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Kampf oder Koexistenz?
ОглавлениеAngenommen also, dass nun »neokonfuzianische« und »klassische liberale Philosophie« miteinander konkurrieren, ist darin zunächst eine bemerkenswerte Annahme darüber enthalten, was dieser »Kampf« nicht ist: Es ist kein Kampf zwischen chinesischem Sozialismus und westlichem Liberalismus. Warum eigentlich nicht? Warum nicht davon ausgehen, dass der moderne Konfuzianismus, der sich in der VR China seit 1949 entwickelt hat, Teil einer ideologischen Konstellation ist, in deren Mittelpunkt ein Sino-Marxismus steht, ohne den wiederum die Rede von einem »Sozialismus chinesischer Prägung« nicht zu verstehen ist – wobei das Chinesischwerden oder die »Sinisierung« des Marxismus vor allem seit den 1980er Jahren ja nicht nur explizit dazu geführt hat, ausgewählte Aspekte der Tradition konfuzianischen Lernens zu integrieren, sondern auch eine Öffnung für den »Liberalismus« mit sich gebracht hat, die sich nicht auf den Bereich ökonomischer Liberalisierung beschränkt. Der Kontrast von »neokonfuzianischer« und »klassischer liberaler Philosophie« läuft Gefahr, die Herausforderung chinesischer Gegenwartsphilosophie misszuverstehen, indem konfuzianisches »China« und liberales »Europa« einander komparativ gegenübergestellt werden. Das Bedürfnis, ein Feindbild zu errichten, führt zudem dazu, innerchinesische Stimmen auszublenden, die seit Jahren kritisch auf die Gefahr eines ideologischen Missbrauchs der Rede vom »Himmelunten« als Begriff der politischen Philosophie hinweisen. (Gé 2015; Liáng 2018) Unterschlagen werden auch Bemühungen, Kant und Konfuzianismus, die Idee vom »ewigen Frieden« und diejenige der »Befriedung des Himmelunten« (píng tiānxià 平天下), zu versöhnen, indem das Motiv des »Himmelunten« kosmopolitisch gelesen und gegen die Gefahr eines imperialen Missbrauchs gewendet wird. (Lǐ 2016) Das »System des Himmelunten« verweist auf eine verschlungene Konstellation von »Selbstkultivierung« (xiūshēn 修身), »Familie« (jiā 家), »Staat« (guó 國) und »Himmelunten«, die Entwicklungsmöglichkeiten enthält, die sich keineswegs auf die Stichworte »autoritär« oder »totalitär« reduzieren lassen. Im vorliegenden Buch versuche ich Zugänge zu dieser Konstellation zu eröffnen, die allerdings nicht beim Moment des »Himmelunten« ansetzen, sondern bei demjenigen der Selbstkultivierung und einem damit verbundenen Paradigma der Subjektivität.
Damit unterscheidet sich meine Perspektive deutlich von derjenigen, die Zhào Tīngyáng wählt, wenn er die »Kreislaufstruktur« des Verhältnisses von »Himmelunten – Staat – Familie – Staat – Himmelunten« diskutiert – die deutsche Übersetzung spricht von »Tianxia – Staat – Sippe – Staat – Tianxia«, was ich für irreführend halte. (Zhào 2016: 81/75) Zhào zitiert zwar die entscheidende Stelle aus dem konfuzianischen Klassiker Das große Lernen (Dàxué 大學), lässt jedoch in seiner weiteren Diskussion das für dieses politische Modell unverzichtbare Moment der »Selbstkultivierung« einfach weg. In diesem Schlüsseltext der politischen Philosophie heißt es dazu sehr deutlich und unmissverständlich: »Vom Himmelssohn bis zum gewöhnlichen Menschen, für alle ist Selbstkultivierung die Wurzel. Dass einer, dessen Wurzel in Unordnung ist, in seinen Zweigen [Familie, Staat und Himmelunten] regiert [in Ordnung] ist, das gibt es nicht.« (Zhū 1983: 3–4; Zhào 2016: 87/81; Wilhelm 1981: 46–47) Im Mittelpunkt der »Kreislaufstruktur« steht also nicht die »Logik der Familie« oder das »Prinzip der Sippe«, sondern eine »Kultivierung des Weges« (xiūdào 修道), die in einer Doppelbewegung »innere Kultivierung« (nèixiū 內修) und »äußere Kultivierung« (wàixiū 外修) miteinander verschränkt (nèiwài jiāoxiū 內外交修), wobei »Ordnung der Familie«, »Regierung des Staates« und »Befriedung des Himmelunten« allesamt als Angelegenheiten angesehen werden, die von »Selbstkultivierung« nicht getrennt werden können. (Xióng 2001: 671–672; Heubel 2014: 44) So gesehen, beraubt Zhào Tīngyáng die »Kreislaufstruktur« des Mittelpunktes, um den das ganze »System des Himmelunten« kreist, und schlägt deshalb von Anbeginn eine fragwürdige Richtung ein. Meine Diskussion des Verhältnisses von Subjektivität und Politik im zweiten Teil dieses Buches orientiert sich demgegenüber an der von Xióng Shílì 熊十力 (1885–1968), einer Gründungsfigur des »zeitgenössischen Neokonfuzianismus« (dāngdài xīnrújiā 當代新儒家), vorgeschlagenen Interpretation.
Ist es nicht un-philosophisch, der »chinesischen Weltanschauung« einfach eine »europäische« entgegenzusetzen, ohne die Perspektiven immanenter Kritik einzubeziehen, die im chinesischsprachigen Kontext entwickelt werden? Wird dadurch nicht ein totalisierender Blick auf chinesische Philosophie geworfen, der einmal mehr unterstellt wird, konformistisch und kritiklos zu sein (siehe Kap. 2)? Statt gegen den konfuzianischen Autoritarismus zu polemisieren, scheint es mir sinnvoller zu sein, auch den chinesischen Sozialismus als Teil einer transkulturellen Dynamik zu verstehen, in der Altes und Neues, Chinesisches und Westliches auf paradoxe Weise miteinander kommunizieren. Wie ist jedoch das Verhältnis der komparativen und der transkulturellen Perspektive zu verstehen (siehe Kap. 1)? Das ist eine Leitfrage dieses Buches, der ich nachgehe, indem ich mich mit europäischen Deutungen »chinesischen Denkens« auseinandersetze.
Die paradoxe Koexistenz unterschiedlicher politischer Positionen, ja ideologischer Systeme innerhalb des »Sozialismus chinesischer Prägung« hat sich in der VR China seit 1949 langsam herausgebildet. Sie war keineswegs immer »friedlich«. Ganz im Gegenteil: Auf dem Weg dahin haben grausame Konflikte stattgefunden, in denen Liberalismus und Konfuzianismus im Namen des sozialistischen Aufbaus unbarmherzig bekämpft worden sind. Allmählich hat sich allerdings eine in sich lern- und wandlungsfähige Konstellation von Sino-Marxismus, modernem Konfuzianismus und Liberalismus herausgebildet, in der diese unterschiedlichen Denksysteme zwar keineswegs konfliktfrei koexistieren, aber doch auch ohne sich bis aufs Messer zu bekämpfen. Aus dieser Perspektive ist die »Koexistenz unterschiedlicher Systeme« zunächst einmal ein innerchinesisches Entwicklungsmodell, das aus der Dynamik einer hybriden Modernisierung hervorgegangen ist, in der unterschiedliche und einander ausschließende Modernisierungswege seit dem 19. Jahrhundert nicht nur miteinander konkurriert haben, sondern immer wieder darauf aus waren, einander zu vernichten. Die konkrete Ausgestaltung der »Koexistenz unterschiedlicher Systeme«, die allmählich erreicht werden konnte, bleibt allerdings notwendigerweise umstritten, denn es handelt sich dabei um eine sich unablässig wandelnde Konstellation, die immer neu ausbalanciert werden muss – »Harmonie« bezeichnet in diesem Zusammenhang keine feste Ordnung, sondern die kontinuierliche Bemühung um das Erreichen eines vorläufigen und beweglichen Gleichgewichts. In Anbetracht der vielen Millionen Toten, die alleine die ideologischen Kämpfe im Inneren Chinas seit dem späten 19. Jahrhundert gefordert haben, ist kaum zu leugnen, dass diese Idee der »Koexistenz« ein großer Fortschritt ist.
Erst mit dem Aufstieg Chinas zu einer ökonomischen, politischen und technologischen Weltmacht stellt sich in Europa unausweichlich die Frage nach dem universalistischen Gehalt des chinesischen Weges der Modernisierung – für chinesische Gelehrte wurde die ernsthafte Beschäftigung mit der Geschichte europäischer Denksysteme erst durch die Übermacht des westlichen Imperialismus und eine ganze Kette von Niederlagen und Demütigungen zur unabweisbaren Not-wendigkeit. Mit Bezug auf das konfuzianische Buch der Riten hat eine Reihe von Reformern und Revolutionären seit dem 19. Jahrhundert immer wieder den universalistischen Gehalt einer Welt des »Himmelunten« (tiānxià) beschworen, in der der »große Weg« (dàdào 大道) verwirklicht, »das Himmelunten öffentlich wird« (tiānxià wéi gōng 天下為公) und die »große Gemeinsamkeit« (dàtóng 大同) besteht. (Wilhelm 1981: 56; Zhào 2016: 46/49) Bis heute sind diese Ideen fester Bestandteil des politischen Selbstverständnisses und auch Zhào Tīngyáng zitiert die berühmte Anfangspassage in der Einführung von Die Aktualität des Himmelunten ausführlich. (Zhào 2016: 10–11/20) Nur blieben sie im Westen lange unbeachtet oder galten als utopische Spinnerei, die bestenfalls wohlwollend belächelt wurde – denn China war ja ein politisch wie auch diskursiv weitgehend ohnmächtiger Spielball im geopolitischen Kampf imperialistischer Großmächte und sah sich gezwungen, den historischen Schritt vom »Himmelunten« zum »National-Staat« zu vollziehen. Da aber »China« in das in Europa entstandene System der National-Staaten nur begrenzt hineinpasst, denken chinesische Forscher nun über ein »neues System des Himmelunten« nach. (Chén 2007: 110–111) Auf europäischer Seite wird indes der auf die Antike zurückgehende Universalismus des »Himmelunten« (tiānxià 天下) als »Angriff auf den menschenrechtlichen Universalismus« wahrgenommen, als Position im Kampf philosophischer Weltanschauungen zwischen dem »liberalen Westen« und der »autoritären Weltgroßmacht China« (Brumlik 2020: 85): Aus westlicher Sicht kann es nur einen Universalismus geben, nämlich den einzig wahren, der neben sich keinen anderen zu dulden bereit ist.
Die Idee eines »Universalismus der friedlichen Koexistenz unterschiedlicher Systeme« ist keineswegs neu, sondern im Kern bereits im 19. Jahrhundert von Theoretikern der »konservativen Revolution« wie Kāng Yǒuwéi 康有為 (1858–1927) und Liáng Qǐchāo 梁啟超 (1873–1929) vertreten worden. (Heubel 2016: 27–28) Ein Blick auf die Geschichte der modernen »Kommunikation der drei Traditionen« (tōng sān tǒng 通三統) legt die Vermutung nahe, dass auch ein »Liberalismus chinesischer Prägung« nicht außerhalb der paradoxen Koexistenz von Konservatismus, Liberalismus und Sozialismus denkbar ist. Selbst wenn die moderne »Traditionsaneignung« nur dazu dient, »die importierte Idee der Demokratie gewissermaßen nachträglich mit Gedanken aus dem autochthonen geistigen Erbe zu unterfüttern«, bleibt sie doch unverzichtbar, wenn nämlich China nicht »das Schicksal allzu vieler der vom Westen überrollten Kulturen erleiden« soll. (Roetz 1992: 17) Auch dort, wo Philosophen in der Republik China auf Taiwan seit 1949 versucht haben – gegen den Marxismus-Leninismus auf dem chinesischen Festland – die Demokratisierung Chinas zu denken, kommt der Verbindung von modernem Konfuzianismus und westlichem Liberalismus eine unverzichtbare Bedeutung zu – und das geht bis hin zu Versuchen, das universalistische Potenzial konfuzianischen Lernens im engen Austausch mit den Schriften von John Rawls zu rekonstruieren. (Dèng 2015; Dèng 2020)
Der Rede von einer »friedlichen Koexistenz unterschiedlicher Systeme« ziehe ich die Idee der paradoxen Koexistenz unvereinbarer Positionen vor, um der Gefahr vorzubeugen, dass »politisches Konfliktpotenzial« hinter dem Schleier falscher Harmonie verschwindet. (Celikates 2020: 379) Die steht nicht nur im Mittelpunkt der Theorie vom »neuen Kommunizieren der drei Traditionen«, die zur geschichtsphilosophischen Rechtfertigung des Regimes der kommunistischen Partei ins Spiel gebracht wird, sondern findet sich bereits in den »drei Prinzipien des Volkes« von Sun Yat-sen (Sūn Zhōngshān) 孫中山, deren drei »Ismen« mit den drei großen modernen ideologischen Positionen des Konservatismus, Liberalismus und Sozialismus korrespondieren. (Heubel 2016: 42–46) Die Verwirklichung der Idee einer paradoxen Kommunikation unvereinbarer »Ismen«, die auf Möglichkeiten gewaltloser Koexistenz zielt, hat demnach den Weg chinesischer Modernisierung seit dem 19. Jahrhundert begleitet. Mit der Annäherung an das damals vielen Reformern und Revolutionären gleichermaßen vor Augen stehende ferne Ziel, nämlich China wieder »reich und stark« zu machen, drängt sich die Frage nach dem »universalistischen Potenzial« dieses Weges auf. Durch die eingehende Erörterung von Julliens und Billeters Deutungen »chinesischen Denkens« versuche ich in diesem Buch Perspektiven der kritischen Auseinandersetzung zu erkunden, die eine totalisierende Kritik im Namen von »Konformismus« und »Totalitarismus« vermeiden (siehe Kap. 2 und 3).
Billeters Kampfschrift Warum Europa. Reflexionen eines Sinologen (Billeter 2020) möchte geistige Waffen im »Krieg der Ideen« bereitstellen, den das »chinesische Regime« gegen »uns« führt. Dafür skizziert er eine Karikatur der chinesischen Geistesgeschichte, die an Antitraditionalismus der wütenden Vergangenheitsbewältigung kaum nachsteht, die chinesische Intellektuelle im 20. Jahrhundert betrieben haben. Wie es für einen »Kampf der Weltanschauungen« üblich ist, wächst darin der Druck, Partei zu ergreifen: Bist du für die Freiheit oder für den Totalitarismus? Entweder – oder? Hier oder dort? Freund oder Feind? Billeters moralischer Eifer rückt all diejenigen, die an dieser Stelle zögern und zweifeln, in die Nähe von Sympathisanten eines despotischen Imperiums, dessen Macht in Europa noch nicht hinreichend erkannt ist. Für Billeter steht Europa vor der Aufgabe, das totalitäre China in eine liberale Demokratie zu transformieren. Ist Ähnliches nicht auch schon mit dem totalitären Deutschland gelungen? Er beschwört die Möglichkeit des radikalen Bruchs mit der Vergangenheit. François Jullien glaubt hingegen nicht an die Möglichkeit liberaler Demokratie in China, weil das einen »metaphysischen Schnitt« mit dem Bestehenden erfordern würde, der im geschlossenen Immanenzzusammenhang »stiller Wandlungen« schlicht undenkbar ist. Schon im chinesischen Altertum sieht er eine Tendenz zur Perfektionierung totalitärer Regierungstechniken, lange bevor das aufgeklärte Europa anfing, über panoptische Mechanismen der Disziplinierung nachzudenken (siehe Kap. 2). Wie sollte Europa fähig sein, an dieser Stelle verändernd einzugreifen, vielleicht gar einen revolutionären Umsturz zu bewirken, und zwar nicht nur des »roten Imperiums« der kommunistischen Partei Chinas, sondern einer ganzen Zivilisation, auf die der Name »System des Himmelunten« oder »Tianxia-System« (tiānxià tǐxì 天下體系) nur aushilfsweise verweist? Dem steht die These gegenüber, dass China bei aller »Verwestlichung« nicht zu einem »zweiten Europa« werden kann und wird. (Schmidt-Glintzer 2009: 106)
Für Micha Brumlik ist »Kulturrelativismus« keine »vernünftige politische Option«: »Heute geht es, auf die globalisierte Welt bezogen, tatsächlich um das, was nur oberflächlich als ›Liberalismus‹ bezeichnet wird, aber etwas weit Umfassenderes, eben Menschenrechtsuniversalismus meint.« (Brumlik 2020: 90) Auch Billeter verwirft den Relativismus der Werte und Kulturen. Die »chinesische Tradition« gegen »Menschenrechte, demokratische Prinzipien und andere Elemente der politischen Tradition Europas« auszuspielen, ist für ihn Teil des »Krieges der Ideen«, die das »chinesische Regime« gegen »uns« führt. (Billeter 2020: 101) Ich möchte mich nicht auf die komplizierte Debatte über »Menschenrechte in China« (Roetz 2012) einlassen und mich auch nicht mit den weitergehenden Fragen beschäftigen, die mit dem »globalen Menschenrechtsregime der Gegenwart« (Menke / Pollmann 2008: 16) verbunden sind. Vielmehr möchte ich fragen, ob dieser »Liberalismus«, der zum ideologischen »Kampf der Weltanschauungen« aufruft, nicht in die Falle einer martialischen Bestimmung des Politischen tappt, die die Möglichkeit »friedlicher Koexistenz« tatsächlich ausschließt: »die Unterscheidung von Freund und Feind«. (Schmitt 2002: 26) Vor allem im zweiten Teil dieses Buches werde ich mich dem Problem der totalisierenden Kritik chinesischer Kunst und Kultur widmen, durch die Billeters Verständnis vom »Krieg der Ideen« zwischen China und Europa erklärt werden kann.
Brumlik wirft Zhào polemisch theoretische Nähe zu Carl Schmitt vor, ist diesem jedoch selber in entscheidender Hinsicht viel näher als Zhào, der explizit eine auf »antagonistischem Kampf« und »Freund-Feind-Unterscheidung« beruhende Bestimmung des Politischen ablehnt: »Carl Schmitt hat den Begriff des Politischen, der auf der Unterscheidung von Freund und Feind sowie dem Leben als ewigem Kampf beruht, tiefgehend interpretiert. Gleichgültig, ob es sich um den Kampf des Christentums gegen das Heidentum oder den innerchristlichen Kampf gegen Häresien, ob es sich um das Hobbes’sche ›Gesetz des Dschungels‹ oder die marxistische Theorie des Klassenkampfes handelt, ob es sich um die auf dem System der Nationalstaaten beruhende Theorie internationaler Politik oder um Huntingtons ›clash of civilisations‹ handelt, alle diese Ideen des Kampfes stehen mit dem Begriff der Freund-Feind-Politik in engem Zusammenhang. Im Gegensatz dazu beruht die begriffliche Hypothese des Himmelunten auf der Annahme, dass es einen Weg geben muss, jegliches Andere der Ordnung der Koexistenz einzuverwandeln [huàrù 化入]. Selbst wenn ein Anderer es entschieden ablehnt, dem System des Himmelunten beizutreten, gibt es notwendigerweise einen Modus der friedlichen Koexistenz […].« (Zhào 2016: 5/15–16) Und er fasst dieses »Prinzip der Koexistenz« wie folgt zusammen: »Eine Politik, die Feinde sucht, ist in Wirklichkeit das Gegenteil von Politik, denn Politik ist die Wandlung von Feind in Freund.« (Zhào 2016: 32/37)
Im Mittelpunkt von Zhào Tīngyángs begrifflicher Bestimmung des Politischen steht offensichtlich weder der »Kampf« noch die »Unterscheidung von Freund und Feind«, sondern »friedliche Koexistenz« und »Kooperation«. In der Kritik am marxistischen Klassenkampf klingt auch die Kritik am Maoismus an, sofern dieser den Begriff des Klassenkampfes mit verheerender Gewaltsamkeit auf die chinesische Realität des 20. Jahrhunderts angewandt hat – und sich dabei über die Zweifel von Sun Yat-sen und vielen konfuzianischen Intellektuellen hinweggesetzt hat, für die es im kaiserzeitlichen China eine Klassengesellschaft im marxistischen Sinne nicht gegeben hat. Dem entspricht die Tatsache, dass der Konfuzianismus als ideologische Waffe im »Kampf der Weltanschauungen« weitgehend untauglich ist. Wenn er eine politische Ideologie ist, dann weit mehr eine der Kultivierung als des Kampfes. Genau aus diesem Grund hat sich der radikale Anti-Traditionalismus chinesischer Kommunisten immer wieder rabiat gegen die Figur des Kǒngzǐ 孔子 (551–479, latinisiert: Konfuzius) und den Konfuzianismus insgesamt gewandt: für den Kampf gegen den »Feudalismus« im Inneren und den »Imperialismus« von außen erschien er ihnen viel zu schwächlich und gelehrt. Folglich gehört es zum Gründungsmythos der VR China, dass erst durch die Transformation des Marxismus in Maoismus die chinesische Modernisierung zum Kampf gegen innere und äußere Feinde fähig geworden ist. So gesehen ist es irreführend, wenn Brumlik einen »Kampf der Weltanschauungen« zwischen Liberalismus und Konfuzianismus konstruiert, denn wenn China tatsächlich einen »Krieg der Ideen« führt, stehen sich in diesem zwei ideologische Positionen gegenüber, die beide mit Europa eng verbunden sind: Liberalismus und chinesischer Marxismus. Europäische Marxisten oder Ex-Marxisten stören sich vielleicht an dem Begriff »chinesischer Marxismus« und zweifeln daran, ob dieser Marxismus überhaupt als Marxismus gelten kann. Prinzipiell ist die Antwort auf einen solchen Zweifel ähnlich wie auf den Zweifel, ob es »chinesische Philosophie« gibt: die Rede von »Marxismus« (Mǔkèsīzhǔyì 馬克思主義) in der VR China ist eine überwältigende Tatsache, die nicht durch Leugnung verschwindet. Ähnlich ist die Situation auch beim Begriff der »Demokratie«, insofern die Rede von »sozialistischer Demokratie« oder »Volksdemokratie« im Westen von vorneherein als ideologische Fassade abgetan wird, statt zumindest den Versuch zu machen, der Bedeutung von »Demokratie« (mínzhǔ 民主) im chinesischen Kontext nachzugehen. Verständlicherweise wird auf europäischer Seite in all diesen Fällen versucht, die diskursive Vorherrschaft über die Bedeutung dieser Begriffe zu verteidigen.
Ironischerweise kämpft Europa in diesem »Kampf der Weltanschauungen« in entscheidender Hinsicht gegen sich selbst: nämlich gegen einen an (Klassen-)Kampf und der »Unterscheidung von Freund und Feind« orientierten Begriff des Politischen, der weit mehr mit dem revolutionären Denken der europäischen Aufklärung als mit konfuzianischem Denken zu tun hat. In diesem Horizont begegnen sich Maoismus und Carl Schmitt und auch der Zusammenhang von Maoismus und dem daoistischen Motiv »weich ist stärker als hart« (Schickel / Schmitt 1970: 17) wird aus dieser Perspektive philosophisch verständlich. Die Rezeption marxistischer Ideologie hat chinesische Denker dazu ermächtigt, sich auf einem gewundenen Weg hybrider Modernisierung und durch eine tiefgreifende Verwestlichung hindurch gegen den westlichen Imperialismus zu wenden. Auch wenn der Konfuzianismus zum »Kampf der Weltanschauungen« weitgehend ungeeignet ist, wendet sich die Theorie vom »System des Himmelunten« aus konfuzianischer Perspektive gegen die aggressiven, um nicht zu sagen barbarischen Seiten der kommunistischen Revolution in China. Der konfuzianische Diskurs erweist sich dabei durchaus als kritische Kraft. Zhào Tīngyáng vorschnell der Rechtfertigung eines neuen chinesischen Imperialismus und Autoritarismus zu verdächtigen, scheint mir deshalb auf einer Fehleinschätzung des Verhältnisses von Marxismus und Konfuzianismus im gegenwärtigen China zu beruhen.