meine eigene ist, weil sie in ein Netzwerk von Perspektiven verflochten ist, ohne das sie nicht entstanden wäre.

Ansätze zur philosophischen Interpretation des Buches Zhuāngzǐ haben in der französischsprachigen Sinologie zu sehr verschiedenen, ja geradezu gegensätzlichen Ergebnissen geführt. Weil sie kritisch aufeinander bezogen sind, eröffnen sie eine seltene Gelegenheit, einen akademischen Streit über das, was »chinesisches Denken« ist, aus der Nähe zu beobachten. Aufgrund mangelnder Grundkenntnisse zur chinesischen Geistes- und Kulturgeschichte in Europa besteht die Gefahr, dass die philosophische Bedeutung des französischen Streitgesprächs hinter dem Eindruck einer sinologischen Spezialdiskussion verschwindet. Der Streit zwischen Jullien und Billeter erscheint jedoch nur deshalb als schwer verständliches Fachgespräch, weil sich bisher kaum jemand die Mühe machen möchte, das Chinesische philosophisch ernst zu nehmen. Solange »wir« dem Drang zur Vereinfachung erliegen und das Chinesische als Ganzheit oder gar als totalitären Block wahrnehmen wollen, so lange wird das Chinesische »uns« prinzipiell unverständlich bleiben und allzu chinesisch erscheinen. Mein Weg durch den Streit zwischen Jullien und Billeter über das »chinesische Denken« stellt die Geduld der Leserinnen und Leser sicherlich auf eine harte Probe. An einigen Stellen muss die philosophisch-sinologische Diskussion ausgewählter Texte ein wenig ins Detail gehen, um weitreichende Übersetzungs- und Deutungsfragen verständlich zu machen. Zweifellos ist jedoch auch dieser gelegentliche Abstieg ins Fachchinesisch nur ein blasser Vorgeschmack auf die Schwierigkeiten, die eine vertiefte Auseinandersetzung mit chinesischer Philosophie mit sich bringt.

Zu Beginn dieser Einleitung habe ich die weltphilosophischen Geltungsansprüche erwähnt, die im Kontext chinesischer Gegenwartsphilosophie geäußert werden. Der Versuch, das »Himmelunten« als Weltbegriff ins Spiel zu bringen, ist immerhin noch ein Gesprächsangebot, in dem sich viele Bezüge zur europäischen Philosophie finden, die eine weitergehende Diskussion zumindest ermöglichen können. Aus europäischer Perspektive scheint mir eine andere Entwicklungstendenz viel beunruhigender zu sein.

Der Bereich chinesischer Gegenwartsphilosophie, der mit klassischen Texten zu tun hat, wendet sich zunehmend nach innen. Es entsteht dabei ein »innerer Kreislauf« (nèi xúnhuán 內循環) von Ideen und Deutungen dieser Texte, der sich weitgehend selbst genügt. Die Bezüge nach »außen«, insbesondere zur Geschichte der modernen Rezeption europäischer Philosophiegeschichte in China, werden dabei gekappt oder unkenntlich gemacht und wirken zunehmend nur noch indirekt und verborgen weiter. Damit verschwinden wichtige Teile des philosophischen Diskurses hinter einem Schleier aus Anspielungen und Kommentaren, deren Bedeutung ohne eine gewisse Vertrautheit mit den klassischen Texten und ihrem historischen Kontext unverständlich bleiben muss. Diese Tendenz droht auf der anderen Seite einen westlichen China-Diskurs zu verstärken, der ebenfalls vor allem um sich selbst kreist und von innerchinesischen Entwicklungen abgeschnitten wird. Ein in die Zukunft weisendes Leitmotiv meiner Erörterung chinesischer Philosophie ist die Erkundung von Denk- und Kommunikationsmöglichkeiten zwischen diesen beiden diskursiven Kreisläufen.

Dafür ist es unerlässlich, die transkulturelle Dynamik innerhalb des philosophischen Diskurses der Moderne in China zu verstehen und sich das Ungenügen komparativer Deutungen vor Augen zu führen, die darauf beruhen, China und Europa unentwegt einander gegenüberzustellen. Chinesische Philosophie kann dann zu einem welt-philosophischen Weg werden, der sowohl die herkömmliche Spaltung zwischen altem und neuem China als auch die zwischen europäischem und chinesischem Denken in den Wirbel kreativer Transformation einfließen lässt.

Was ist chinesische Philosophie?

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