Читать книгу Make it a game! Der Fall Kolletzki - ein literarischer Adventskalender - FABULA VIER - Die vier Schriftgeleerten - Страница 5

2. Adventstürchen

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„Ein tiefer Fall führt oft zu hohem Glück!“, sagte Arthur, setzte sich auf seinen Stuhl und blickte Milla mit einem bübisch verschmitzten Lächeln an. Anlässlich der neuerlichen Ereignisse wollte er das Krisengespräch mit ihr jetzt schnell beenden. Es gab Wichtigeres. Eine einmalige Gelegenheit, fand er, sein kriminalistisches Gespür auf die Probe zu stellen, mit dem er vor fünfzehn Jahren in der Rolle des Thomas Magnum eine bis heute unbefriedigte Beziehung eingegangen war. Egal, ob das Magnum-Musical nun ein Flop war oder nicht - die zwei Vorstellungen seiner damaligen Laienschauspielgruppe in der Aula des Willy-Graf-Gymnasiums in Steglitz waren jedenfalls ausschlaggebend, um die Berufung als Schauspieler anzunehmen und das Studium der Literaturwissenschaften an den Nagel zu hängen. Schade nur, dass er trotz vielzähligen Vorsprechens bis heute keine Engagements als Fernseh-Kommissar bekommen hatte. Der Tatort war noch nicht reif für ihn, was an den zusehend minderwertig und inflationär besetzten Casts deutlich zu erkennen war. Den Fall Kolletzki aber würde er lösen und sich als Referenz in den Lebenslauf schreiben. Und natürlich mit Milla. Sie hatte die erforderliche Disziplin und Courage und er die unabdingbare Intuition und das Talent, jedem Verbrecher etwas vorzuspielen. Mit anderen Worten: Uwe Kolletzki, ihr Vermieter, würde nicht mal merken, dass sie gegen ihn ermittelten. Zusammen mit Milla also ein Kinderspiel! Vielleicht würde auch genau das neuen Schwung in die Beziehung bringen. Zwei Fliegen mit einer Klappe also. Seit Kolletzki von der Polizei abgeführt wurde, arbeitete es in Arthur und die Aufregung stieg. Und während sich Milla im Bad frischmachte, bereitete er in der Küche Toasts und Kaffee und das Vorhaben präzisierte sich zu ersten handfesten Schritten. Er musste sie nur noch an Bord holen. Zuletzt hatte er den kleinen, fast im Blumentopf ertränkten Weihnachtsstern zur atmosphärischen Auflockerung auf den Tisch gestellt. Der Plan fing damit an, dass er dieses Tatortabsperrband, das oben bei Kolletzki vor der Tür hängen musste, schon jetzt auszutricksen wusste.

„Ein tiefer Fall führt… Bitte was? Redest du vom Fall einer Mikrowelle oder eines Kleiderständers?“, fragte Milla, die Arthur gerade Kaffee aus der Italienischen Espressokanne eingießen wollte, sich dann aber umentschied. Sie füllte die eigene Tasse und stellte die fast leere Kanne mangels Abstellfläche mitten in die Toastkrümel auf Arthurs Teller, der sein Frühstück bereits während der Planungsphase in sich hineingestopft hatte.

„Shakespeare, Milla! Das ist ein Shakespeare-Zitat und der Fall ist ein Kri-mi-nal-fall!“, sagte Arthur. Dann hob er den Arm zu einer feierlichen Geste und fügte hinzu: „Ein tiefer Kriminalfall möge uns zu hohem Liebesglücke führen!“

„Nix da, Freundchen! Dafür ist die Polizei zuständig! Außerdem hast DU deinen Helm auf irgendeinem Schachtfeld verloren, wenn ich mich richtig erinnere!“, antwortete Milla und biss in das Toast, das Arthur mit einer zu einem Herzchen geschnittene Scheibe ihrer veganen Lieblingsmortadella belegt hatte.

„Du, den Helm finde ich schon wieder… Bestimmt schon bei der gemeinsamen Spurensicherung. Und hey, ich weiß, wie wir da oben reinkommen! Über die Terrasse. Wir haben doch den Schlüssel der Hennings zum Blumengießen!“, erwiderte Arthur enthusiastisch.

„Ich fänd’s schön, wenn du den Helm schnell wiederfindest.“ Milla schaute ihm tief in die Augen und als sie seine kindliche Begeisterung darin sah, wurde sie traurig. „Aber bitte weder auf Schlachtfeldern, auf denen es nach Nuttenparfüm riecht noch in fremden Wohnungen, die nur Probleme verheißen! Weißt du, hier spielt die Musik und wir haben uns was aufgebaut. Und ich fühl mich wohl in diesem 'Was'… mit dir!“

Arthur stockte. Es wurde ernst. Milla sah derart zerbrechlich schön aus in ihrer Traurigkeit, dass er jetzt nicht einfach weiter um seinen Plan werben konnte. Einerseits: ja, sie hatte Recht damit, dass er sie im Hier und Jetzt finden konnte - und sich selbst ebenso, da es möglicherweise ohnehin hier mehr um seine Unzufriedenheit ging. Anderseits: Sie beide könnten in einem viel aufregenderen Hier und Jetzt sein, wenn sie nur mutig genug wäre. Arthur starrte an den Lampenschirm, um sich von ihrem Blick zu befreien und war dankbar für die Fliege, die er dort entdeckte, die sich die Beinchen rieb.

„Wie wär’s, wenn wir mal wieder in den Urlaub fahren? Azoren oder so. Du wolltest doch mal mit den freilebenden Delfinen da schwimmen!“, sagte Milla und hoffte, Arthurs Blick so zurückerobern zu können.

„Naja, klar! Wäre toll!“, lächelte er sie an und verspürte zugleich eine Trauer, die er nur als Abschiedsschmerz zu deuten wusste. ‚Mr. Magnum, wir danken Ihnen, dass Sie sich den Fall so sorgfältig angeschaut haben und respektieren natürlich den Urlaubswunsch‘, hörte er die enttäuschte Stimme eines fiktiven Auftraggebers zu sich sprechen. „Für die Azoren müsste ich aber erst mal wieder ein bisschen Kasse machen!“, sagte er schließlich und stand auf. „Milla, nimm’s mir nicht übel, aber ich möchte jetzt gerne allein sein. Ich geh ne Runde um den Block. Vielleicht in den Park!“

Milla hatte ihn gehen lassen. Sie kannte und respektierte sein Alleinseinding, wie sie es nannte ohne Worte und gab ihm einen zärtlichen Kuss mit auf den Weg. Er hatte sich den übervollen Müll an der Wohnungstür geschnappt, den er dort vorhin beim Frühstückmachen in der Rolle des Vorbildpartners abgestellt hatte und ging gedankenversunken durchs Treppenhaus. Bei den Briefkästen angekommen stoppte er und stellte den Müllbeutel auf dem Boden ab. Der Briefkasten löste jedes Mal dieselbe Reaktion bei ihm aus: Hoffnung, dass der Durchbruch in Form eines Drehbuchangebotes oder gleich eines satten Schauspielvertrages hinter dem Blech des Kastens auf ihn wartete. Tatsächlich lag ein an ihn adressierter Brief darin. Eilig öffnete er das Couvert. Nach kurzem Überfliegen war klar, dass es sich nicht um eine Traumrolle handelte, aber die vierundzwanzig Tage als Weihnachtsmann für die Galeria Einkaufszentren, hatten das Potential, dass der Flug zu den Azoren möglich werden konnte. Den Vertrag sollte er heute zurückfaxen und morgen dann auch schon anfangen. Er wäre also Nachrücker. ‚Naja, nicht so wild!‘, dachte Arthur und steckte das Papier mit einem Schmunzeln in die Innentasche seines Kordmantels. Sophia, die junge Schauspielkollegin, mit der er gestern nach der Feier der Agentur Knoll auf einer Couch in einer dieser Neuköllner Szenekneipen gelandet war, erzählte ihm, dass sie den Galeria-Job als Weihnachtsengel angenommen hatte.

Arthur griff sich den Müll, ging raus in den Hinterhof und stand fassungslos vor dem… ‚Ja, das ist wirklich ein Schlachtfeld‘, dachte er. Von hier unten sah es so nah, so lebensecht aus, sofern 'lebensecht' das passende Wort war. Die Zerstörung jedenfalls, der Tod der Dinge, war zum Fassen nah. Um den massakrierten Baum herum entfernten sich Inseln der Verwüstung mit abnehmender Dichte und Größe. Eine massive Hantel hatte den Kopf einer Barbie-Puppe zermalmt und eine halbe Schallplatte steckte in einem monströs großen, zerplatzten Kaktusgewächs. Messer und Gabeln hatten sich teils in den Boden gedrückt und lagen überall, wie das Werkzeug, inmitten der wundersamen Unordnung von Kolletzkis zerkleinertem, zerborstenem und verbeultem Haushalt. Nicht mal Joseph Beuys hätte das Chaos eindringlicher in Szene setzen können. Arthur vermisste zwar das Absperrband der Polizei, es hätte dem Ganzen noch ein wenig mehr Dramatik und Einrahmung geben können wie es sich für ein ordentliches Kunstwerk gehört, aber ansonsten wirkte es auf ihn schlicht faszinierend und zugleich morbid schön - bis er die Mikrowelle erblickte.

Misstrauisch stieg er über die Überbleibsel von Kolletzkis Habschaften. Schließlich erlangte er Gewissheit: Der Aufkleber, der seitlich auf der türlosen, zerbeulten Maschine klebte, ließ jeden Zweifel schwinden und Arthur den Müll zu Boden fallen. Keine Frage: Es war seine Mikrowelle! Keine zweite würde den Violator-Aufkleber, die rote Rose des legendären Depeche Mode-Albums tragen - statistisch unmöglich und dann noch im selben Haus! Sie war nach dem Auszug aus der elterlichen Wohnung der erste Gegenstand, den er sich von seinem eigenen, im Getränkemarkt erarbeiteten Geld gekauft hatte. Und sie war ein wertvolles Erinnerungsstück an jene Zeit. „Fuck!“, sagte er und rannte ins Haus. Gefühlte Sekunden später hatte er die Kellertür geöffnet und tatsächlich: Die Mikrowelle war nicht mehr da!


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