Читать книгу Lücken im Lebenslauf - Felix Böttger - Страница 9

Interviewprotokoll Gero Koch / MfW 06457/547

Оглавление

Na schön, wo fang ich an? Also ich habe Cristiano Schmidt in der 7. und 8. Klasse in den Schuljahren 26/27 und 28/29 unterrichtet. Und ich sag Ihnen was, der Junge hat mich teilweise in den Wahnsinn getrieben. Wegen der Streiche? Nein, nicht wegen der Streiche. Streiche bin ich als Lehrer ja gewöhnt. Da war zum Beispiel in der gleichen Schulklasse, na wie hieß er denn noch gleich? Samuel! Also Samuel hat mich wirklich übelst genervt manchmal, aber der war halt ein normaler Junge, und manchmal musste ich ja selber lachen über den, verzeihen Sie, Scheiß, den er sich manchmal ausgedacht hat. Einmal im Winter hat er seine Jacke und seine Mütze ausgetopft, wie so eine Vogelscheuche, und den Kram dann auf seinem Platz drapiert, quasi als Platzhalter, wissen Sie? Ha, und dann ist er unter den Tischen rumgekrabbelt. Oder ein anderes Mal hat er mit ein paar Kumpels zusammen den ganzen Gang mit Klopapierrollen zugemüllt, naja das musste er dann eben selber wegräumen danach. Aber so etwas ist ja irgendwie lustig, auch wenn ich ihm für seine Vogelscheuchenaktion fünf Mahnpunkte und für die Klopapierrollen zehn Mahnpunkte in Rechnung stellen musste. Den meisten Störern kommt man mit den Mahnpunkten irgendwann bei, die können ja online genau einsehen, wie viele Mahnpunkte noch fehlen bis zum ersten Schulverweis, also das ist schon ne gute Sache.

Aber Cristiano? Der Junge war irgendwie … anders. Ich kann gar nicht so genau beschreiben, was mich an dem so genervt hat. Ich geb Ihnen mal ein Beispiel: Cristiano war damals in der achten Klasse. Es war Deutschstunde. Es ging um Grammatik, genauer gesagt um die Lehre von den Satzgliedern. Gehört zum Lehrplan, ich hab mir das ja nicht ausgedacht. Natürlich gibt’s da wie in jeder Stunde Schüler, denen das am Allerwertesten vorbeigeht. Aber seitdem wir in den Klassenräumen den Handyempfang unterbrechen und das System mit den individuellen Mahnpunkten eingeführt haben, halten sich Störungen Gott sei Dank in Grenzen. Ich glaub, die Schüler von heute haben endlich begriffen, dass Sie sich damit selber ins Knie schießen, wenn sie permanent den Unterricht boykottieren. Nicht so wie ich damals. Na egal, ist ein anderes Thema. Also ich habe die Schüler an meiner Weisheit teilnehmen lassen und ihnen den Unterschied erklärt zwischen Akkusativsätzen, Subjektsätzen, Genitivobjekten, Genitivtattributen und so weiter. Ich hab natürlich auch Übungen gemacht. Und Cristiano zum Beispiel war ja nicht dumm. Wenn ich ihn gebeten habe, zum Beispiel zu sagen, wo in dem Satz „Lionel weiß, dass sein Vater heute mehr Geld verdient als früher“ der Akkusativsatz ist, dann konnte er das auch immer beantworten, auch wenn er sich eigentlich nie freiwillig gemeldet hat. Also auf jeden Fall haben wir dann diese ganzen Übungen zu den Satzgliedern schön durchexerziert, relativ störungsfrei, und ich hatte das Gefühl, dass das bei den Schülern auch ankommt und die meisten das schließlich einigermaßen draufhatten. Also insgesamt eine gelungene Unterrichtsstunde. Tja und dann gegen Ende der Stunde meldet sich Cristiano und stellt so eine richtige Quatschfrage, die mich echt genervt hat und wo ich mich wirklich frage, wie man auf so einen Mist kommt. Und der hat das nicht gefragt, um zu provozieren, nein, der meinte das ernst! Und da stell ich doch mal ganz offen die Frage, wie man mit einem Schüler umgehen soll, der so etwas ernst meint! Wenn er wenigstens den Unterricht stören würde, könnte ich ihm seine Mahnpunkte reinhauen, aber nein, der guckt mich treudoof an und fragt mich so einen Mist!

Was er gefragt hat? Er hat gefragt: „Was nützt uns das?“ Aber er hat das glaub ich sofort bereut, weil nach seiner dämlichen Frage alle Mitschüler in schallendes Gelächter ausgebrochen sind! Ja der ganze Klassenraum hat gelacht! Was ich geantwortet hab? Na ich hab ihm gesagt, dreimal dürfe er raten, was ihm das nützt und dass er sich das ja wohl denken könne! Damit war die Sache dann auch erledigt.

Aber das war ja nicht die einzige Situation, die irgendwie komisch war. Ich hab oft gedacht, vielleicht hat er Asperger oder sowas. Ich kenn mich damit ja nicht so aus, aber was man so liest … Cristiano wirkte manchmal so weggetreten, als ob er ganz woanders wäre. Wissen Sie, wie er manchmal auf mich wirkte? Als ob er gerade erst aus dem Mutterschlund herausgekrochen sei, sich nun darüber wundert, in was für eine Welt er da hineingeraten ist, und am liebsten wieder zurückwollte, dahin, wo er hergekommen ist. Aber er war auch nicht vertrottelt oder sowas, nein, das würde ich nicht sagen. Es war ja nicht so, dass er nicht verstanden hatte, wie die Welt so funktioniert, aber irgendwie … interessierte ihn das alles nicht. Und genau das machte sein Verhalten so unverschämt, ohne dass man ihn wirklich fassen konnte. Nehmen Sie meinen Kollegen Herrn Zülpich. Der hatte Cristiano in Chemie unterrichtet und auch Probleme mit seiner unverschämten Art. Es ging wohl in einer Chemiestunde um das Thema Hochofen, also die chemischen Prozesse, die dort ablaufen, und mein Kollege wollte diese Prozesse anhand eines Praxisbeispiels, eben des Hochofens, erläutern, was didaktisch doch durchaus zu begrüßen ist. Dann dürfen sich die Schüler einen netten Lehrfilm ansehen, was immer gut ankommt und nicht so trocken ist wie die ganzen Lehrbücher, die teilweise immer noch von anno dazumal sind, aber ich schweife ab … Also der Hochofen war das Thema, und die Schüler sollten sich das zu Hause noch mal anschauen, wie die chemischen Prozesse da ablaufen. Und in der nächsten Stunde stellt mein Kollege der Klasse die Frage „Was passiert im Hochofen?“ Da sich offenbar zunächst keiner gemeldet hatte, bittet er Cristiano, ihm diese Frage zu beantworten. Und was antwortet der kleine Mistkerl, verzeihen Sie den Ausdruck, auf diese Frage? Er sagte wortwörtlich: „Das ist vollkommen egal.“ Nicht: „Ist mir doch egal!“. Das kennt man ja, dieses pubertäre „mir doch egal“. Das war ja das, was meinen Kollegen so irritiert hat, dieses fast schon wie eine Feststellung klingende „Das ist vollkommen egal.“ Wenn er wenigstens gesagt hätte „Das ist doch vollkommen egal“, also mit doch im Satz. Und der Gesichtsausdruck von Cristiani, also mein Kollege hat ihn als irgendwie traurig weggetreten beschrieben, also ich weiß genau, was mein Kollege meinte, aber ist halt schwer zu beschreiben, wenn man Cristiano nicht kennt.

Also verstehen Sie, er meinte das nicht, um aufmüpfig zu werden, das war keine pubertäre Marotte, nein, das meinte der ernst! Also das war wirklich die ernsthafte Antwort des Cristiano Schmidt auf die Frage seines Lehrers, was im Hochofen so alles passiere! Tja, das klingt jetzt vielleicht alles gar nicht so spektakulär, vielleicht haben Sie mehr erwartet? Haben Sie jetzt gedacht, ich erzähle Ihnen Geschichten über wüste Schulhofstreitereien oder darüber, dass Cristiano sich einer gewalttätigen Sekte oder einer rechtsextremen Partei angeschlossen hat? Nein? Viel mehr kann ich Ihnen auch gar nicht erzählen, allenfalls weitere Beispiele für mehr Unverschämtheiten. Sie wollen gar nicht mehr wissen? Welches „Muster“? Ach, das können Sie nicht sagen. Na, schauen Sie, ich habe keine Ahnung, was Sie mit diesen Informationen wollen und will es auch gar nicht so genau wissen, aber seitdem ich die Klasse nicht mehr unterrichte, habe ich ohnehin nichts mehr mit Cristiano zu tun und wäre von selber gar nicht auf die Idee gekommen, dass sich irgendjemand für ihn interessiert. Vielleicht habe ich auch übertrieben, so schlimm war er ja gar nicht, hat eigentlich nichts gemacht, nichts Dramatisches, aber es war so ein nagendes Unbehagen, das er oftmals in mir ausgelöst hatte, irgendeine Ahnung von etwas, das ich nicht greifen konnte. Ist er denn so besonders? Das können Sie auch nicht sagen, verstehe … Also wissen Sie, eigentlich hatte er auch positive Seiten, der Cristiano, er hatte doch kaum Mahnpunkte, insofern … okay verstehe, das soll ich Ihnen überlassen. Na ich hoffe einfach, Ihnen geholfen zu haben, und vielleicht hat er sich auch geändert in den letzten zwei Jahren. Hat er nicht? Vielleicht doch Asperger? Ist gut, ich hör schon auf …

Lücken im Lebenslauf

Подняться наверх