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ОглавлениеKAPITEL 1
Aspern – ein Ortsbesuch
Würde David Alaba heute zum Training beim SV Aspern fahren, er würde sich selbst begegnen. Gut sechs Meter groß ist das Graffiti, das eine Hauswand in der Langobardenstraße 160 ziert. Es zeigt Alaba im roten Nationaltrikot vor dem vollen Ernst-Happel-Stadion bei Nacht. Sein Gesichtsausdruck wirkt auf den ersten Blick angespannt, mit viel Wohlwollen könnte man ihn auch fokussiert nennen. Wenn man vor dem Kunstwerk steht, hat man fast das Gefühl, Alaba wolle einem gleich den Ball am Fuß in einem im Zweikampf abnehmen. Es ist ein beeindruckend gut gespraytes Graffiti, das aus dem unscheinbaren, heruntergekommenen und leerstehenden kleinen Haus eine Anlaufstelle für Alaba-Fans gemacht hat.
Bei der Vorstellung des Graffiti Anfang Juni 2016, wenige Tage vor Beginn der Europameisterschaft, war Alaba zu Gast. „Gegen diese Wand, wo das Graffiti ist, habe ich als kleiner Bub Bälle gekickt“, zitiert ihn meinbezirk.at in einem Bericht über die neue Asperner Touristenattraktion. Tatsächlich gibt es im Umkreis wohl kaum eine Hauswand, gegen die der junge Alaba nicht einmal Bälle gekickt hat. Ein paar Minuten vom Spray-David entfernt liegt die Sandefjordgasse, wo die Alabas früher wohnten. Benannt ist die Heimatgasse der Familie nach dem südnorwegischen Sandefjord, gleich nebenan liegt auch die Trondheimgasse, die Stavangergasse und die Bergengasse. Ein Hauch Norwegen in Wien-Aspern, der, wie auf wien.at nachzulesen ist, an die norwegischen Hilfspakete für die österreichische Bevölkerung nach dem Zweiten Weltkrieg erinnern soll.
Bis auf die Namen ist jedoch kein norwegischer Einfluss spürbar. Die Gemeindebauhäuser erinnern keineswegs an die kleinen, bunten Holzhäuser, die die norwegischen Städte zieren. Stattdessen setzten die Architekten auch in Aspern auf die in Wohngebieten so beliebte Kombination aus Beton und der Farbe Grau. Auch wenn man den großen Häuserblöcken anmerkt, dass der Begriff „Neubau“ seit gut 20 Jahren nicht mehr auf sie zutrifft, wirken sie erstaunlich lebendig. Die Balkone sind teilweise bunt gestrichen, Grünpflanzen zieren die Geländer. In den Vorgärten auf der rechten Straßenseite wachsen hinter einem Bambussichtschutz kleine Bäume. Die lieblose, manchmal sogar furchteinflößende Aura großer, grauer Häuser, wie man sie etwa im Berliner Osten spürt, gibt es hier nicht. Eine Prise Wiener Charme genügt, um die Wohngegend einladender zu machen.
Überhaupt fühlt sich Aspern vorstädtisch-ländlich an. Wie viel Wien soll auch noch in einem Ort stecken, der drüber der Donau liegt und damit deutlich abgeschnitten vom Zentrum ist? Von Aspern aus ist man schneller im angrenzenden Niederösterreich als in der Wiener Innenstadt, in der Stadt trägt der 22. Bezirk Donaustadt, zu dem Aspern gehört, den Kosenamen „Transdanubien“. Da wundert es nicht, dass die Bewohner nicht unbedingt den Eindruck machen, tagein, tagaus mit der U-Bahn in die Stadt zu fahren. Für den jungen David Alaba gab es diese Möglichkeit ohnehin noch nicht, erst seit 2010 verbindet die Linie U2 Aspern mit dem Zentrum.
Heute ist allein die U-Bahnfahrt einen Ausflug nach Alaba-Vorstadt wert. Vom Karlsplatz in der Innenstadt aus begleiten einen für die ersten Stationen asiatische Touristen mit Spiegelreflexkameras, die am Museumsquartier oder am Rathaus aufgeregt aus dem Zug springen, um in die Pferdekutsche zu wechseln. Von nun an ist das bunte Wien der Begleiter des Aspern-Reisenden: junge und alte Menschen, Wiener und andere österreichische Dialekte. Einige unterhalten sich auf Tschechisch, andere auf Kroatisch, und Wien wäre nicht Wien, wenn nicht auch ein Herr auf Türkisch ins Telefon brüllte. Die letzten Touristen steigen am Prater aus. Sitzen bleiben erstaunlich viele junge Leute mit eleganten Umhängetaschen. Sie verlassen die U-Bahn kurz darauf, an der Station Krieau, wo die Wirtschaftsuniversität ihren neuen Campus hat.
Die U2 fährt weiter an der Donau entlang, direkt hinter dem Ernst-Happel-Stadion vorbei. Und direkt heißt im Fall der Wiener U-Bahn wirklich direkt: Mit etwas Glück könnte man vom Waggon aus sogar das ein oder andere Tor sehen. Die Strecke macht nach dem etwas in die Jahre gekommenen Tempel des österreichischen Fußballs eine Linkskurve und überquert parallel zur Stadtautobahn A23 die Donau. Die Autobahntangente in Kagran, über die die Bahn anschließend ruckelt, ist in Österreich vermutlich sogar noch bekannter als David Alaba. Während der Fußballer es nur vereinzelt in die Radionachrichten schafft, ist das Stück Autobahn fast täglich in den Staumeldungen von Hitradio Ö3 vertreten. Auf der anderen Seite der Donau erwartet einen das vorstädtische Wien, ohne klassische Bauten, Sacher-Touristen und Lipizzaner. Hier sind die Straßen weitläufiger und die Wohnhäuser einfacher.
Das Publikum hat sich auch verändert. An der Station Donauspital, nur ein paar Minuten von Alabas erster Heimat entfernt, steigen neben einigen Anwohnern nur die Krankenbesucher aus – und ein älterer Herr, der sich auf den Weg Richtung Beisl macht. Direkt an der breiten und von jungen Bäumen begrünten Hauptstraße findet sich eine Reihe Geschäfte, die alles bieten, was man als Österreicher so zum Leben braucht. Neben dem BILLA-Einkaufsladen, der in Wien-Aspern exakt gleich eingerichtet und bestückt ist wie im 1. Bezirk, findet sich ein nettes, kleines Restaurant mit Ottakringer-Sonnenschirmen und „Ripperl mit Erdäpfel“ als Tagesgericht. Auch mittags läuft das Geschäft dort gut: An einigen Tischen wird gegessen, auf anderen sammeln sich bereits leere Gösser-Flaschen an. Gleich nebenan liegen die „Langobarden Apotheke“ und ein Mobilfunk-Geschäft. Auch die Trafik darf natürlich nicht fehlen, genauso wenig wie die Sportwetten-Annahmestelle.
Kurz: Es mangelt an nichts in Aspern, nicht einmal an der Sicherheit. Gleich ums Eck liegt die recht gut versteckte Polizeiwache, die nicht gerade den Eindruck macht, hier allzu viel Verbrechen bekämpfen zu müssen. In der Sandefjordgasse angekommen, liegt der Geruch von Fußball schon in der Luft, und nicht nur, weil David Alaba dort einst wohnte. Gleich hinter der Gasse, die so breit ist, dass sie sich eigentlich den Zunamen Straße verdient hätte, findet sich ein kleiner Fußballplatz. Zu sagen, dass der Ort, an dem der junge David das Fußballspielen lernte, irgendetwas Magisches an sich hätte, wäre übertrieben. Nüchtern betrachtet handelt es sich um ein etwa 60 Meter langes, von einem hüfthohen grünen Zaun umgebenes Feld mit zwei Stahltoren und relativ wenig Rasen. Das grüne Geläuf ist mittlerweile ein staubiger Untergrund. Man müsste schon „das Feld breit machen“, wie es im Fachjargon heißt, um den Rasen zu erreichen, der im Sommer steppenartig verdorrt ist.
Ein bis zwei Gehminuten liegt der Platz von der Sandefjordgasse entfernt. Wobei David wie jedes andere Kind vermutlich nie zum Fußballplatz gegangen ist. Insofern ist wohl eher eine halbe Rennminute als Zeitangabe korrekt. Der Fußballplatz liegt nicht nur hinter dem Wohnblock der Alabas, sondern auch gleich neben der Ganztagsvolksschule am Hammerfestweg, die bürokratisch und vollkommen unromantisch als „GTSV“ abgekürzt wird. Die Österreich fand im Jahr 2012 ein Kinderfoto, das Alaba mit Schultüte zeigt. Papa George Alaba lobt in der Bildunterschrift den braven Schüler David, der seine Aufgaben immer erledigt habe. Zitat Alaba Senior: „Wie, weiß ich zwar nicht, aber die Lehrerinnen haben ihn immer geliebt.“ Heute ziert ein Ausschnitt des Artikels den Internetauftritt der Schule, genauso wie Aufnahmen des erwachsenen Alaba, auf denen er auf der „großen Wiese“, wie sie im Viertel genannt wird, mit einigen Kindern Fußball spielt.
Die Bilder entstanden bei einem Dreh zur Adidas-Serie „Hometowns“, in der Alaba 2012 zum ersten und bisher einzigen Mal ein Kamerateam mit nach Aspern nahm. Dass Fußballer ihre Herkunft zu Promozwecken nutzen, ist gemeinhin bekannt. Cristiano Ronaldo lässt sich auf seiner touristischen Heimatinsel Madeira Statuen schmieden, Franck Ribéry rechtfertigt sein Bad-Boy-Image mit seiner Herkunft aus einem Arbeiterviertel im nordfranzösischen Boulognesur-Mer. Aspern gibt keine besondere Geschichte her, es ist kein Arbeiterviertel und erst recht kein Touristenzentrum. Nein, David Alaba stammt schlichtweg aus einem unscheinbaren, aber lieblichen Vorstadtviertel. In der Donaustadt sagen sich zwar nicht Fuchs und Hase gute Nacht, doch merkt man gerade in den Abendstunden, dass das Bermudadreieck, Wiens Partyviertel, ganze elf Kilometer entfernt ist.
Dennoch sollte man sich von den Straßennamen nicht täuschen lassen: Aspern ist keineswegs von „Gassen“ und „Wegen“ geprägt. Was kleinstädtisch, fast schon bäuerlich anmutet, ist in ganz Wien so: Straßen, die es verdient hätten, mindestens als solche bezeichnet zu werden, bekommen lediglich das Anhängsel „Gasse“. Ob die Nomenklatur aus Faulheit oder Traditionsbewusstsein erhalten wird, sei dahingestellt. Auch in der Kindheit von David Alaba gab es keinen echten Straßenbezug: Er war zuhause in der Sandefjordgasse, ging zur Schule im Hammerfestweg und spielte irgendwann auf dem Fußballplatz im Biberhaufenweg.
Das Gelände mit der Hausnummer 18 ist von einem zwei Meter hohen Metallzaun umgeben, der auf den ersten Blick etwas arg abschottend wirkt. Guckt man durch den Zaun hindurch, sieht man viel Grün: Mehrere große Bäume stehen entlang des einzigen Fußballfelds aus sattem Kunstrasen. Dem Rasen um das Feld herum ist jedoch anzumerken, dass der Wiener Sommer auch mediterrane Temperaturen mit sich bringen kann. Am nördlichen Eingang prangt ein Schild mit der Aufschrift „Sportplatz. Kantine. SV Aspern“. Daneben sind das Vereinslogo mit dem berühmten Asperner Löwen sowie ein Gösser-Schild angebracht. Neben dem klassischen Bieremblem – einem Siegel mit verschnörkeltem Band mit der Aufschrift „Gut. Besser. Gösser“ – wirkt das SVLogo fast schon modern. Der recht genau gezeichnete Löwe zeigt aggressiv seine Zähne und macht einen eher bedrohlichen Eindruck. Für Bayern-Fans bricht damit kurzzeitig eine Welt zusammen: David Alaba war tatsächlich mal ein Löwe, zum Glück allerdings kein Giesinger, sondern einer aus dem 22. Bezirk.
Das Gelände des SV Aspern ist übrigens einer dieser Orte in Wien, die man auch riechen kann. Die Dönerbuden am Schwedenplatz, die Würstlstände am Stephansdom, die Zuckerwatte am Prater – wenn man in der österreichischen Hauptstadt die Nasenflügel öffnet, strömt einem meistens der Geruch von etwas Essbarem entgegen. Am Biberhaufenweg riecht es hingegen nach Fußball, genauer gesagt: nach Kunstrasen. Das schwarze Gummigranulat verströmt besonders in der Hitze einen unverkennbaren, leicht stechenden Duft. So wie Kinder der 1970er, 1980er und 1990er Jahre immer den Geruch von saftigem Gras mit Fußball verbinden, sind es für die (Vor-)Stadtkinder der 2000er die neugebauten Kunstrasenfelder, die Erinnerungen an Jugendtage am grünen Feld hervorrufen.
Dass David Alaba irgendwann den Sprung vom staubigen Platz hinter der Sandefjordgasse auf das wenige hundert Meter entfernte Gelände des SV schaffen würde, war mit Sicherheit zu erwarten. Dass er auf dem Weg von seiner Wohnung, vorbei an der Schule und der Hauswand, auf der er später einmal verewigt werden sollte, im wahrsten Sinne des Wortes nur die ersten Schritte am Beginn einer ereignisreichen Karriere zurücklegte, hatte jedoch keiner kommen sehen. Fest steht, dass man in Aspern an Alaba denkt. Neben dem Graffiti ist das FC-Bayern-Trikot mit der Nummer 27 im dunkelgrün gestrichenen Klubheim des SV Aspern eine Art Heiligtum. David Alaba kommt aus der Donaustadt, er wird im Wikipedia-Artikel des Stadtteils unter anderem neben dem Jazzmusiker Fatty George und dem Rallyefahrer Rudi Stohl in der Rubrik „Persönlichkeiten“ aufgeführt.
Doch gleichzeitig ist David Alaba nicht omnipräsent. Fährt man in Österreich übers Land, begegnet man an Ortseinfahrten Schildern wie „Annaberg – Heimat von Marcel Hirscher“ oder „Fieberbrunn grüßt seinen Medaillengewinner Manuel Feller“. In Aspern huldigt man seinem Star nicht, vielleicht huldigt man hier aber auch gar niemandem. Die Bewohner, egal ob sie in der Trafik ihre Lottoscheine ausfüllen oder vormittags unter vergilbten Sonnenschirmen ihr Bier trinken, machen einen bodenständigen Eindruck. Die Asperner Wohnblocks laden nicht zum Träumen ein, sie sind keine mystische Geburtsstätte eines Jahrhundertfußballers. Selbst am Gelände des SV Aspern weht nicht der Spirit Alabas über das Feld, der junge Fußballer zu Weltstars werden lässt.
Nein, in Aspern zeigt sich schlichtweg das Idealbild einer freundlichen, praktischen Vorstadt mit vielen Grünflächen und mittlerweile guter öffentlicher Anbindung. Und wenn man dem größten Fußballexport Transdanubiens irgendwann doch ein Denkmal setzen wollte, könnte man einen Weg oder eine Gasse, vielleicht ja sogar eine Straße nach ihm benennen. Oder man könnte vom Trainingsgelände der Asperner Löwen ein paar Minuten den Biberhaufenweg entlanggehen und auf den Asperner Heldenplatz stoßen, wo der Löwe von Aspern aus Sandstein auf seiner Empore liegt. Er erinnert an Napoleons Niederlage 1809 gegen die österreichischen Truppen unter Erzherzog Carl und an die in der Schlacht gefallenen Soldaten. Auch wenn die Löwenfigur in Überlebensgröße geschaffen wurde, füllt sie den Heldenplatz bei Weitem nicht aus. Es wäre also noch ein wenig Raum für ein zweites Denkmal.