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Bildung

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Als Philipp die leeren Stuhlreihen abschritt, die Abstände kontrollierte und in Gedanken noch einmal den geplanten Ablauf des heutigen Sonntags durchging, empfand er Dankbarkeit. Dankbarkeit für seine auf zunächst zwei Jahre befristete Festanstellung. Dankbarkeit für seine 42-Stunden-Woche, für seine Renten- und Krankenversicherung, für seinen Anspruch auf Lohnfortzahlung im Krankheitsfall, auf Urlaubs- und Weihnachtsgeld. Dankbarkeit dafür, dass er das hatte, was so unspektakulär klingt, jedoch in einer modernen, arbeitsteiligen, flexiblen, individualistischen Gesellschaft so schwer zu erreichen ist: einen geregelten Tagesablauf. Auch wenn sich dieser Tagesablauf mit dem heutigen Tag wohl ein wenig ändern würde, dachte Philipp. Seit drei Monaten war er nun Angestellter in der Kindertagesstätte „Die Stadtmäuse“ in der Landeshauptstadt des bevölkerungsreichsten deutschen Bundeslandes. Bislang sah sein Tagesablauf nicht viel anders aus als der seiner nicht-akademischen Kollegen: bei Frühschicht um 7 Uhr morgens Arbeitsbeginn, Begrüßung der Kinder und Frühstück mit anschließendem Sitzkreis, dann Beaufsichtigung der spielenden Kinder, um 12 Uhr Mittagsschlaf (der Kinder, nicht der Mitarbeiter). Gegen Nachmittag widmete er sich der Büroarbeit, und danach beaufsichtigte er die dann meistens draußen spielenden Kinder, bis diese abends von ihren Eltern wieder abgeholt wurden. Wenn er Spätschicht hatte, fing er erst um 10 Uhr an und übergab abends gegen 19 Uhr die letzten Kinder an die spät von der Arbeit heimgekehrten Eltern.

Mit dem heutigen Tag sollte sich das jedoch ändern. Philipp war deshalb sehr nervös. Seine Kollegin Elif und er sollten fortan eine neue Generation von Kindergärtnern repräsentieren, die mit dem Gesetz zur Stimulanz zukünftiger Arbeitskräfte in Deutschland Einzug halten würde. Elif war Betriebswirtin, hatte nach Abschluss ihres Studiums eine Zeitlang in einer Marketingagentur gearbeitet und war von der schlechten Bezahlung, den prekären Arbeitsverhältnissen und nicht zuletzt der Sinnlosigkeit ihrer Arbeit (die darin bestanden hatte, in der gesamten Stadt möglichst unauffällig QR-Codes zu verteilen, damit diese automatisch von Smartbrillen ausgelesen wurden – eine Werbestrategie, die von AR-Fachleuten als „Augmented Spam“ bezeichnet wurde) irgendwann derartig abgestoßen, dass sie beschloss, im pädagogischen Bereich Fuß fassen zu wollen, um „irgendwas mit Menschen“ zu machen. Für zwei Jahre arbeitete sie als Honorarkraft in der Pädagogischen Ambulanz, einer Einrichtung, die nicht nur pubertierenden, frisch von zu Hause ausgerissenen Mädchen mit Drogenproblemen als Auffangbecken diente, sondern offensichtlich auch den Mitarbeitern, die zum größten Teil zu denjenigen Menschen gehörten, die sich den üblichen Karrierepfaden in der freien Wirtschaft verweigerten oder beschlossen hatten, diese zu verlassen. So hatten dort neben Elif unter anderem ein Ex-Banker und ein Ex-Logistikleiter gearbeitet, bevor die Pädagogische Ambulanz aus Gründen der Haushaltskonsolidierung ihre Einrichtung schließen musste und von zwei immerhin festangestellten Mitarbeitern als reine Beratungsstelle weitergeführt wurde.

Elif hielt sich nach ihrer Entlassung mit Gelegenheitsjobs im Gastronomiebereich über Wasser und stockte mit Arbeitslosengeld II auf, bis sie im Internet die Stellenanzeige der „Stadtmäuse“ las. Elif und Philipp hatten Glück, dass es seit Bologna 2.0 einen Mangel an ausgebildeten Pädagogen gab und das Gesetz zur Stimulanz zukünftiger Arbeitskräfte ganz bewusst auf pädagogische Quereinsteiger baute, weil es die frühkindliche Förderung auf eine neue Grundlage stellen wollte: Klassisch ausgebildete Erzieherinnen und Erzieher bauen zusammen mit hochqualifizierten Akademikerinnen und Akademikern die erste Stufe, die unsere Kinder auf dem Weg hin zu einer modernen, der globalisierten Welt angemessenen frühkindlichen Ausbildung erklimmen sollen.

„Und, schon aufgeregt?“, rief Elif Philipp zu, als sie hinter der Bühne hervorkam, wo sie die restlichen Kabel abgeklebt hatte.

„Na, schon ein wenig, und du?“, entgegnete Philipp.

„Nö.“

Du musst auch keine Rede halten, dachte Philipp. Aufgrund seines Studiums galt er als das sprachbegabte, rhetorische Aushängeschild seiner KiTa. Er sollte ab sofort für die Pressearbeit zuständig sein, die Fortschrittsberichte schreiben und mit den zuständigen Beamten korrespondieren. Elif sollte sich wegen ihrer betriebswirtschaftlichen Ausbildung um die eher technischen Aspekte des Projekts kümmern: Evaluationen erstellen und auswerten, eine Fortschrittsanalyse machen, Projektmanagement betreiben – mit anderen Worten all das tun, was sich mittels des nominalistischen Sprachstils des mäßig begabten BWLers zu unerhörter Wichtigkeit aufblasen lässt.

Philipp blendete die Uhrzeit ein. 10.26 Uhr. Noch zwanzig Minuten, bis die ersten Gäste kamen. Der holzgetäfelte Bühnenboden war geputzt, die Kabel waren verklebt, die Abstände zwischen den Sitzreihen kontrolliert, das Mikrofon war angeschlossen und gecheckt und laut den Kolleginnen waren die Kaffeekannen gefüllt. Es war alles vorbereitet.

15 Minuten später begrüßte Philipp zusammen mit Elif und Johanna, einer der älteren Kindergärtnerinnen, die ersten Eltern. Da es sich zumindest in Nordrhein-Westfalen um ein Pilotprojekt handelte, hatte die Landesregierung mit den „Stadtmäusen“ eine Kindertagesstätte ausgewählt, deren Klientel in etwa dem sozioökonomischen Landesdurchschnitt besorgter, ambitionierter Eltern entsprach: hoher Bildungsabschluss, meistens Studium, Anfang 30, beide berufstätig, zumindest einer der beiden prekär im Internetdienstleistungsgewerbe beschäftigt. Johanna bediente sich gekonnt ihrer in jahrelanger Kindergartenarbeit herangereiften Autorität, deren Insignien sie durch weite lila Wollpullover über einem stämmigen Körper unerschütterlich zur Schau stellte, und begleitete die an sonntägliche KiTa-Aufenthalte nicht gewöhnten und deshalb besonders lauten Kinder in die Aufenthaltsräume, damit sie den Ablauf des heutigen Tages nicht stören konnten.

Die besorgten Eltern nahmen vor der eigens für diesen besonderen Anlass im Turnsaal aufgebauten Bühne Platz und fieberten kaffeetrunken der Präsentation entgegen. Die aus solchen Situationen bekannte Geräuschkulisse aus klirrendem Geschirr, gurgelnden Kaffeemaschinen und gemurmeltem Austausch von Nichtigkeiten, unterbrochen von gelegentlichem lautem Auflachen, war für Philipp der Beleg dafür, dass die menschliche Arbeit, mit der er und seine Kolleginnen diesen Zustand hergestellt hatten, unsichtbar blieb. Gleichzeitig war es der Beweis, dass sie den heutigen Tag gut vorbereitet hatten, denn Mühsal, so hatte es ihm die marketingerfahrene Elif erklärt, darf in einer Dienstleistungsgesellschaft nach außen hin nie als Mühsal auftreten, sondern muss stets als mühelose Leichtigkeit erscheinen – als „reibungsloser Ablauf“, als Sieg der menschlichen Arbeit über die entropische Natur.

Nachdem alle Eltern Platz genommen hatten und mit Kaffee versorgt worden waren, galt es die Wartezeit bis zum Eintreffen der landespolitischen Prominenz zu überbrücken, deren gesellschaftlich höhere Stellung sich an der Länge der Verspätung bemaß, mit der moderne Machthaber sich ihrer Würde vergewisserten. Philipp betrat die Bühne, stellte sich vor das Mikrofon und räusperte sich. Das Gemurmel, Geklirre und Stuhlgeschiebe erstarb.

„Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich freue mich, Sie heute bei uns bei den Stadtmäusen begrüßen zu dürfen“, sagte Philipp, dem erst jetzt, wo er auf der Bühne stand und tatsächlich zu sprechen begann, auffiel, dass der Name seines Arbeitgebers dem förmlichen Einstieg in seine vorbereitete Rede eine Wendung ins Kuriose gab, was aber vielleicht gar nicht so schlecht war, weil es die staatstragende Bedeutung des heutigen Tages ein wenig abschwächte.

„Ich gebe es zu: Vor Ihnen steht ein Bekehrter“, fuhr Philipp fort. „Denn es ist gar nicht selbstverständlich, dass ich hier vor Ihnen stehe und mit Ihnen zusammen den Mentalitätswandel von der Kindertagesstätte zur Kinderdienstleistungsstätte begleiten darf. Wie vielleicht einige von Ihnen auch habe ich es selber erlebt, was es bedeutet, als Kind in eine Welt der scheinbar grenzenlosen Möglichkeiten hineingeboren zu werden, ohne zu wissen, was man wählen soll und wie man sich überhaupt entscheiden soll. Ich weiß, was es bedeutet, wenn man ständig von dem Gefühl begleitet wird, dass vielleicht noch Fähigkeiten in einem brachliegen, die nie wirklich erweckt, nie wirklich gefördert wurden. Ja, als Kind hat man so viele Träume. Der eine will Rennfahrer werden, der andere Schauspieler oder Astronaut. Die etwas reiferen Kinder wollen vielleicht Ärztin werden oder Polizist. Aber vorstellen kann man sich vieles, doch irgendwann einmal muss jeder sich entscheiden. Früher haben uns diese Entscheidung unsere Eltern abgenommen, doch heute schätzen wir unsere individuelle Freiheit, weil nur diese Freiheit uns die Möglichkeit gibt, unser tatsächliches Leistungspotenzial abzurufen, statt in ausgetretenen Pfaden leidenschaftslos auf unser Rentenalter hinzuzutrotten.“

Philipp machte eine Pause und blendete kurz seinen Redetext aus, um einen unverstellten Blick auf das Publikum zu gewinnen und sich zu vergewissern, dass er die nötige Aufmerksamkeit hatte.

„Doch was nützt uns diese Freiheit, wenn wir nicht wissen, wie wir sie einsetzen können? Wenn wir zu lange brauchen, um uns selbst und unsere Fähigkeiten kennenzulernen? Und wenn dann, wenn wir endlich wissen, was wir können, andere bereits uneinholbar an uns vorbeigezogen sind, die schon als Kind wussten, was sie können und wie sie ihre Fähigkeiten am besten einsetzen? Ich selber habe viel zu lange gebraucht, um zu entdecken, wie ich meine Fähigkeiten gewinnbringend für die Gemeinschaft einsetzen kann. Ich gehöre zu einer Generation, die in größtmöglicher Freiheit aufwuchs, und gleichzeitig gehörte ich während meines Studiums zu denjenigen, die noch nicht gänzlich von Bologna 2.0 profitiert haben und deshalb nie ein klares Ziel vor Augen hatten. Natürlich habe ich das bis zu einem gewissen Grad genossen und mir diese Freiheit und Orientierungslosigkeit schöngeredet, doch ich habe inzwischen erkannt: Freiheit ohne Orientierung, ohne Druck ist keine echte Freiheit. Und deshalb nenne ich mich einen Bekehrten – weil ich weiß, dass ich fast zum Einkommenssünder geworden wäre, aber, wenn auch spät, doch noch auf den rechten Weg gefunden habe. Ich bin dankbar dafür, dass mir unsere Regierung mit diesem Projekt die Möglichkeit gibt, gemeinsam mit Ihnen eine Zukunft zu erarbeiten, die das Wohl und die Entwicklungsmöglichkeiten unserer Kinder in den Vordergrund stellt. Damit Sie wissen, was auf Sie zukommt, wird Ihnen nun Herr Dr. Schröder von neurolingua die technischen Details des Projekts kurz erläutern.“

Philipp wartete den kurzen höflichen Applaus ab, den die Anwesenden pflichtgemäß seiner Ansprache zollten, verließ die Bühne und begrüßte einen schmal gebauten, etwa fünfzigjährigen Mann mit strähnigem Haar, der während Philipps Rede den Raum betreten hatte. Nachdem die beiden die üblichen floskelhaften Höflichkeiten ausgetauscht hatten, die sich auf die Anfahrtsschwierigkeit, das Wetter und die Umstände der Wegfindung bezogen, gab Philipp die Bühne frei für Herrn Dr. Dennis Schröder von der neurolingua GmbH, einem Unternehmen der weltweit agierenden Measure Care Group. Herr Dr. Schröder verband seine Smartbrille mit dem an der Wand angebrachten Bildschirm, blendete sein Einstellungsset ein, tippte ein wenig darauf herum und wandte sich dann an sein Publikum.

„Herr Weber hat mich ja freundlicherweise bereits vorgestellt“, begann Herr Dr. Schröder seine Rede mit der leisen, aber selbstsicheren und klaren Stimme eines Mannes, der Vorträge zu halten zwar gewohnt ist, aber keine Ambitionen hat, seine Zuhörer mehr als nötig zu fesseln oder gar die Rampensau zu spielen und ein rhetorisches Feuerwerk abzubrennen.

„Ich bin Herr Schröder von der neurolingua GmbH, und wir haben von der Bundesregierung den Auftrag bekommen, das technische Grundgerüst zu entwickeln, um das Projekt zu begleiten. Wie Sie vielleicht wissen, hat die Eurokratie bereits bei Bologna 2.0 auf die Kompetenzen von neurolingua vertraut, weshalb wir für viele Studiengänge maßgeblich bei der Gamifizierung und der Entwicklung und Durchführung der Evaluationstechniken beteiligt waren. Deshalb haben wir einige Erfahrungen in der Begleitung solcher Projekte gesammelt und freuen uns, dass wir uns in den nächsten Jahren in den Dienst der frühkindlichen Entwicklung stellen dürfen. Ich möchte Sie jetzt nicht mit technischen Details langweilen, aber Sie sollten wissen, was auf Sie und Ihre Kinder zukommt. Grafiken sagen natürlich mehr als tausend Worte, und deshalb erlaube ich mir, Ihnen ein paar harmlose Kurven und Daten zu präsentieren.“

Herr Dr. Schröder schaltete den Bildschirm ein. Zu sehen war eine Grafik, die zwei Kurven zeigte, eine rote und eine blaue, die zunächst annähernd parallel und sich teilweise überlagernd verliefen, um dann, zum rechten Ende der x-Achse hin, immer weiter auseinanderzulaufen.

„Was Sie hier sehen, sind die Ergebnisse unserer beiden Pilotprojekte in Berlin und München“, dozierte Dr. Schröder. „Die beiden Kurven bilden das Wachstum des durchschnittlichen Wortschatzes ab, den Kindergartenkinder zwischen dem dritten und dem sechsten Lebensjahr erreichen. Die rote Kurve stellt die gemittelten Ergebnisse dar, die in den fünf Jahren vor Beginn des Projekts in den beiden Pilotkindergärten gemessen wurden. Die blaue Kurve dagegen zeigt die Ergebnisse der letzten zwei Jahre, also nach Beginn des Projekts. Wie Sie sehen, verfügen Dreijährige beim Eintritt in den Kindergarten über einen aktiven Wortschatz von durchschnittlich 450 Wörtern. Hier unterscheiden sich die beiden Kurven noch nicht voneinander. Im Laufe der Zeit jedoch ergeben sich signifikante Unterschiede zwischen den projektbegleiteten Kindern und den nicht projektbegleiteten Kindern, so dass gegen Ende der Kindergartenzeit bei Letzteren der Wortschatz auf etwa 2.500 Wörter angewachsen ist, wogegen der Wortschatz der durch unser Projekt begleiteten Kinder stolze 10.000 Wörter beträgt. Wir haben Anlass zu der Vermutung, dass der hier gemessene Vorsprung in der sprachlichen Kompetenz bei einer guten Förderung in Grundschule und weiterführender Schule nur sehr schwer von den nicht projektbegleiteten Kindern aufzuholen ist, wodurch sich für die projektbegleiteten Kinder ein langfristiger Wettbewerbsvorteil auch im späteren Leben ergibt.“

Dr. Schröder blendete eine weitere Grafik ein, die jeweils drei Kurven in Rot und Blau zeigte, wobei auch hier die blauen Kurven zum Ende der x-Achse hin immer höher über den roten Kurven lagen. Auffällig war auch, dass die blauen Kurven über den gesamten Zeitraum relativ nahe beieinander lagen, die roten Kurven jedoch mit zunehmender Zeit eine immer größere Spreizung aufwiesen. Dr. Schröder gab seinem Publikum eine halbe Minute Zeit, um sich mit der Grafik vertraut zu machen, und fuhr dann mit seinem Vortrag fort.

„Sprachkompetenz ist natürlich nicht alles, und deshalb ist ein Kernelement unseres Projekts die sogenannte Entwicklungspfadanalyse, mit der rechnerische, musische, künstlerische, soziale und auch grundlegende praktische Kompetenzen gemessen und in regelmäßigen Abständen evaluiert werden. Was Sie hier sehen, sind die gemittelten Ergebnisse der Entwicklungspfadanalyse, und zwar für das untere, das mittlere und das obere Drittel der evaluierten Kinderschaft. Die roten Kurven geben dabei das Ergebnis der letzten fünf Jahre vor Projektbeginn wieder, wohingegen die blauen Kurven den Entwicklungspfad seit Projektbeginn beschreiben. Was Sie hier erkennen können, ist ein schlagender Beweis für den Erfolg unserer Potenzialausschöpfung durch das Projekt zur Stimulanz zukünftiger Arbeitskräfte unter Zugrundelegung der von uns entwickelten Entwicklungspfadanalyse. Wenn Sie sich fragen, warum die blauen Kurven eine so große Spreizung aufweisen, so ist eben dies ein Beleg für die nahezu vollständige Potenzialausschöpfung: Talent ist eben ungleich verteilt, und wenn sowohl die leistungsfähigsten als auch die weniger leistungsfähigen Mitglieder der Kinderschaft allesamt ihr Potenzial in bestmöglicher Weise nutzen, kann dies nur zur Folge haben, dass zwar der Abstand zwischen den leistungsfähigeren und den weniger leistungsfähigeren Kindern wächst, gleichzeitig aber, und dies können Sie sehr gut in der dargestellten Grafik erkennen, das Gesamtniveau eindeutig steigt, das heißt das am wenigsten leistungsfähigste Mitglied der projektbegleiteten Kinderschaft erreicht im Laufe der Projektbegleitung im Schnitt ein höheres Leistungsniveau als das leistungsfähigste Mitglied der projektunbegleiteten Kinderschaft.“

Während Dr. Schröder sein Publikum weiter in die akademischen Grundlagen des Projekts einführte, winkte Elif am anderen Ende des Raumes Philipp zu, der ihrer Gestikulation entnahm, dass die erwartete politische Prominenz mit der ihr gebührenden Verspätung endlich eingetroffen war und darauf wartete, von ihm in Empfang genommen zu werden. Philipp huschte aus dem Raum ins Foyer, wo Frau Viraa Karimi von der CDU, seit zwei Jahren Bildungsministerin des Bundeslandes Nordrhein-Westfalen, zusammen mit einem Mann von ungefähr Mitte 30 auf ihn wartete. Frau Karimi war 44 Jahre alt und das Kind iranischer Einwanderer, die vor 39 Jahren nach Deutschland gekommen waren. Sie hatte es von der Integrationsbeauftragten ihrer Partei bis zur Bildungsministerin von NRW geschafft und wurde von Presse und hauptberuflichen Politikexperten als eines der größten politischen Talente der CDU gefeiert, dem eine wichtige zukünftige Rolle innerhalb der Bundespolitik prognostiziert wurde. Den Politikexperten zufolge schlug ihr Herz jedoch weniger für die Bildung, sondern für wirtschaftspolitische Themen. Begründet wurde diese Vermutung damit, dass sie studierte Betriebswirtin war, eine Zeitlang im Unternehmen ihres Vaters (der die erste Halal-Fast-Food-Kette in Deutschland gegründet hatte und es dadurch zu einer gewissen Berühmtheit gebracht hatte) in geschäftsführender Funktion tätig war und nach ihrem Eintritt in die CDU vor 14 Jahren ursprünglich am Amt des fachpolitischen Sprechers für den Mittelstand interessiert gewesen sein soll, das die Christdemokraten jedoch auch in den 30er Jahren des 21. Jahrhunderts nach wie vor weißen, deutschen, älteren, übergewichtigen, möglichst glatzetragenden Männern vorbehielten, weshalb Frau Karimi den Umweg über den klassischen „weichen“ politischen Karriereweg für muslimische Frauen innerhalb der CDU nahm, und der führte nun einmal über das Amt der Integrationsbeauftragten, und dass dieser Weg Frau Karimi an die Spitze des landespolitischen Bildungsministeriums befördert hatte, war schon ein beachtlicher Erfolg angesichts der Ressentiments der bürgerlichen Mittelschicht gegenüber allen als „Integration“ ausgewiesenen Bestrebungen im schulischen Bereich. Wenn ein Bildungsminister und erst recht eine Bildungsministerin das Wort Integration in den Mund nahm, war dies nach Ansicht vieler Menschen nichts anderes als der Versuch, mit einem politisch korrekten Begriff Eltern darauf vorzubereiten, dass ihre schulpflichtigen Kinder in den fragwürdigen Genuss geringerer schulischer Anforderungen kommen würden. Vielleicht aus diesem Grund hütete sich Frau Karimi davor, das Wort Integration bei öffentlichen Auftritten in den Mund zu nehmen. Philipp vermutete, dass Frau Karimi das Gesetz zur Stimulanz zukünftiger Arbeitskräfte als eine mehr als willkommene Gelegenheit betrachtete, um ihre integrationspolitischen Anfänge hinter sich zu lassen und als bildungspolitische Realistin aufzutreten, die mit neuen Ideen mutig in die Zukunft blickt und sich den gestiegenen Herausforderungen an Bildung und Ausbildung auf den Arbeitsmärkten stellt.

Zumindest so oder so ähnlich hätte es wohl Frau Karimis Pressesprecher formuliert, der, so Philipps Vermutung, die männliche Begleitung von Frau Karimi stellte. Die Bildungsministerin strahlte Philipp an, als sie sich die Hand gaben.

„Herr Weber, schön Sie endlich einmal persönlich kennenzulernen!“, sagte sie, während sie einen für eine relativ zarte Frau erstaunlich festen Händedruck offenbarte. „Darf ich vorstellen, das ist Herr Sandkuhl, mein Pressesprecher, mit dem Sie bereits über Mail Kontakt hatten. Ich hoffe, ich habe Sie nicht zu lange warten lassen, aber mein vorheriger Termin hat leider etwas länger gedauert als erwartet.“

„Kein Problem“, bestätigte Philipp pflichtgemäß. „Herr Dr. Schröder spricht gerade noch. Wenn Sie sich beeilen, bekommen Sie das Fazit seines Vortrags noch mit.“

„Gerne, gerne“, sagte Frau Karimi und eilte mit ihrem Pressesprecher in den Raum. Dr. Schröder hatte seinen Vortrag inzwischen doch schon beendet und war gerade dabei, sich abschließend den Fragen der besorgten Eltern zu stellen.

„… Ihre Skepsis verstehen. Aber es kann keineswegs davon die Rede sein, dass wir Ihrem Kind die Kindheit, was auch immer genau wir darunter verstehen, wegnehmen wollen. Unsere Evaluierungsmethoden sind absolut kindgerecht, denn es geht um den spielerischen Umgang mit zukünftigen Herausforderungen. Und zum Spiel gehören nun einmal Regeln und Gewinner und Verlierer. Wir haben schließlich bereits Erfahrungen mit dem Gamifizierungskonzept für die Verbesserung der universitären Lehre im Rahmen von Bologna 2.0 gesammelt. Ich würde sogar behaupten, das Studium ist dadurch menschlicher, nämlich spielerischer geworden. Anstatt der intransparenten Notengebung eines Professors haben Sie jetzt Spielregeln, Punkte, Levelaufstiege – also genau das, was Ihnen bereits im Kindesalter Vergnügen bereitet hat. Und falls Sie das nicht überzeugt, dann versetzen Sie sich doch einmal in die zukünftige Situation Ihres Kindes. Glauben Sie, Sie haben das Recht, Ihrem Kind die vollständige Entwicklung seines Potenzials vorzuenthalten? Natürlich ist es Ihr Kind, aber es geht hier doch um die Zukunft, und in der Zukunft ist Ihr Kind eben nicht mehr Ihr Kind, sondern ein autonomer Mensch, der selbstständige Entscheidungen trifft, und dieser Mensch kann nur dann vollständig autonom sein, wenn er sein tatsächliches Potenzial abrufen kann und nicht das Gefühl hat, aufgrund von Versäumnissen in der Vergangenheit ein Leben zu führen, in dem ständig Möglichkeiten brachliegen, die von ihm niemals wahrgenommen werden. Denken Sie einmal darüber nach, was es für Sie bedeutet hätte, wenn Sie als Kind die Gelegenheit erhalten hätten, Teil eines solchen Projektes zu sein. Denken Sie an die unentdeckten Möglichkeiten, die in Ihnen selber schlummern und die leider niemals geweckt worden sind!“

Dr. Schröder hatte inzwischen registriert, dass Frau Karimi anwesend war.

„Aber wie ich sehe, ist inzwischen Frau Karimi eingetroffen. Nun, ich hoffe, ich habe Sie nicht allzu sehr gelangweilt mit meinen vielleicht etwas akademischen Ausführungen. Ich danke Ihnen auf jeden Fall für Ihre Aufmerksamkeit und möchte Sie nicht noch weiter warten lassen.“

Mit diesen Worten gab Dr. Schröder die Bühne frei für den prominentesten Gast des heutigen Nachmittages. Frau Karimi schüttelte Dr. Schröder die Hand, tauschte einige Dankesfloskeln mit ihm aus, betrat die Bühne und trug ihre Rede in der für sie typischen Art vor, die sogar von ihren politischen Gegnern anerkennend als unprätentiös und nüchtern beschrieben wurde.

„Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich freue mich sehr, die Ehre zu haben, gemeinsam mit Ihnen den Start unseres neuen Projekts zu feiern, das die Vorgaben des von der Bundesregierung vor zwei Jahren verabschiedeten Gesetzes zur Stimulanz zukünftiger Arbeitskräfte umsetzen soll. Mit diesem Gesetz nimmt sich Deutschland des Problems der zukünftigen Herausforderungen frühkindlicher Bildung zum ersten Mal auf Bundesebene an. Dies kommt nicht von ungefähr. Wie Sie wissen, nimmt der globale Wettbewerb zu, und aus diesem Grund müssen wir in der Eurokratie die Bildungsstandortfähigkeit stärken und die Bildungsgesetzgebung europaweit harmonisieren, denn Bildung ist, zusammen mit weiteren Strukturreformen, der Schlüssel zu mehr Wachstum in Europa. Gleichzeitig muss der Staat seinen Haushalt konsolidieren, und zu diesem Etat gehören eben auch die Ausgaben für Bildung. Zwar müssen wir die Qualität der Bildung verbessern und dazu auch investieren, jedoch darf dies nicht zulasten der künftigen Generationen gehen. Lassen Sie mich deshalb das Projekt, an dem Ihre Kinderschaft teilhaben wird, ein wenig in den internationalen Zusammenhang einordnen:

Wir haben ein Jahr hinter uns, in dem das Wirtschaftswachstum in fast allen Industrieländern relativ gering ausgefallen ist. Die Weltwirtschaft ist in 2040 insgesamt gerade einmal um ein Prozent gewachsen. Wenn wir von den Krisenjahren 2032 und 2033 absehen, dann ist dieser Wert der schwächste seit zehn Jahren. Ich bin mir wohl bewusst, dass die Lage in der Eurokratie einen Beitrag dazu geleistet hat, dass das Weltwirtschaftswachstum doch sehr überschaubar war. Das hatte vor allen Dingen mit Fragen des Vertrauens, mit Ängsten, die es auch gegeben hat, zu tun. Es kommt aber auch auf die Frage an, wie groß die Reformbereitschaft ist.

Wir wollen in Europa – und darüber sind wir uns in der Eurokratie auch einig – die Wirtschafts- und Währungsunion zu einer Bildungsunion fortentwickeln. Das ist das Gegenteil von einer kurzfristigen Notoperation. Es ist vielmehr ein dauerhaft angelegter Weg – ein Weg, dessen Leitplanken Strukturreformen für mehr Bildungstandortfähigkeit auf der einen Seite und Konsolidierung der Ausgaben für Bildung auf der anderen Seite sind.

Die Situation, in der wir uns im Augenblick befinden, ist eigentlich dadurch gekennzeichnet, dass der Faktor Zeit eine bestimmte Rolle spielt. Wir haben Konsolidierungsmaßnahmen und, zuletzt mit Bologna 2.0., eine Vielzahl von Strukturreformen auf den Weg gebracht. Wir wissen aber, dass die Wirkkraft der Strukturreformen und der Haushaltskonsolidierung später eintritt und nicht bereits mit Einführung der Maßnahmen.

Jetzt gilt es diesen Faktor Zeit zu nutzen, damit die politische Situation nicht so eskaliert, dass daraus wieder Instabilitäten entstehen. Das heißt also, wenn wir zum Beispiel in Spanien, Portugal, Frankreich, Italien oder Griechenland eine Arbeitslosigkeit von über 50 Prozent, vielleicht sogar 60 Prozent bei jungen Menschen haben, dann muss es unsere Hauptaufgabe sein, Perspektiven aufzuzeigen, bis die Bildungsreformen wirken.

Ich stelle mir das so vor, dass wir einen Pakt für Bildungsstandortfähigkeit beschließen, in dem die Nationalstaaten Abkommen und Verträge mit der EU-Kommission schließen, in denen sie sich jeweils verpflichten, Elemente der Bildungstandortfähigkeit zu verbessern, die in diesen Ländern noch nicht dem notwendigen Stand der Bildungstandortfähigkeit entsprechen. Diese Verträge müssen dann verbindlich sein, so dass wir feststellen können, inwieweit sich im Euroraum die Bildungstandortfähigkeit verbessert.

Europa hat heute noch etwa fünf Prozent der Weltbevölkerung. Europa wird, wenn das Wirtschaftswachstum wieder etwas in Gang kommt, vielleicht wieder knapp 20 Prozent des Weltinlandsprodukts haben. Gleichzeitig hat Europa annähernd 60 Prozent der Sozialausgaben der Welt. Das heißt, wir können unseren Wohlstand wirklich nur dann halten, wenn wir innovativ sind und wenn wir uns an den Besten orientieren …“

Während Frau Karimis Rede breitete sich in Philipp ein Gefühl der Erleichterung aus darüber, dass er den schwierigsten Teil des Tages hinter sich gebracht hatte und sich nun endlich fallen lassen konnte. Er wusste, dass Frau Karimi ihre Zuhörer nicht enttäuschen würde, auch wenn die meisten nicht auf den Inhalt ihrer Worte achteten. Aber die Art, wie sie etwas sagte, gab Philipp ein Gefühl der Geborgenheit, fast als würde er im Schoße seiner Mutter sitzen, während die Worte „Bildungsstandortfähigkeit“, „Haushaltskonsolidierung“, „Wachstum“, „Innovationsfähigkeit“ und „Wettbewerbsfähigkeit“ wie Spielzeugfiguren an den Fäden eines immer schneller kreiselnden Mobiles an ihm vorbeizogen und ihn langsam in einen geradezu hypnotischen Zustand hineintrugen. Frau Karimis Utopie einer durch Bildungsstandortfähigkeit und Haushaltskonsolidierung zusammengewachsenen Eurokratie strahlte wie ein stabiles Leuchtfeuer am Ende des dunklen Tunnels von Rezession und Deflation. Philipp lehnte sich zurück und ließ sich von den Worten der Bildungsministerin in einen sanften Schlaf treiben. Er war glücklich.


Lücken im Lebenslauf

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