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CV

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Eine charakteristische graue Signatur, die um die Welt gefunkt wird. Ein Schemen, der im globalen Äther zuckt und hundertfach widergespiegelt und geteilt und gelikt wird. Ein Code, der ins Netz eingespeist wird und Menschen auf Verzückung programmiert. Ein süßer Virus, der wöchentlich ein Update erhält, nach neun Monaten farbig mutiert, an Konturen gewinnt, lacht, weint, auf Spielplätzen umhertollt, mit blauen Flecken und neuen Freunden nach Hause kommt, mit großen grünen Augen die Welt erobert, ein kleines, expandierendes Universum, mit dem irgendetwas nicht stimmt.

Maxim war kein außergewöhnliches Kind. Ein Schicksal teilte er mit Millionen anderer Kinder des 21. Jahrhunderts: Die zahlreichen ersten Male seines Lebens wurden für die Augen einer interessierten Öffentlichkeit dokumentiert und kommentiert. Damit erwies sich das Soziale Netzwerk als Nachfolger des klassischen Romans, der mit der Beschreibung handverlesener Szenen aus der Kindheit seiner Protagonisten bei der Geburt des modernen Individuums tatkräftig mitgeholfen hatte. Zu Maxims Zeit wurden die Methoden, durchschnittliche Individualität, durchschnittliche Einzigartigkeit zu produzieren, perfektioniert. Das Leben selber wurde damals zum gesprochenen Wort, das jeder einzelnen Handlung Bedeutung zuwies und sie symbolisch überhöhte. Alles, was man im Leben tat, wofür man sich entschied, wurde mit dem Gewicht des Lebens in seiner Gesamtheit beschwert. Es galt damals der kategorische Imperativ: Handele jederzeit so, dass alles, was du tust, von dir öffentlich geteilt wird und für Hunderte, Tausende oder sogar Millionen von Beobachtern zur Richtschnur ihres Urteils über dein gesamtes Leben werden kann. Maxims Eltern gehörten zur ersten Generation, die mit diesem kategorischen Imperativ aufwuchs. Diese Generation wurde zu Probanden in einem millionenfachen Experiment, in dem zum ersten Mal in der Menschheitsgeschichte im heißen Feuer der Selbstoptimierung das geschmiedet wurde, an dem unzählige missverstandene Diktatoren vergeblich geforscht hatten: reine, einzigartige und doch kollektive Individualität. Kristalle glitzernden Lebens, auf ihre Essenz zusammenschrumpft im Schmelzofen des Neoliberalismus, ausgestellt in den digitalen Schaufenstern der neuen Welt, gejagt von den Trüffelschweinen der Personalagenturen; zwei eingravierte Buchstaben, die zum lebenslangen Begleiter wurden: CV.

Curriculum Vitae

Emil Kronenberg

Persönliche Angaben:

Geburtsdatum: 4. Dezember 1998

Adresse: Beethovenstraße 44, 42781 Haan, Deutschland

E-Mail: michel.kronenberg@levelup.de

Nationalität: Deutsch

Berufliche Erfahrungen:

Seit 3/2029: Levelup Consult GmbH, Düsseldorf

Geschäftsführer, Beratungsschwerpunkte: Unternehmensführung, Innovationsmanagement, Supply Chain Management, Quality Management/Zertifizierungsvorbereitung

4/2028 – 2/2029: The Boston Consulting Group Düsseldorf/London:

Projectleader Innovation Strategy Management

6/2025 – 3/2028: Air Liquide, Paris

Projektmanager Supply Chain Management

4/2023 – 5/2025: Airbus Group, Stade

Projektmanager Innovationsmanagement

11/2021 – 3/2023: Scaling Group, Toulouse

Projektleiter Leveling Systeme

3/2021 – 10/2021: Scaling Group, Toulouse

Praktikant Leveling Systeme

Studium:

4/2020 – 2/2021: École des hautes études commerciales de Paris

Studium International Business

10/2015 – 2/2020: Universität zu Köln

Studium Business Administration

10/2018 – 2/2019: San Diego State University

Auslandssemester

Fähigkeiten und Interessen:

Sprachen: Englisch (verhandlungssicher), Französisch (verhandlungssicher), Spanisch (Grundkenntnisse)

Coated Reality Office (Virtual Desk, Columns Calc, Masked Life)

Engagements: Redner auf Kongressen zur Implementierung von Leveling-Systemen in AR-Umgebungen, speziell für Bildungsinstitutionen, ehemaliges Mitglied im European Youth Parliament, Mitglied in der Global Shapers Community

Curriculum Vitae

Tilda Kronenberg

Persönliche Angaben:

Geburtsdatum: 21. Mai 2001

Adresse: Beethovenstraße 44, 42781 Haan, Deutschland

E-Mail: ella.kronenberg@kronenberg.de

Nationalität: Deutsch

Berufliche Erfahrungen:

Seit 3/2027: Kronenberg Content und Test Service

Selbstständige Texterin und Testerin, u.a. für Joymedia, EduStar, HighContent, Testwelten, Levelup Consult

2/2025 – 10/2026: Joymedia GmbH, Köln:

Praktikantin Dialog-Management-Systeme VR + AR

6/2024 – 1/2025: High Content GbR, Köln

Praktikantin Applikation-Management Textumgebungen

9/2023 – 4/2024: Testwelten GmbH, Berlin

Praktikantin Reviewcontent, userbased simulation

1/2023 – 7/2023: Scaling Group, Toulouse

Praktikantin Leveling Systeme

Studium:

10/2019 – 2/2022: Georg August Universität Göttingen

Studium Allgemeine Sprachwissenschaft und Philosophie (B.A.)

Fähigkeiten und Interessen:

Sprachen: Englisch (verhandlungssicher), Französisch (verhandlungssicher), Spanisch (fließend), Italienisch (Grundkenntnisse)

Coated Reality Office (Virtual Desk)

Interessen: Bürgerrechte, Umweltschutz

Maxim wurde am 14. Januar 2027 geboren. Bereits vor der Niederkunft seiner Mutter erhielt die erste Ultraschallaufnahme seines unfertigen Leibes 96 Highlikes auf dem Socialbook-Account seiner stolzen Mutter. Die Mitteilung derselben betreffs der erfolgreich verlaufenen Geburt ihres Sohnes sowie die Verkündigung seines Namens vor dem Forum der digitalen Öffentlichkeit wurde von 432 Anhängern des Kronenbergschen Nachrichtenstroms gehighlikt. Die digitale Unsterblichkeit, die Maxim mit dem ersten Foto einen Tag nach seiner Geburt erlangte, wurde von 626 Followern gefeiert. Maxims Augen, wie sie ein aus künstlichen Himmelskörpern gebildetes Mobile fixierten, zogen 186 auf den digitalen Spuren der Kronenberg-Familie wandernde Pilger in ihren Bann.

Nach acht Monaten konnte Maxim sich krabbelnd auf einem Teppichboden fortbewegen und farbige Bauklötze mit tapsig klammernden Händen ergreifen. Eine kurze Videoaufnahme dieser Szene fand bei 177 Angehörigen der Gemeinschaft der Anhänger der zur ewigen Widerspiegelung verdammten Kronenberg-Chronik großen Beifall. Nach einem Jahr und zwei Monaten erhob sich Maxim aus der erdverbundenen Pose, wankte in unsicherer Höhe, strahlte ob der hinzugewonnenen Fähigkeit, die Welt aus einer neuen Sicht zu betrachten, und schritt mit schwankendem Gang in die weit ausgebreiteten Arme seiner Mutter, die ihn solcherart auf neue Weise zu empfangen gedachte. Eine kurze Videoaufnahme des neuen Highlands wurde von 296 Mitgliedern der versammelten Digitas untereinander geteilt.

Mit einem Jahr und elf Monaten – ein wahrer König lässt sich Zeit! – gelang es Maxim, seine Stimme aus der mystischen Zweideutigkeit interpretationsoffener Lautmalerei in den Bereich klarer, wenngleich noch rudimentärer Sprache zu überführen. Ein audiovisueller Beweis dieser erstaunlichen, kaum vorhersehbaren Wandlung wurde von 754 Avataren des Zirkels der digitalen Unsterblichkeit in den Kanon der teilungswürdigen Ereignisse aufgenommen. Mit zwei Jahren und vier Monaten wurde Maxim dabei beobachtet, wie er sich zum Rhythmus zeitgenössischer Popmusik mit leicht schwankenden, aber eindeutig als Tanz zu identifizierenden Schritten bewegte. Auch dieses Ereignis wurde dokumentiert und in den Äther geblasen, wo es von 809 Weggefährten euphorisch zur Kenntnis genommen wurde.

Mit zwei Jahren und sieben Monaten nahm Maxim Schaufel und Eimer, grub damit den Sand um, schichtete ihn zu kunstvollen Gebilden und errichtete auf diese Weise Burgen, Schneisen und Staudämme, die allem Unbill der Naturgewalten bis zum nächsten Regenguss trotzten. Mit einer Gießkanne zapfte er das durch die Gnade der örtlichen Stadtwerke uns überlassene Wasser an, um damit die Pflanzen und Blumen zu sprengen. Maxims Rolle als Erbauer neuer Welten und Ernährer der Erdengeschöpfe wurde mit einer Kamera festgehalten und von einer 745-köpfigen, ungläubig staunenden Menge mit Highlikes und euphorischen Kommentaren bejubelt. Mit zwei Jahren und neun Monaten griff Maxim zu verschiedenfarbigen Buntstiften und begann die Welt zu verschönern, indem er eine weiße Papierfläche mit bunten Kreisen, Häusern, Figuren und auch Tieren bemalte. Maxims Entdeckung seiner Künstlerseele in sich löste in 932 Beobachtern der Kronenbergschen Chronik überbordendes Erstaunen aus, das sich in entsprechenden Klickzahlen äußerte.

Ab seinem dritten Lebensjahr auf Erden besuchte Maxim den Kindergarten „Die Stadtmäuse“. Dort sollte er lernen, sich in einer größeren Gruppe Gleichaltriger sozial angemessen zu verhalten. Eine frühkindliche Potenzialförderungsanalyse bezifferte Maxims Ausgangspotenzial auf einen geschätzten aktiven Wortschatz von 420 Wörtern, was leicht über dem Schnitt von 380 Wörtern in der Referenzgruppe seines Alters lag. Weiterhin ergab sich ein IQ von 108, der damit ebenfalls leicht über dem Durchschnitt lag. Der MQ hingegen, der Auskunft über den motorischen Entwicklungsstand gibt, förderte eine Zahl von 85 zutage und bewegte sich damit leicht unter dem altersüblichen Schnitt. Maxims musisches beziehungsweise künstlerisches Potenzial wurde bei 120 auf der Richthof-Tengyli-Skala gemessen, was einem klar überdurchschnittlichen Wert entsprach. Insgesamt gab Maxims Ausgangspotenzial seinen Eltern Anlass zur Hoffnung, durch ein frühkindliches Trainingsprogramm die leicht überdurchschnittlichen Werte ausbauen oder zumindest halten zu können. Infolgedessen wurde für Maxim ein individueller Wochenplan festgelegt, der sich an den Vorgaben des frühpädagogischen Zertifizierungszentrums FÄZ orientierte und regelmäßig von einem externen Qualitätsmanager auditiert wurde.

Nach dem ersten halben Jahr – Maxim war zu diesem Zeitpunkt drei Jahre und zehn Monate alt – wurde eine Entwicklungspfadanalyse durchgeführt, die den Eltern mit leicht drohendem Unterton mitteilte, dass Maxim in den letzten Monaten um 18,9 Prozent vom idealen Entwicklungspfad abgewichen war, folglich noch viel unausgeschöpftes Potenzial brachlag. Nach einem weiteren halben Jahr erhöhte sich dieser Wert auf 21,4 Prozent, hinzu kam eine problematische Einschätzung von Maxims Sozialkompetenz: Das regelmäßige Screening seines Sozialverhaltens hatte eigenbrötlerisches, absonderndes Verhalten und eine leichte Neigung zu spontanen Wutausbrüchen diagnostiziert. Es bestand Anfangsverdacht auf Asperger, der sich nach Tests allerdings nicht bestätigte. Die besorgten Erzieher empfahlen eine wöchentliche Verhaltenstherapie sowie autogenes Training, um Maxim die Chance zu geben, sich wieder besser in die Gruppe integrieren zu können. Von den liebenden Eltern wurden diese Maßnahmen sofort ungesetzt und blieben nicht ohne Wirkung: Mit vier Jahren und vier Monaten hatten sich Maxims Werte leicht verbessert, so dass diese nur noch um 16,3 Prozent vom idealen Entwicklungspfad abwichen. Diese Abweichung war nach wie vor zu hoch, so dass Maxims Kindertherapeut nicht umhinkam, Maxim eine leichte Entwicklungsstörung zu attestieren. Infolgedessen intensivierten die liebenden Eltern die auf ihr Kind hinwirkenden Umgebungsreize, indem sie Maxim zusätzlich zur Verhaltenstherapie an einer wöchentlichen heilpädagogischen Gruppentherapie teilnehmen ließen. Die größte Wirkung zeigte letztendlich ein Schachkurs, den zu absolvieren Maxim im Alter von vier Jahren und neun Monaten die Gelegenheit gegeben wurde. Maxim entwickelte eine gewisse Faszination für das Spiel mit den schwarzen und weißen Figuren. Er trat dem örtlichen Schachverein bei und verbesserte im Laufe eines Jahres seine ELO-Zahl auf 1.200, verlor jedoch ein wenig das Interesse, als er bei regelmäßigen Turnieren teilnehmen sollte, und wandte sich fortan der Malerei zu, um sich von dieser wieder abzuwenden, nachdem ihm seine Mallehrerin erklärt hatte, wie man mittels der Bestimmung des Fluchtpunkts perspektivische Zeichnungen anfertigen konnte. Auf die besorgte Frage, warum er seinen neu entdeckten Interessen nicht langfristig verbunden war und davon absah, deren Potenzial vollständig zu entfalten, antwortete Maxim, dass er sich nun einen Überblick verschafft habe und damit zufrieden sei.

Mit sechs Jahren und fünf Monaten wurde Maxim eingeschult. Anfangs entwickelte er durchaus Neugierde auf das, was ihm dort erzählt wurde. Insbesondere Lesen und Schreiben lernte er gerne, weil ihm dies die Möglichkeit eröffnete, Geschichten und Gedanken anderer Menschen zu entdecken. Hinzu kam ein gewisser sportlicher Ehrgeiz, der durch die permanente Abbildung seines Leistungsstandes – zunächst in Form lachender und weinender Smileys, später durch Ziffern von 1 bis 6 – befeuert wurde. So kam es, dass Maxim im zweiten Schuljahr einen Notenschnitt von 1,2 errang und diesen im dritten Schuljahr immerhin bei 1,3 halten konnte. Maxims Sozialverhalten allerdings war nach wie vor Gegenstand der Gespräche, die seine besorgten Lehrer mit seinen ihn liebenden Eltern auf den allgemeiner Besorgnis gewidmeten Elternsprechtagen führten. „Maxims Sozialkompetenz gibt Anlass zur Besorgnis“ hatte seine Klassenlehrerin in das sich sorgenfaltengleich kräuselnde Jahreszeugnis geschrieben, wonach sich eine mit gut gemeinten Worten drohende Prognose anschloss: „Seine mangelhafte Fähigkeit, sich in die Klassengemeinschaft zu integrieren, könnte sich auf Maxims schulische und langfristig auch berufliche Wettbewerbsfähigkeit auswirken.“

Um letztere nicht zu gefährden, reichte offenbar die Gruppentherapie nicht aus. Zum großen Glück für die Eltern bot die Schule im Rahmen einer Projektwoche ein Sozialkompetenztraining an, das sich an die gesamte Klassengemeinschaft richtete, vom „We love Life“-Sozialkompetenztrainingsstab zertifiziert und von Maxims Grundschule bedarfsorientiert weiterentwickelt worden war. Hier lernten die Schüler in sechs Modulen – von Rollenspielen über Entspannungsübungen bis hin zu Gruppendiskussionen –, wie sie die zunehmend komplexeren Herausforderungen des schulischen und nichtschulischen Alltags besser bewältigen konnten. Danach erhielt Maxim eine Urkunde, mit der ihm Freddy, der pinke „We love Life“-Kompetenzameisenbär, fröhlich lachend bescheinigte, seine Sozialkompetenz signifikant verbessert zu haben.

Leider schien dies eine Fehleinschätzung seitens Freddy gewesen zu sein, denn Maxim blieb weiterhin der eigenbrötlerische Außenseiter mit wenig Interesse an sozialen Interaktionen, Rangkämpfen innerhalb der Gruppe oder diversen Ballsportarten wie zuvor. Erstaunlicherweise wurde er aber auch kein Opfer von Hänseleien. Seine Mitschüler ließen ihn weitgehend in Ruhe, das Desinteresse schien also auf Gegenseitigkeit zu beruhen, was möglicherweise daran lag, dass Maxim nicht zu denjenigen gehörte, die im Grunde ihres Herzens liebend gerne eine größere Rolle in den gruppendynamischen Prozessen der Schülerzunft gespielt hätten und durch körperliche und/oder psychologische Defizite daran gehindert wurden. Nein, Maxim pflegte ein ehrliches und offenherziges Desinteresse daran, sich durch allgemein anerkannte Verhaltensweisen seinen Platz in der Rangordnung einer Gruppe gleichaltriger Kinder zu sichern. Doch Maxims aktives Desinteresse begann sich zur Besorgnis seiner Eltern zunehmend auch auf Lehrinhalte zu erstrecken. Sein Notenschnitt rutschte von 1,3 auf 1,4 im dritten und 1,6 im vierten Schuljahr ab. Damals hörte Maxim von seiner besorgten Klassenlehrerin zum ersten Mal den Satz, der ihn fortan sein ganzes Leben begleiten sollte: „Du könntest, wenn du wolltest, aber du willst nicht!“ Maxim wollte nicht.

Nichtwollen, selbst wenn dieses aus ganzem Herzen kam, schien zu jener Zeit ganz allgemein eine sehr verstörende Wirkung auf Menschen ausgeübt zu haben.

Lücken im Lebenslauf

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