Читать книгу Lücken im Lebenslauf - Felix Böttger - Страница 6
Wachstum
ОглавлениеEs gab eine Zeit, da wäre ein Mann wie Philipp in seinem Beruf ein Kuriosum gewesen. Heute war er immerhin noch eine Ausnahmeerscheinung, die sich in einer sanft mahnenden, zugleich immer warnenden, jedoch nicht allzu strengen, oftmals nach Weichspüler duftenden, bisweilen weite Wollpullover tragenden (damit Übergewicht kaschierenden), kurzum weiblichen Welt behaupten musste. Philipps Berufswahl hatte ihn in eine Welt geführt, um die die meisten Männer in einer früheren Zeit stets einen großen Bogen gemacht hatten: die der Kindergärten.
Vielleicht hätte man zu einer längst verblichenen Zeit Philipp Neigungen unterstellt, die gesellschaftlich geächtet waren, zumindest hätte er sich für seinen Beruf rechtfertigen müssen. Nur bei einigen progressiv eingestellten Frauen hätte er bereits damals Anerkennung gefunden, ja vielleicht hätte ihm seine Berufswahl sogar einen Vorteil bei der Partnersuche verschafft – als Vorhut des neuen Mannes, der bereitwillig die Hälfte des Haushalts und der Kindererziehung übernimmt und sich als einziges Zugeständnis an seine Rest-Männlichkeit einen Dreitagebart wachsen lässt, der allen frischgebackenen Vätern einen ungeahnten Sexappeal zu verleihen vermag, vermöge des herzergreifenden Kontrastes zwischen bärtiger Stoppeligkeit und rosiger Haut des Neugeborenen, das beim Einkaufen verschlafen aus dem über die männliche Brust geschnallten Tragegurt herausschaut und nicht ahnt, dass alle jüngeren Frauen in Papas Umgebung dahinschmelzen angesichts dieser Zurschaustellung mütterlicher Männlichkeit.
Doch es wäre zu viel gesagt, wenn man Philipps Beruf als seinen Traumberuf bezeichnen würde. Vor zehn Jahren, zu Beginn seines Studiums, wäre Philipp die Vorstellung, seinen derzeitigen Beruf auszuüben, wie eine Niederlage vorgekommen, wie eine Verhöhnung seines Lebensweges, seiner Begabung, seiner Träume und Ambitionen. Heute empfand er morgens, wenn er sich auf den Weg zur Arbeit machte, vor allem eines: Dankbarkeit.
Philipp hatte Sprachwissenschaft und Ethnologie studiert, hauptsächlich weil er nach dem Abitur wie so viele seiner Altersgenossen nicht die geringste Ahnung hatte, was er später beruflich machen wollte. Seine Eltern, ein Lehrerehepaar, ließen ihm da gänzlich freie Wahl, und weil Philipp zwar studieren, aber auf keinen Fall das Gleiche wie seine Eltern machen wollte, wusste er nur, dass für ihn ein Lehramtsstudium nicht infrage kam. Philipp hatte eine gewisse sprachliche Begabung und interessierte sich für Bücher, insofern wäre ein Germanistikstudium in die engere Auswahl gekommen. Gleichzeitig spürte er eine abstrakte Sehnsucht nach Abenteuern und fremden Kulturen, zumindest las er gerne darüber, und nach der Lektüre einiger populärwissenschaftlicher Sachbücher des amerikanischen Anthropologen Jared Diamond vergnügte er sich mit Tagträumen, in denen er sich in einer zeitlich nicht genau eingegrenzten Zukunft in irgendeinem nicht näher lokalisierbaren Inselstaat als Ethnologe mit der Machete durch den Dschungel schlug, um zurück am heimischen Schreibtisch (den er sich trotz Digitalisierung und IKEAlisierung aus robustem, dunkelbraunen Holz vorstellte, auf dem zahlreiche mit Kugelschreiber oder noch besser Tintenfüller vollgekritzelte Papierblätter herumlagen) mit der sprachwissenschaftlichen Schärfe seiner Analysen eine Schneise der Erkenntnis durch das Gebrabbel bislang ungehörter Stimmen zu öffnen.
In Philipps Imagination vereinte der Beruf des Ethnologen zwei Welten: einerseits die wissenschaftliche Strenge und andererseits den süßen Geruch nach Abenteuer, dessen Verlockungen Philipp bereits seit Kindesbeinen an, unter anderem durch den Konsum etlicher Star-Trek-Folgen, erlegen war. Anders als viele seiner Kommilitonen, die BWL, Jura oder ein sonstiges, allein auf spätere finanzielle Einkünfte ausgerichtetes Fach studierten, war Philipp ein begeisterter Student. Zu seinem Bedauern jedoch war auch das Studium der Sprachwissenschaft und Ethnologie von den Reformen durch Bologna 2.0 nicht verschont geblieben, was bedeutete, dass das althergebrachte Creditpointsystem durch ein Level- und Checkpointsystem ergänzt worden war, zu denen sich später mit Bologna 2.1 sogenannte Achievements hinzugesellten, die für bestimmte Extraleistungen („Erreiche bei der nächsten Klausur 10 Prozent mehr Punkte als dein Sitznachbar“) verliehen wurden. Allerdings hatten sich die Dozenten in Philipps Fachbereich eine, wie sie es selber nannten, „kritische Distanz“ zur allgegenwärtigen Gamifizierung der Studienwelt bewahrt und stellten dieser die „Freiheit von Lehre und Studium“ entgegen, wobei sie ihre Studenten gerade deshalb besonders wertschätzen, weil selbige bei der Wahl ihres Studienfachs von beruflichen Ambitionen abgesehen hatten (ansonsten wäre die Fächerwahl wohl anders ausgefallen).
Philipp fühlte sich bei solchen Ansprachen wie einer der letzten freien Denker der westlichen Welt, der die Dinge noch aus eigenem Antrieb tat und dabei ganz im Inhalt seines Studiums aufging, anstatt dieses lediglich als Eintrittskarte in eine Welt zu sehen, die aus beruflichen und finanziellen Zwängen bestand. Er interessierte sich tatsächlich für sein Studium, und anders als seine Kommilitonen aus anderen Fachbereichen redete er während der Freistunden oder auf dem Weg zur Uni mit seinen Mitstudenten nicht darüber, wie viele Creditpoints es bis zum nächsten Level braucht und auf welcher Stufe man seinen Checkpoint setzen sollte, um einer möglichen Rückstufung nach der nächsten Klausur zu entgehen – nein, Philipp diskutierte tatsächlich über den Inhalt seines Studium, über die Zeichenlehre Saussures, über Marcel Mauss‘ Theorie der Gabe oder die kulturübergreifenden Gemeinsamkeiten im Inzestverbot. Auch Philipps Prüfungsleistungen konnten sich sehen lassen: Er erzielte in einigen Klausuren fast die perfekte Punktzahl und sah sich in einigen Jahren bereits auf einem Lehrstuhl in Sprachwissenschaft oder Ethnologie sitzen und bis an sein Lebensende anregende Diskussionen mit seinen Studenten und Kollegen führen, Fachartikel und Bücher veröffentlichen und anthropologische Feldforschung betreiben.
Ach ja, die Feldforschung. Auch wenn Philipp sich vor seinem geistigen Auge ausmalte, wie er als unerschrockener Ethnologe Kontakte mit fremden Völkern in Papua-Neuguinea oder Madagaskar knüpft, dort neue Freunde findet und ganz selbstverständlich mit ihnen auf die Jagd geht, um später von seinen Feldforschungen nicht nur der wissenschaftlichen Gemeinde, sondern auch einer interessierten Öffentlichkeit zu berichten, so musste sich Philipp im Laufe seines Studiums, als das verpflichtende Praxissemester wie ein widerspenstiger, unausweichlicher Block von Realität im Raume stand, eingestehen, dass er im Grunde seines Herzens ein Schisser war. In seiner Fantasie, die sich seinen Wünschen widerstandslos zu fügen pflegte, war er der kühne Ethnologe, der darauf brannte, mehrere Monate lang mit wildfremden Menschen in einer völlig unbekannten, ja teils feindlichen Umgebung zu leben. Doch als es so weit war und er sich ganz konkret um einen Praktikumsplatz kümmern musste, brachte er bereitwillig sämtliche Argumente in Stellung, die gegen eine ethnologische Feldforschungsübung in Kenia, Bali, Madagaskar oder auch nur in einem sibirischen Dorf sprachen: zu weit, zu aufwendig, zu teuer, am Ende leidet noch das Studium und außerdem könne er das im Rahmen seiner angestrebten Promotion doch immer noch nachholen.
Letzten Endes bewarb sich Philipp beim Büro für Migration und Flüchtlinge der Stadt Köln – seinem Heimat- und Studienort.
Anstatt mit den Ureinwohnern von Papua-Neuguinea auf die Jagd zu gehen, mit ihnen abends gemeinsam ums Lagerfeuer zu sitzen und sich Geschichten über andere Sitten und fremde Götter anzuhören, musste Philipp nun gegen störrische Beamte, streikende Kaffeemaschinen, leere Druckertoner und genervte Anrufer kämpfen. Sein Praktikumsplatz hatte ihn an den Schreibtisch verbannt, wo er Anfragen zu Integrationskursen beantwortete und verarbeitete – falls überhaupt etwas zu tun war. Meistens saß er vor seinem Schreibtisch und dankte Gott dafür, dass es das Internet gab. Früher hätte er in einer solchen Situation aus dem Fenster starren und vor sich hinträumen müssen, im Jahr 2028 dagegen konnte er auf einen Bildschirm starren und das Träumen dem World Wide Web überlassen, dieser gewaltigen Assoziations- und Standardisierungsmaschine. Vielleicht aufgrund einer stillschweigenden Übereinkunft schien es an Philipps Arbeitsplatz niemanden zu stören, wenn er stundenlang privat surfte. Immerhin gab ihm dies die Möglichkeit, Beschäftigtsein zu simulieren, wenngleich unterschwellig ein schlechtes Gewissen an ihm nagte, dass er auf diese Art und Weise sinnlos Arbeitszeit verplemperte. Wenn Philipp tatsächlich etwas zu tun hatte, gewöhnte er sich an, sich möglichst viel Zeit zu lassen mit der Bearbeitung der Unterlagen, die auch im 21. Jahrhundert erstaunlich oft genug auf dem Postweg bei seinem Arbeitgeber eintrafen. Auf diese Weise schuf Philipp sich ein Alibi, auf das er für eine gewisse Zeit zurückgreifen konnte, um geschäftig zu wirken, wenn seine Vorgesetzten an seinem Arbeitsplatz vorbeischauten. Andererseits war er nicht der Einzige, der diese Strategie verfolgte, wie Philipp im Laufe der sechs Monate, die er hier absitzen musste, feststellte. Vielleicht, so dachte Philipp, waren sich auch die Vorgesetzten im Klaren darüber, dass es schlicht und ergreifend nicht genug zu tun gab. Vielleicht waren sogar seine Chefs selber von dieser Misere betroffen und hatten die Arbeitssimulation zur Perfektion gebracht? Ja vielleicht, so Philipps weiterer Gedankengang, simulierte der Großteil der gesamten westlichen Welt Arbeit – vielleicht befinden wir uns alle in einer gewaltigen Arbeitssimulationsmaschine und spielen uns ähnlich wie der nackte Kaiser und seine Untertanen in dem berühmten Märchen von des Kaisers neuen Kleidern lediglich etwas vor, nämlich stets beschäftigt, wichtig, gehetzt zu sein, weil wir uns die Leere und Sinnlosigkeit unserer „Beschäftigung“ nicht eingestehen wollen? Der Sprachwissenschaftler in Philipp begann zu erkennen, dass eine gewisse Wahrheit in dem Satz lag: Wir arbeiten nicht, sondern werden beschäftigt. Und nahm sich vor, der Herkunft des Begriffs „Beschäftigung“ nachzuspüren.
Zumindest nutzte Philipp die Gelegenheit, um sich im Internet in allerlei abseitigen verschwörungstheoretischen Foren herumzutreiben. Was es da nicht alles gab! Einerseits die nimmermüden Klassiker wie Nine eleven, Mondlandung, Chemtrails und AIDS-Verschwörung, die sich nach wie vor großer Beliebtheit erfreuten. Andererseits gab es auch etliche jüngere Theorien, allesamt faszinierende Beispiele dafür, mit welcher Hingabe insbesondere Männer die verrücktesten Ideen zu einem konsistenten gedanklichen Konstrukt ausarbeiten können. In den letzten Jahren hinzugekommen war etwa die Theorie, wonach das Weihnachtsfest erst vor einigen Hundert Jahren von den Illuminaten oder, in der antisemitischen Variante der Erzählung, von einer jüdischen Finanzelite erfunden worden sei, um die Menschen bereits in jungen Jahren an das heraufkommende Konsumzeitalter zu gewöhnen. Demnach hatte Weihnachten nie etwas mit Jesu Geburt zu tun (diesbezügliche Herleitungen sind im Nachhinein gefälscht, waren sich die Verschwörungstheoretiker sicher), sondern diente lediglich der Züchtung einer neuen Menschheit, der man im Kindesalter in Form von mit religiösem Tamtam gesellschaftsfähig gemachten Weihnachtsgeschenken einen ersten kostenlosen Schuss der zukünftig zu begehrenden Droge – nämlich Konsum – verabreicht, um den solcherart abhängig Gemachten in späteren Jahren nur noch gegen Geld das konsumistische Bedarfsgut zu gewähren und jene damit zu folgsamen Arbeitskräften zu erziehen.
Die Vertreter einer anderen Verschwörungstheorie erzählten ihren Jüngern, dass der Einbruch des chinesischen Wirtschaftswachstums, der den ökonomischen Siegeszug der eine Zeitlang führenden Wirtschaftsmacht vor einigen Jahren ziemlich abrupt beendet hatte, auf ein Komplott der amerikanischen Regierung zurückzuführen sei. Deren pazifistisch-ökologische Ideologie sei lediglich die Fassade, hinter der sich weiterhin das alte Amerika verberge: ein weltmachthungriger, kapitalistischer Schläfer, der nur darauf warte, wieder zu alter Größe aufzuerstehen, und deshalb nach möglichen Wegen suche, seine neuen Konkurrenten auf dem Markt der Großmächte auszustechen. Einige vertraten dabei eine USA-freundlichere Variante der Theorie, wonach die Amerikaner heute ernsthaft von der Überlegenheit ihres neuen Lebensstils überzeugt seien (genauso wie sie früher von der Überlegenheit des klassischen American Way of Live überzeugt waren), sich mithin tatsächlich zu pazifistischen, Bio-Joghurt schlürfenden, Gemüse anbauenden, Car-sharenden Linksliberalen gewandelt hätten und nun versuchten, die kapitalistische Weltmacht China in ihre Schranken zu verweisen, damit diese nicht dieselben Fehler wiederhole wie das alte Amerika. Beiden Varianten der Erzählung war gemeinsam, dass sie nicht ohne eine bemerkenswerte Anzahl verrückter Wissenschaftler auskamen, die in einem Geheimlabor in den USA in jahrelanger Arbeit ein Virus gezüchtet haben sollen, das jedem Infizierten den Mut, die Schaffenskraft und die Intelligenz raubt und dadurch jeden aufstrebenden Unternehmerstar in Windeseile zu einem depressiven, ängstlichen und sicherheitsbedürftigen Low-Performer macht. Und dieses Virus habe man unter dem Kommando der CIA vor etlichen Jahren in die Trinkwasserversorgung Chinas eingespeist, woraufhin es sich unbemerkt ausgebreitet habe, um genau in dem historischen Moment, in dem sich die chinesische Wirtschaft von einer Produktions- in eine Dienstleistungsgesellschaft zu wandeln im Begriff war, die menschlichen Ressourcen des Landes zu attackieren und dadurch zu einem unerhörten Einbruch des Wirtschaftswachstums innerhalb von drei Jahren – in der jüngeren Geschichte unter dem Begriff Drachenwende bekannt – zu führen.
Philipp fiel es einerseits schwer, sich dem Bann dieser Theorien zu entziehen, gleichzeitig versuchte er diese auch immer mit dem distanzierten Blick des soziologisch geschulten, angehenden Wissenschaftlers zu betrachten, und so erstellte er nach einigen Recherchen in diversen Foren erste Ansätze einer allgemeinen Typologie von Verschwörungstheorien, nur um nach weiteren Recherchen festzustellen, dass es so etwas schon längst gab., was ihm erneut die Nutzlosigkeit seines Praktikums vor Augen führte. Letzten Endes also wusste Philipp, dass er seine Zeit verplemperte, wenn er stundenlang das auf Dauer immer gleiche Lamentieren in den einschlägigen Foren der Verschwörungstheoretiker verfolgte, aber wenigstens hatte er dadurch seinen soziologischen Blick trainiert und die ersten Erfahrungen in der Welt moderner Arbeitssimulation gemacht.
Nach dieser Episode sammelte Philipp die restlichen Creditpoints, die ihm den Aufstieg zum Bachelor und schließlich Master ermöglichten. Seine Abschlussarbeit war weder eine Feldforschungsstudie noch eine statistische Auswertung irgendwelcher noch nie ausgewerteter Fakten, sondern eine rein theoretische Arbeit zur Analyse der sozialen Konstruktion von Alterität, Differenz und Identität mittels der linguistischen Hermeneutik des Missverstehens. Kein Thema, mit dem man Fachfremde beeindrucken konnte. Seine Gutachter jedoch schienen durchweg beeindruckt und gaben ihm die Bestnote für sein Werk, was Philipp in seinem Vorhaben bestärkte, seine akademische Karriere mit einer Promotion fortzusetzen. Seine Mutter stand wie all die Jahre zuvor bedingungslos zu seiner Entscheidung, sein Vater jedoch erlaubte sich erste Zweifel daran, ob Philipps Lebensweg für eine wirtschaftlich solide und damit moralisch einwandfreie Zukunft taugte.
„Du solltest dir schon darüber im Klaren sein, dass du irgendwann auch mal Geld verdienen musst“, sagte er. Philipp versuchte ihm daraufhin klarzumachen, dass eine akademische Karriere einen langen Atem brauche, aber eine Uni-Professur eine top bezahlte Position sei.
„Mein Junge, ich kenne so viele, die im akademischen Mittelbau versumpft sind und sich von einem befristeten Vertrag zum nächsten hangeln. Das war zu meiner Zeit so und ist heute nicht viel anders! Überleg dir zweimal, ob eine Promotion wirklich das Richtige ist, bevor du zum Einkommenssünder wirst!“ So die Reaktion des Vaters, die in geradezu klassischer Manier vorhersehbare Besorgnis äußerte und damit auf ebenso klassische, ebenso vorhersehbare Weise auf Gegenwehr traf. Diese bestand darin, dass Philipp sich eines Arguments bediente, das ihn als letzten Angehörigen einer aussterbenden Art auswies, nämlich als Mitglied eines Fachbereichs, der sich zu Bologna 2.0 eine kritische Distanz bewahrt hatte und trotz aller Unterschiede eine Gemeinsamkeit aufwies mit den von Philipp so eifrig analysierten verschwörungstheoretischen Foren: Ebenso wie Letztere stellte die philosophische Fakultät, der Philipps Fachbereich angehörte, einen Raum bereit, in dem die absonderlichsten Gedanken in weltverlassener Reinheit vor sich hinblühen konnten. Und einer dieser absonderlichen Gedanken war folgender: Sein Vater müsse bedenken, so Philipp, dass man Dinge auch um ihrer selbst willen tun müsse, wenn man wirklich Erfolg haben wolle. In seiner Masterarbeit seien einige Fragen entstanden, die es noch zu klären gelte, und neue Fäden seien gesponnen, die zu Ende geknüpft werden müssten. Er könne jetzt nicht einfach von der Uni gehen und diese Themen im Stich lassen, und auch wenn kein direkter praktischer Nutzen daraus folge, so liege doch der Nutzen in der Sache selbst, was sich jedoch langfristig positiv auch auf den beruflichen Erfolg des selbstzweckhaft Handelnden auswirken werde.
Damit war es Philipp gelungen, seine Flucht vor den Zumutungen eines Bewerbungsmarathons auf dialektische Weise mit der Aussicht auf finanzielle Höhenflüge zu versöhnen. Sein Vater, der einer der letzten Vertreter des ausgedünnten Bildungsbürgertums war, hatte keine Lust, dem noch etwas entgegenzusetzen, weil er merkte, dass er sich nicht der gleichen Argumente bedienen wollte wie die Vertreter der ersten Bologna-Reform, die er mit seinen Mitstreitern damals während seines eigenen Studiums ein Semester lang versucht hatte zu bekämpfen, bis sein Widerstand von der verständnisvollen Passivität der damals Regierungsverantwortung tragenden Alt-68er-Generation zu Tode geherzt wurde – es war die erste Politikergeneration, die begriffen hatte, dass die perfekte Staatsmacht die Tür genau dann ganz weit öffnet, wenn der Mob schnaubend vor ihr steht und Anlauf nimmt, um sie einzutreten.
Seufzend stimmte sein Vater Philipps Plänen zu und gewährte ihm weitere finanzielle Unterstützung. Philipps Pläne nahmen auf vorhersehbare Weise ihren Lauf: Er brauchte fast zwei Semester, um ein Exposé für seine Doktorarbeit (vorläufiger Titel: „Das Aneinander-Vorbeireden als Basis interkultureller Kommunikation“) einzureichen. Nach zwei weiteren Semestern hatte er genug Literatur gesammelt, um aus der ersten groben Gliederung etwas zu machen, das er „vorläufige Gliederung“ nannte. Während dieser Zeit der Prokrastination wuchs das schlechte Gewissen in Philipp, und nachdem er zu Beginn seiner Forschungen auf die Frage „Was machst du zurzeit?“ mit einigem Stolz geantwortet hatte „Ich schreibe an meiner Doktorarbeit!“, wurde ihm nach und nach die im Laufe der Jahre seitens seiner Freunde und Kommilitonen zur Gewohnheit gewordene Frage „Na, was macht die Doktorarbeit?“ zur unerträglichen Last. Als auch sein Vater allmählich die Geduld zu verlieren begann und damit drohte, den Geldhahn zuzudrehen, und weil ohnehin die Zwangsexmatrikulation aufgrund der zu langen Zeit als Promotionsstudent immer näher rückte, musste Philipp sich eingestehen, dass er sechs Semester, sprich drei Jahre lang, nahezu ergebnislos vor sich hingelebt hatte, und er erkannte, dass in der ganzen Zeit, die er mit Studium und Promotion verbracht hatte, ein riesiger Haufen widerborstiger, kantiger, sich nicht seinen Wünschen und Träumen fügender Realität aufgeschüttet worden war, der nun zwischen ihm und einer halbwegs erträglichen Zukunft lag. Dieser Haufen drang nun allmählich in das Gebälk seines Luftschlosses ein, und zwar in Form all der kleinen Drohungen und schwer zu ignorierenden Zumutungen, mit denen die moderne Gesellschaft ihre Mitglieder daran erinnert, ihre Existenz in irgendeiner Weise zu rechtfertigen.
Wieso bist du eigentlich hier? rief ihm ein Schreiben seiner Rentenversicherung zu, das ihm offenbarte, dass er beim gegenwärtigen Stand der Dinge sein Alter in Armut verbringen durfte. Glaubst du, du bist zum Spaß geboren worden? wollte die Krankenversicherung wissen, die ihn an seine gestiegenen finanziellen Pflichten gegenüber der Solidargemeinschaft erinnerte, nachdem Philipp sich nicht mehr zurückgemeldet hatte und damit endgültig, nach sieben Semestern Promotionsstudium, exmatrikuliert worden war. Was denkst du eigentlich, wo das alles hinführen soll? Willst du wirklich zum Einkommenssünder werden? So der unausgesprochene Vorwurf eines amtlichen Schreibens des nächstgelegenen Jobcenters, nachdem Philipp sich arbeitslos gemeldet hatte.
Und schließlich die Frage aller Fragen: „Was wollen Sie eigentlich damit machen?“ So die örtliche Jobcenter-Mitarbeiterin zu Philipp, die ihn mit sanfter, aber unverhohlener Drohung (Leistungskürzungen im Falle seiner Weigerung, die Einladung anzunehmen, ein Angebot, das Philipp schlecht ablehnen konnte) zu einem ersten Termin eingeladen hatte und seinen Lebenslauf begutachtete. Immerhin durchschaute Philipp nach einiger Zeit die Spielregeln, die es auf dem Weg zu einer festen Arbeitsstelle einzuhalten galt. Insbesondere der Lebenslauf schien unglaublich wichtig zu sein, und vor allem galt es „Lücken im Lebenslauf“ zu vermeiden. „Lücken im Lebenslauf“ waren so etwas wie das Schreckgespenst aller Arbeitslosen, das Letztere permanent auf Trab hielt: Aufklaffende „Lücken im Lebenslauf“ wurden ab einer bestimmten Größe mit allerlei Beschäftigungssimulationsstrategien gefüllt. Dazu gehörten Fortbildungen, „Mini-Jobs“, Ein-Euro-Jobs oder schlichtweg eine blumig ausschmückende Umschreibung beschäftigungsloser Zeiten. Der über all dem stehende kategorische Imperativ lautete, so Philipps Erkenntnis nach einem halben Jahr ergebnisloser Jobsuche: Beschreibe deine Lebenszeit so, dass die Maxime deines Lebens dich als ein jederzeit von aktiven Wollensvorstellungen, nach Handlungen lechzendes und von selbigen nahezu zur Gänze ausgefülltes Subjekt erscheinen lässt – auch dann, wenn dich alles ankotzt und du deinen Hintern nicht hochkriegst.
Eine Methode, um diese Maxime zu simulieren, bestand darin, jede noch so unbedeutende Aktivität aufzublähen – dies lernte Philipp bei einem Bewerbungstraining, das von einer prekär beschäftigten Soziologin geleitet wurde. Zwar gab es selbst da bei Philipp nicht allzu viel zu holen, aber er wurde angehalten, sein Praktikum beim Amt für Migration und Flüchtlinge für die Beschreibung in seinem Lebenslauf in einzelne, bedeutungsvolle Aktivitäten zu zerlegen, die über Kaffeekochen und Internetsurfen hinausgingen, um damit ein wenig Berufserfahrung zu simulieren. Nachdem auch das Bewerbungstraining wenig gefruchtet und er auf seine Bewerbungen bislang keine Antworten erhalten hatte, wurde Philipp die Kostenübernahme für eine Fortbildung gewährt, in der ihn prekär beschäftigte Werbefachleute, Webdesigner und Mediengestalter in die Geheimnisse der PR-Arbeit und des Internetmarketings einweihten, damit er ein wenig praktische Erkenntnisse erwarb, die er der Realität entgegensetzen konnte. Einen Vorteil zumindest hatte diese Fortbildung: Philipp hatte das Gefühl, „beschäftigt“ zu werden.
Nach acht Monaten war der Arbeitsvertrag seiner früheren Beraterin im Jobcenter ausgelaufen, und Philipp bekam eine neue Mitarbeiterin zugeteilt, eine Germanistin, mit der er sich gut verstand und der, wie sie ihm verriet, ihr Job durch ihren ehemaligen Betreuer im örtlichen Jobcenter vermittelt worden war. Natürlich auf ein Jahr befristet, aber immerhin. Sie versicherte Philipp, ihm sofort neue Stellenausschreibungen weiterzuleiten, falls im örtlichen Jobcenter eine Stelle frei wurde und er Interesse an einer Tätigkeit als Arbeitsvermittler beziehungsweise „Fallbetreuer“ habe.
„Na, spätestens in einem Jahr wird Ihre Stelle frei, dann können Sie mich kurz vorher gerne vermitteln“, scherzte Philipp, merkte jedoch, dass seine Bemerkung bei der Mitarbeiterin nicht ganz so gut ankam. Auch wenn Philipps Ambitionen, als Arbeitsvermittler beziehungsweise Fallbetreuer zu arbeiten, relativ begrenzt waren, entwickelte er aufgrund dieser Episode im Geiste ein geniales politisches Konzept zur Reduzierung der Arbeitslosigkeit, das offenbar in Teilen bereits umgesetzt wurde und nur noch darauf zu warten schien, von einer mutigen Regierung zur offiziellen Agenda erklärt zu werden: Wie wäre es denn, wenn die eine Hälfte der Arbeitslosen befristet für ein Jahr als Arbeitsvermittler eingestellt wird, um die andere, arbeitslos gebliebene Hälfte zu vermitteln, und zwar – so der verblüffende Clou in Philipps Konzept – als (und an dieser Stelle spielten Philipps Gedanken einen geistigen Tusch) Arbeitsvermittler? Und zwar nach genau einem Jahr in die nunmehr vakant gewordenen Positionen der bis vor kurzem arbeitsvermittelnden Hälfte der nunmehr von Arbeitslosigkeit bedrohten Ex-Arbeitsvermittler, die nun ihrerseits zu Kunden der frischgebackenen, glücklichen neuen Arbeitsvermittler wurden! Die wiederum nach genau einem Jahr von den Ex-Arbeitsvermittlern abgelöst wurden, die daraufhin fröhlich ihre Ex-Kunden begrüßen durften und diese nach einem Jahr in die, man höre und staune, tatsächlich wieder vakant gewordenen Positionen der Ex-Ex-Arbeitsvermittler vermitteln konnten. So müsste sich Philipps Analyse zufolge ein perfektes Kreislaufsystem ergeben, das die Arbeitslosigkeit schon einmal grundsätzlich um die Hälfte reduzieren würde. Ein erstaunliches Konzept. Genial. Einfach. Und vor allem „beschäftigungswirksam“. Und jeder würde gewinnen: die Politiker, weil sie sich die Reduzierung der Arbeitslosigkeit auf die Fahnen schreiben dürften und die Langzeitarbeitslosigkeit, die definitionsgemäß nach einem Jahr begann, komplett abgeschafft hätten, die Arbeitslosen, weil ihre Aussicht auf eine Beschäftigung nach spätestens einem Jahr sprunghaft gestiegen wäre, und die Arbeitsvermittler, weil sie regelmäßige Vermittlungserfolge vorweisen könnten (die Verträge dürften natürlich nicht alle auf einen Schlag auslaufen, die Befristungen müssten also über das Jahr verteilt auslaufen).
Allmählich näherte sich jedoch auch Philipp der Schwelle zur Langzeitarbeitslosigkeit, und in seiner Umgebung fiel immer öfter der Begriff des Einkommenssünders. Sein Schuldgefühl, auf Kosten der Allgemeinheit zu leben, wuchs nun doch stark an, aber auf seine gut 150 Bewerbungen, die er innerhalb eines Jahres verschickt hatte, antworteten die Stellenausschreiber stets mit den gleichen Worten: „Leider müssen wir Ihnen mitteilen, dass …“
Philipp war das Leider leid. Von einem Leider konnte er sich nichts kaufen, und das Stigma des Einkommenssünders blieb. Doch Philipps Situation sollte sich am 19. September 2029 schlagartig ändern. An diesem Datum verabschiedete der Deutsche Bundestag das Gesetz zur Stimulanz zukünftiger Arbeitskräfte. Damit wurde zum ersten Mal auf Bundesebene ein Gesetz geschaffen, das Einfluss auf die Gestaltung von Kindertagesstätten nehmen sollte. Hintergrund war, dass in einer globalisierten, hochtechnisierten Welt die Wettbewerbsfähigkeit der Bundesrepublik Deutschland als Speerspitze der Eurokratie bereits auf der Ebene der frühkindlichen Förderung und Evaluierung gesichert werden musste. Im Zuge dessen sollte das Berufsbild des Kindergärtners den modernen Herausforderungen angepasst werden, was bedeutete, dass in Zukunft für den Beruf des Kindergärtners ein akademischer Grad erforderlich sein würde. Für den Übergang wurden Arbeitsgemeinschaften zwischen Bund und Ländern geschaffen, die damit beauftragt wurden, Evaluations- und Stimulanzprogramme für die zukünftigen Arbeitskräfte zu entwerfen und zum Zwecke der Durchführung dieser Programme Akademiker einzustellen, die keine Scheu vor Kindergeschrei hatten und gleichzeitig über die analytischen Fähigkeiten verfügten, das Programm sowohl theoretisch mitzuentwickeln als auch praktisch vor Ort durchzuführen. Neben Pädagogen kamen dafür grundsätzlich auch Geistes- und Sozialwissenschaftler infrage. Und damit eben auch – wie ihm seine Fallbetreuerin versicherte – Philipp.