Читать книгу Der Traum von Tibet - Fariba Vafi - Страница 10

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Du stöhnst im Schlaf. Ich gehe zu dir ans Bett und berühre deine Hand. Sie ist warm, anders als sonst. Warm, wie damals im Bus, als du meine Hand gedrückt hast. Damals waren wir unterwegs zum Basar. Auf deinen Vorschlag hin. Du hast ununterbrochen geredet. Und als wir ins Gedränge geraten sind, hast du nicht gesagt „lass uns umkehren“. Vor jedem Laden, vor dem ich stehengeblieben bin, hast auch du Halt gemacht. Hast mich nicht „Trödeltante!“ genannt. Hast dich nicht ständig um „Die Kinder, die Kinder!“ gesorgt, hast nicht mit deinem Geglucke genervt.

Mama hat erzählt: „Ich war an dem Abend, als Schiwas Schmerzen angefangen haben, zu Besuch bei den beiden. Sie haben sich seelenruhig angezogen und gesagt, sie fahren jetzt ins Krankenhaus, allen Ernstes. Ich war baff. Dass ich ruhig schlafen gehen soll, haben sie mir noch gesagt. Und ich dachte, sie fahren vielleicht ins Krankenhaus und klauen sich ein Baby. So wie die beiden hab ich jedenfalls noch niemanden zu einer Geburt aufbrechen sehen.“

Auch um Djawid hast du dich nicht gesorgt. Du hast dir überhaupt um niemanden Sorgen gemacht. Hast all die Stoffe berührt, die auch ich schön fand, und einmal hab ich mitbekommen, wie eingehend du eine Kristallschüssel betrachtet hast.

Mit dir wird Einkaufen auf dem Basar zum Vergnügen. Weil du in dem großen Markt mehr siehst als einen Ort, an dem man einkauft. Mehr als bloß eine Ansammlung von Läden, die zwar alle gleich aussehen, sich aber in ihrem Warenangebot stark unterscheiden. Dir liefert das Basargewimmel viele fantasieanregende Rätsel, und du bist nie als gewöhnliche Kundin unterwegs, sondern als Forschungsreisende und stößt im Zuge deiner Erkundungstouren auf Amüsantes, Erstaunliches, Skurriles. Auf den Verkäufer, der vergessen hat, den Reißverschluss an seiner Hose zuzumachen. Auf die Frau, die jemand den Stoffhändlern zum Vergnügen zugeteilt hat. Dir fällt der an einer Ladentür baumelnde Waschlappen ins Auge, und du hast Mitleid mit einer in all dem Überfluss stark abgemagerten Katze.

„Ich muss ein paar Sachen für Forough besorgen“, hast du gesagt. „Sie hat sie bestellt. Jedes Mal, wenn wir uns sehen, erinnert sie mich dran.“

„Warum hast du das Zeug nicht längst gekauft?“

„Für mich selbst kaufe ich sowas einfach im Laden bei uns um die Ecke, das dauert keine zwei Minuten. Madame aber findet das Zeug von dort untauglich.“

Eine Miederwarenverkäuferin hatte Büstenhalter bündelweise auf ihrem Ladentisch aufgereiht.

„Du bist ja keine Frau“, hab ich gefrotzelt.

Mama hat immer gesagt: „Selbst ich, ihre eigene Mutter, hab sie bis heute nicht ohne Kleider gesehen. Und immer hat sie Strümpfe getragen. Nicht mal vor dem Schlafengehen hat sie sich was Leichteres angezogen. Wohl für den Fall, dass sie irgendwann mal mitten in der Nacht raus auf die Straße muss.“

Ich schlafe gern nackt, im Gegensatz zu dir. Wenn meine Angst vor plötzlichen Erdbeben nicht wäre, würde ich auch mein Négligée noch ausziehen. Ich mag das Gefühl der rauen Decke auf meiner weichen Haut, wenn ich mich im Bett wälze.

„Aber Forough ist eine“, hab ich gesagt. „Jedenfalls fraulicher als du.“

„Bloß weil sie zwei Beutel Buttermilch um den Hals hat?“, hast du gekontert.

Ich musste lachen. Jedes Mal, wenn Forough mich sieht, sagt sie: „So eine tolle Figur. Ruinier sie dir bloß nicht.“ Dann legt sie sich die Hand auf die Brust, zwinkert verschmitzt vielsagend: Vollbusig kommt nie aus der Mode.

„Sie brüstet sich allzu gern damit“, fand ich.

„Jedes Mal, wenn sie mich sieht, umfasst sie ihre beiden Prachtstücke wie die Köpfe von Zwillingskindern, drückt sie und behauptet, sie würde sie jederzeit gegen so flache wie meine eintauschen.

„Dafür gehst du tief gebeugt, damit niemand dein Erbsenbrett sieht“, hab ich dir entgegengehalten. „Schau dir von deiner Schwiegermama lieber was ab.“

Woraufhin du klargestellt hast: „Ich wollte anderen immer ein Vorbild sein. Noch bin ich nicht so weit, dass ich mir von einer einfachen, affektierten Frau etwas abschaue.“

„Affektiert, wieso?“

„Komm, schnell.“

Du bist zum Bus gerannt. Hast einer Frau einen Fahrschein abgekauft, bist hinten eingestiegen, wie sich das für uns Frauen gehört, und hast dein Ticket einem Mann gegeben, der’s weitergereicht hat, bis nach vorn zum Fahrer. Du hast dich hingesetzt und hast mich am Arm gefasst. Außer Atem.

„Wir hätten auch ein Taxi nehmen können“, hab ich gesagt.

Deine Hand war heiß. Du warst anders als sonst. Heute weiß ich, mein Gefühl hat mir schon damals etwas gesagt, das ich erst Jahre später verstanden habe.

Ich hab dich gefragt, warum du so entspannt wirkst.

„Wo ist Djawid?“

„Mit den Kindern bei Sadegh.“

Als der Gelenkbus um eine Kurve fuhr, hat ein uns gegenüber sitzender Mann grundlos gelächelt.

„Endlich ist er frei.“

„Schade, dass seine Mutter das nicht mehr erlebt“, hab ich gesagt.

Djawid hat immer erzählt: „Sadeghs Mutter war uns allen eine Mutter. Eine Löwin. Früh verwitwet, hat sie ihre fünf Kinder allein großgezogen. Hat sich abgerackert, damit alle fünf studieren konnten. Zwei sind im Knast gelandet. Einer kam gar nicht mehr nach Hause. Die anderen leben im Ausland.“

„Wann ist er freigekommen?“

„Vor ein paar Tagen.“

Ich hab mir ein Ende meines Kopftuchs vor den Mund gehalten. Gegen den unerträglichen Abgasgestank.

„Ich hab ihn einmal besucht, hab mich vermummt und den Ausweis seiner Schwester gezeigt. Mir wär’s fast hochgekommen. Viel hat nicht gefehlt. Über die Luft in Haftanstalten hat bisher noch niemand berichtet. Es stinkt, als hätten Hunderte Menschen aus lauter Trostlosigkeit auf einmal gegähnt, und jemand hätte schnell alle Türen geschlossen, damit der Mief nicht rauskann. Wir waren beide verblüfft, er und ich, jeder auf seiner Seite der Scheibe. Er konnte kaum fassen, dass ich ihm draußen gegenüber saß, und ich hab mich gefragt, weshalb er dort drin sitzen muss. Hinter Mauern, Gittern, Panzerglas. Total ungerecht.“

„Und dann?“

„Dann hab ich ihm gesagt, er soll sich um seine Mutter keine Sorgen machen. Ich und Djawid besuchen sie regelmäßig. Mehr nicht. Stattdessen hat er geredet. Hat jede Sekunde genutzt. Wieder draußen, war ich beruhigt. Eine Woche drauf ist seine Mutter gestorben. Wir haben ihren Kindern die Nachricht überbracht.“

„Keines ihrer Kinder war bei ihr?“

„Nein, nur ich saß an ihrem Bett.“

Der Traum von Tibet

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