Читать книгу Hermes oder Die Macht der grauen Zellen - Felix Heidenberger - Страница 10
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ОглавлениеAufs Neuste beflügelt, mit einem Extraexemplar des Mischkrug unterm Arm, fuhr Professor Hermes zurück zum Leipziger Hof, sich geistig, seelisch und körperlich auf den Fernsehauftritt mit Dr. Herma Schäfer vorzubereiten. Sie war es ja immer noch, die Herma aus dem vorigen Jahr. Sie hatte sich nur äußerlich verwandelt, redete er sich ein, weil sie zu einem anderen Termin beordert war – in den Zoo! Wie vielseitig doch dieser Beruf einer Fernsehjournalistin ist! Ob es ihr etwas ausmachte, einmal einen Affen und dann einen Buchautor zu interviewen? Auf Äußerlichkeiten schien sie wenig Wert zu legen. Oder unterdrückte sie vielleicht bewusst ihre weibliche Ausstrahlung, die ihn bei ihrer ersten Begegnung so stark beeindruckt hatte? Hatte diese Wandelbarkeit etwas mit ihrem Herma-Wesen zu tun? Mit der Vielseitigkeit des Hermes, worüber wir damals im Chinarestaurant gesprochen hatten? Ist sie vielleicht gar ein Hermaphrodit – halb männlich, halb weiblich? Der Gedanke faszinierte ihn. Ich werde das prüfen müssen, nahm er sich vor.
Das Taxi setzte Professor Hermes um viertel nach sechs an der Pforte der Media City ab. Eine Volontärin erwartete ihn bereits und brachte ihn zum Studiogebäude. Dies also ist die Fabrik, in der die Meinungen gemacht werden und die Welt nach Wunsch der Einschaltquoten zurechtgezaubert wird, stellte er angesichts der vielen Gebäude und der Betriebsamkeit fest, die zur vorgerückten Stunde auf dem Gelände herrschte. Trotz wiederholter Angebote im Laufe seiner akademischen Karriere hatte er es immer abgelehnt, mit dem Medium Fernsehen näher in Berührung zu kommen. Hätte nicht Cornelia darauf bestanden, wäre nie ein TV-Empfänger in sein Haus gekommen. Um mit der Zeit und dem Tagesgeschehen auf dem Laufenden zu bleiben, genügte ihm die Zeitung, die jeden Morgen auf dem Frühstückstisch lag. Radio hörte er nur, wenn ein Konzert klassischer Musik auf dem Programm stand. Das Fernsehen war ihm unheimlich. Die ständige Schnittfolge von Bildern verwirrte ihn. Das war nicht die Wirklichkeit, auch wenn dies in den aktuellen Berichten vorgegeben wurde. Er lebte in einer anderen Welt − einer geistigen Welt, die keine Gegenwart kannte. Die alten Griechen und Römer waren ihm vertrauter als die Menschen, von denen er täglich in der Zeitung lesen musste. Den Vorwurf, er sei weltfremd, ließ er jedoch nicht gelten. Die Gegenwart bedeutete für ihn nichts Neues, sie wiederholte ja nur das Gültige aller Zeiten. Das hatte er auch in seinem Roman ausdrücken wollen. Es war ihm nicht geglückt, er hatte es längst eingesehen, schon bevor es ihm die Verlegerin schonend beizubringen versucht hatte. Umso mehr hatte ihn Hermas positives Urteil überrascht.
Die Volontärin brachte ihn zur Maske, einem Raum wie beim Friseur. Er musste sich in einen Stuhl setzen und konnte im Spiegel sehen, wie sich die Maskenbildnerin an ihm zu schaffen machte. „Muss das sein?“, fragte er ungeduldig, als sie ihm mit der Puderquaste übers Gesicht fuhr.
„Wir wollen Sie doch schön machen, Professor“, sagte sie verbindlich lächelnd.
Ist das nötig?, fragte er sich. Das Bild, das ihm aus dem Spiegel entgegensah, kannte er aus der täglichen Begegnung bei der Morgentoilette. Schön hatte er sich da nie gefunden. Man will mich hier maskieren. Für die Kamera, fürs Publikum herrichten. Wie einen Schauspieler. Ich muss hier eine Rolle spielen, die Rolle eines Gelehrten, der ein Buch geschrieben hat, das alle lesen sollen. So wünscht sich das die Verlegerin. Und Herma will dabei helfen – mir zuliebe? Er konnte es noch immer nicht begreifen. Spielte auch sie nur Theater?
Noch während die Kosmetikerin an ihm herumzupfte, sah er im Spiegel Herma hereinkommen, bereits herausgeputzt als Frau Dr. Schäfer, die Moderatorin. Sie trug wieder Hosen, doch diesmal keine Jeans, sondern hellbraun glänzende, eng anliegende lederne Leggins, dazu ein weißes Oberteil, gestickt oder gestrickt mit einem runden Ausschnitt, was sehr weiblich wirkte. Der dunkelblonde Lockenkopf, bewusst wirr frisiert, gab ihr etwas Forsches, Zwangloses. Das Rot der vollen Lippen war matt überpudert. Aber diese dominierende Ausstrahlung, die ihn schon im vergangenen Jahr gefesselt hatte, war wieder da. In der Hand hielt sie den Mischkrug. „Sie müssen mir noch etwas hineinschreiben, Professor Hermes“, sagte sie. „Vielleicht nach der Sendung. Kommen Sie, ich nehme Sie gleich mit hinüber ins Studio. Wir haben noch ein paar Minuten Zeit.“
Sie führte ihn einen Gang entlang zu einem dunklen Raum, aus dem durch eine breite Glasscheibe das Studio nebenan zu sehen war. Die Dekoration im Hintergrund ließ das aktuelle Thema der Sendung erkennen: eine zu Bergen gestapelte Bücherlandschaft. Hermes sah den Kranz von Scheinwerfern, die den Raum erstrahlten, die Kameras, die gerade eingerichtet wurden, und den Betrieb der Leute, die mit den letzten Vorbereitungen zur Sendung beschäftigt waren.
„Guido … aufgeregt?“ Herma bot ihm einen Sessel an.
Im Halbdunkel des Raumes suchte er ihr Gesicht. „Wie darf ich Sie hier anreden – Herma, Frau Dr. Schäfer?“
„Ganz wie Sie wollen, mein Lieber. Ich werde natürlich immer Herr Professor Hermes sagen. Wir machen das ganz locker. Es sind ja nur ein paar Minuten. Ich bekomme von der Regie ein Zeichen, wenn unsere Zeit um ist.“
„Unsere Zeit? Beginnt die nicht erst?“, fragte er leise. „Sehen wir uns nicht anschließend noch?“
„Ich hab nach dem Interview noch eine Moderation. Ich kann nicht gleich weg.“ Sie schien zu überlegen. „Aber Sie dürfen mich wieder zum Essen einladen, Guido. Wieder bei dem Chinesen.“
„Einverstanden.“ Er atmete erleichtert auf. „Ich werde Sie dort erwarten.“
„Es kann spät werden, aber ich komme bestimmt.“ Sie schaute durch die Scheibe ins Studio. „Ich glaube, es ist so weit“, sagte sie. „Gehen wir hinüber!“
Die Aussicht, mit Herma noch den Abend verbringen zu können − mit der wirklichen Herma, nicht der Frau Dr. Schäfer –, beflügelte ihn so, dass er den Fernsehauftritt nur noch als unbedeutendes Zwischenspiel ansah. „Ja, gehen wir“, sagte er. „Spielen wir ein wenig Theater!“
Die nüchterne Atmosphäre des Studios, der ungewohnte Stuhl, in den man ihn platzierte, die Prozedur des Einleuchtens und Hermas plötzliches Verschwinden nahmen ihm dann doch ein wenig den Mut.
Endlich erschien sie wieder und setzte sich auf den Stuhl ihm gegenüber. „Nicht auf die Kameras schauen!“, ermahnte sie ihn. „Schauen Sie nur mich an!“
Nichts lieber als das, dachte er. Herma sah bezaubernd aus. Wie eine Fee aus dem Wunderland.
„Ich werde erst ein paar Einleitungsworte sprechen und Sie vorstellen, ehe ich mit den Fragen beginne“, sagte sie.
„Was werden Sie fragen?“
„Das wird sich ergeben. Ganz zwanglos. Wie in einem normalen Gespräch. Beginnen werde ich natürlich mit dem Roman. Der Titel des Mischkrug wird dazu eingeblendet werden.“
Minuten vergingen. Eine Ewigkeit, wie es ihm schien. Herma unterhielt sich mit einem Kameramann, blätterte in dem Manuskript, das ihr jemand reichte, strich etwas durch und reichte es zurück. Ihr Gegenüber schien sie vergessen zu haben. Hermes beobachtete sie unverwandt. Was fasziniert mich so an dieser Frau?, fragte er sich. Sie ist wie aus einer anderen Welt.
Beinahe erschrak er, als Herma zu sprechen anfing. Waren sie jetzt auf Sendung?
„Professor Hermes, Sie sind Historiker und Altphilologe, einem großen Publikum aber vor allem bekannt als Autor lebensnah geschriebener Biografien berühmter Frauengestalten aus der Antike. Ich nenne nur die Lebensgeschichte Aspasias, der Grande Dame des Geisteslebens im Athen zur Zeit des Perikles im 5. Jahrhundert vor Christus – ein Buch, das zum Bestseller wurde. Dann die Biografien der Frauen aus der griechischen Tragödiendichtung: Helena, Iphigenie, Elektra, Antigone. Keine Nachdichtungen der Mythen und der Dramen, sondern akribisch recherchierte Lebensbilder aus einer Zeit, in der diese Frauen tatsächlich gelebt haben – oder haben könnten. Auch Ihr neustes Buch, Professor Hermes, versetzt den Leser in die Welt der Antike, genauer gesagt in die Zeit des Sokrates. Doch es ist diesmal kein Sachbuch, keine Biografie, sondern ein Roman. Warum?“
Hermes lehnte sich entspannt zurück. Dass Herma das Gespräch gleich mit einem Hinweis auf seine bisherigen Erfolge als Buchautor begann, gab ihm Sicherheit. In gelassenem Ton antwortete er: „Es war der Versuch einer Flucht. Als Historiker, als Wissenschaftler bin ich gebunden, sachlich zu sein, nur Fakten sprechen zu lassen. Mit der Romanform wollte ich mir die Freiheit nehmen, den Boden des Tatsächlichen ein wenig zu verlassen, in den Bereich des Möglichen – des denkbar Möglichen – vorzudringen. Ein Wagnis, ich gebe es zu.“
„Der Titel des Romans lautet Mischkrug“, sagte Herma. „Wie darf man das verstehen?“
„In mehrfacher Hinsicht.“ Hermes fühlte sich auf festem Boden. „Einen solchen tönernen Krug gab es wohl in jedem Haushalt damals in Griechenland. Aus ihm wurde das Getränk ausgeschenkt − meist Wasser oder mit Wasser vermischter Wein. Man trank den Wein selten pur. Das Mischungsverhältnis entschied, ob man nur den Durst löschen oder auch die anregende Wirkung des Alkohols genießen wollte.“
„Ist Ihr Roman so ein Mischkrug? Ein Gemisch aus Fantasie und Wahrheit?“
„So könnte man sagen“, antwortete er bereitwillig. „Auch ein Gemisch aus realer Handlung und geistiger Auseinandersetzung – formal gesehen. Inhaltlich geht es um die rechte Ausgewogenheit von Gegensätzen, etwa das Spannungsverhältnis zwischen dem Apollinischen und dem Dionysischen − dem Geistigen und dem Sinnlichen.“
„Gibt es eine reale Handlung?“ Herma wurde sachlicher, nicht mehr so im lockeren Plauderton.
„Ich muss vorausschicken“, sagte er, noch immer in den sicheren Gefilden seiner antiken Welt, „Vorbild für den Roman war ein Symposion – eine Diskussionsrunde, würden wir heute sagen −, wie es Platon in seinen berühmten Dialogen beschrieben hat. Wörtlich übersetzt: ein Trinkgelage. Die Handlung spielt zwar in der Blütezeit Athens – der Kulturhauptstadt des Mittelmeerraums damals –, die handelnden Personen sind jedoch nur Darsteller für eine zeitlose Wirklichkeit. Was gesprochen und getan wird, könnte genauso gut heute getan und gesprochen sein.“
„Und was wird gesprochen und getan?“, forschte sie nach.
„Es heißt ja, jedes Ding hat seine zwei Seiten … bedingt sich gegenseitig“, antwortete Hermes geduldig. „Tag und Nacht, hell und dunkel, heiß und kalt, Gut und Böse … und so weiter. Und eben auch das Sie und Er: das Weibliche und das Männliche.“
„Ach ja.“ Herma lächelte mehrdeutig. „Adam und Eva, das ewige Thema. Also ein Liebesroman?“
„Nein!“ Der Professor wies die Unterstellung empört zurück. „Es geht um die Geschichte der Liebe, nicht um eine Liebesgeschichte. Es ist kein Liebesroman. Das Feminine und das Maskuline – diese Begriffe stehen für mehr, nicht nur für das Geschlechtliche.“
„Interessant. Wer sind die Personen? Gibt es einen Held? Einen Protagonisten?“
Die herausfordernde Art, wie Herma − jetzt ganz die Journalistin Dr. Schäfer − zu fragen begann, irritierte ihn. Er wusste, sie hatte den Roman gelesen und kannte die Passagen, in denen er das Thema ausgiebig und anschaulich darzustellen versucht hatte. Er setzte sich etwas aufrechter, bereit, sich durch ihre Fragen nicht in die Enge treiben zu lassen.
„Der Held, wenn man so will, ist Eros – der Liebesgott“, sagte er würdevoll.
„Also doch: Erotik! Oder würden Sie sagen, da gäbe es einen Unterschied zwischen Liebe und Eros?“
Auf was wollte Herma hinaus? Ging es ihr wirklich nur um das Buch – oder wurde sie jetzt persönlich? Hermes flüchtete sich wieder in sein vertrautes Arkadien. „Sicher gibt es einen Unterschied“, erwiderte er. „Schon in der Interpretation der Worte, der Begriffe. In der griechischen Mythologie galt Eros als göttliches Wesen, einmal sogar noch über den Göttern stehend, weil er auch sie, die Götter, mit seinen Pfeilen verwunden konnte. Eros galt aber auch als geschlechtsloses Zwischenwesen zwischen Göttern und Menschen. Meist sehen wir ihn ja als nackten Knaben mit Pfeil und Bogen dargestellt, was eine geschlechtslose Erotik symbolisiert …“
„Oft missverständlich!“
„Leider, ja. Im Deutschen wird Erotik gern mit Sexualität gleichgesetzt.“ Er geriet plötzlich in Fahrt. „Wenn hier von Liebe die Rede ist, ist Eros oft weit weg. Der Begriff Liebe machen − aus dem englischen to make love – hat mit Eros wenig zu tun. Und oft reden wir von lieben, wenn wir eigentlich nur gernhaben meinen.“
„Der Eros ist also mehr“, stellte sie sachlich fest. „Die wahre Liebe − wenn ich Sie recht verstehe, Professor Hermes. Zeigt sich das im Roman? Wer sind die handelnden Personen?“
Hermes entspannte sich wieder. „Eros erscheint nicht als handelnde Person, über ihn wird nur geredet. Teilnehmer am Symposion ist ein Freundeskreis von Männern aus der Athener Gesellschaft. Agathon, ein berühmter Schauspieler – ein Fernsehstar, würden wir heute sagen –, ist Gastgeber. Unter den Gästen – man muss sie sich halb sitzend, halb liegend um einen Tisch herum gelagert vorstellen − ist der Arzt Eryximachos. Als Heilkundiger hat er einiges aus eigener Erfahrung zum Thema Eros zu sagen. Der Komödienschreiber Aristophanes ist ebenfalls dabei. Für ihn gibt es keine Kunst ohne den Eros. Der Politiker und Playboy Alkibiades wiederum will den Eros auch für das Staatswesen in Anspruch genommen wissen. Alles nur Namen, wie gesagt, die austauschbar sind. Im Mittelpunkt steht der Philosoph Sokrates, ein Außenseiter der Gesellschaft, aber als unterhaltsames Original immer gern gesehen. Zwei Frauen vertreten das weibliche Element: einmal Diotima, die schöne Geliebte des Sokrates, und Xanthippe, seine hässliche Ehefrau.“
„Eine interessante Mischung. Und die Handlung? Wird immer nur geredet, oder geschieht auch wirklich etwas?“
Herma sprach den Punkt an, den auch die Verlegerin kritisiert hatte. Es gab zu wenig Handlung in dem Roman. Dankbar für die Frage, nahm er die Gelegenheit wahr, den Vorwurf zu mildern. „Es sind Handlungen und Geschehnisse, die ineinandergreifen. Und Erlebnisse, die erzählt werden.“
„Ein Beispiel?“
„Es geht um die Frage, was ist besser: geliebt zu werden oder zu lieben? Einer, der junge Lysias, der allgemein beliebt ist, behauptet, alle Menschen trachteten doch danach, geliebt zu werden – sich beliebt zu machen. Das bringe Vorteile. Es gebe nichts Schöneres, als von allen geliebt zu werden. Um das zu erzielen, müsse sich der Mensch eben entsprechend verhalten – also immer gut sein. Böse Menschen würden nicht geliebt.
Man gibt ihm recht. Doch der ältere Phaidros, ein glücklicher Familienvater, hat Gegenargumente. Geben ist schöner als Nehmen, sagt er. Die Liebe zwischen zwei Menschen sei Hingabe. Der Liebende will sich dem – oder der – Geliebten schenken. So gehe es jedenfalls ihm und sicher auch seiner Frau. Das erfahre er jeden Tag. Es gäbe aber auch Fälle, wo der geliebte Mensch gar nicht geliebt werden wolle, wo ihm der Liebhaber lästig ist wie ein unerwünschtes Geschenk oder das, was er Liebe nenne, nur Begierde ist.
Auch hierfür erhält Phaidros Beifall. Daraufhin wenden sich alle an Sokrates, er solle entscheiden, wessen Argumente die besseren seien.“
Herma hatte aufmerksam zugehört. „Das war für den alten Weisen, der immer erklärte, er wisse nur, dass er nichts wisse, sicher nicht einfach.“
„Oh doch“, sagte Hermes. „Er gab beiden recht, mit dem Hinweis, die Liebe sei ein Gottesgeschenk. Es hänge nur davon ab, auf wen Eros mit seinen Pfeilen ziele.“
„Gibt es dafür noch andere Beispiele?“
„Ja. Auch für die Vielseitigkeit des Eros. Er kann sich auf sehr unterschiedliche Weise bemerkbar machen: in der Liebe zur Natur, der Liebe zur Arbeit, der Liebe zur Kunst. Jeder erzählt aus eigenem Erleben, und Sokrates’ Weisheit bewahrheitet sich. Agathon, der Hausherr, bittet die Flötenspielerin herein, die schon lange vor der Tür gewartet hat. Für ihn ist Musik der Inbegriff des Eros – ist Musik die Sprache des Eros. Alle lauschen dem Flötenspiel und sind sich einig: Es klingt wunderschön. Das herbe Männliche, das Taktgebende, und das melodiöse Weibliche klingen harmonisch im rechten Maß vereint. Ein Zeichen, dass Eros die Spielerin beflügelt hat.“
„Wie schön!“ Herma schien sichtlich bewegt. „Ein anderes Beispiel?“
„Der Komödiendichter Aristophanes erfindet eine Geschichte, in der er den Eros auf seine Weise erklärt – mit Humor. Es ist die inzwischen berühmte Geschichte, in der die Menschen ursprünglich Kugelgestalt hatten, eine weibliche und eine männliche Hälfte. Das hat sie so mächtig werden lassen, dass Göttervater Zeus den Hephaistos, den Gott der Schmiedekunst, beauftragte, die Kugeln zu halbieren. Der listige kleine Eros hat aber – um Zeus zu ärgern – dafür gesorgt, dass die getrennten Hälften immer nach einer Wiedervereinigung trachten müssen. Damit ist er noch immer beschäftigt, meint Aristophanes – nicht nur um Zeus zu ärgern, sondern um der Macht der Liebe willen.“
„Eine originelle Parodie!“ Die Kamera zeigte Herma in Großaufnahme, den schönen Mund leicht geöffnet, was sehr sinnlich aussah. Auch Hermes hatte es bemerkt und als Gruß an ihn gedeutet. Sie fuhr jedoch fort: „Was sagt denn der weise Sokrates dazu?“
„Zunächst gar nichts.“ Hermes wandte den Blick von ihr ab, um sich zu konzentrieren. „Er hat sich nur angehört, was jeder unter dem wahren Eros versteht. In der Zwischenzeit taucht in der Gesprächsrunde seine Frau Xanthippe auf. Sie will ihren Mann nach Hause holen. Beschimpft ihn, betrunken zu sein, was er widerlegt, indem er sie aus seinem Becher trinken lässt, der mehr Wasser als Wein enthält. Am meisten ärgert sich Xanthippe über die schöne Diotima, die neben Sokrates lagert. Sie weiß, dass die beiden ein Liebesverhältnis haben. Sokrates weigert sich, seiner Frau zu folgen, sie kehrt jedoch mehrmals wieder, und das Ganze wiederholt sich. Alkibiades stellt Sokrates zur Rede, warum er sich von seiner Frau so tyrannisieren lasse. Sokrates antwortet darauf: Ich brauche das. Xanthippe ist mein Wächter. Sie bewahrt mich davor, der Versuchung durch Diotimas Schönheit zu erliegen. Dabei umarmt er die junge Frau, die tatsächlich eine göttliche Schönheit ist. Sie ist dem hässlichen Sokrates aber nicht nur an Schönheit überlegen, sondern in Klugheit mindestens ebenbürtig. In dieser Ausgewogenheit ihres Wesens erkennt Sokrates die Verkörperung des Eros. Ihr zu verfallen, würde seiner Weisheit widersprechen. Deshalb folgt er schließlich Xanthippe, die ihn den Armen Diotimas entreißt.“
„Dann ist also am Ende Xanthippe die Siegerin?“, fragte Herma, sichtlich enttäuscht von der Wendung.
„Nein, die Vernunft!“ Hermes, wieder ganz der gelehrte Professor, hob beschwörend den Arm.
„Das darf dann wohl der Leser entscheiden“, sagte Herma kurz. Sie hatte das verabredete Zeichen vom Aufnahmeleiter hinter der Kamera bekommen.
„Ich danke Ihnen, Professor Hermes, für die interessanten Einblicke in Ihren Roman. Der Mischkrug – ein auf besondere Art sicher auch spannender Roman für Leser, die Spannung nicht nur im Schwarz-Weiß der Kriminalromane suchen.“
Die Scheinwerfer erloschen. Hermes fand sich plötzlich im Finstern.