Читать книгу Hermes oder Die Macht der grauen Zellen - Felix Heidenberger - Страница 7

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Im Frühstücksraum waren bereits nahezu alle Tische belegt, als Professor Hermes eintrat. Die Mehrzahl der Gäste schienen ebenfalls Messebesucher zu sein, so kam es ihm vor: kulturbeflissene ältere Herrschaften, paarweise oder einzeln, aber immer seriös, dazwischen auch jüngere Damen, bebrillt, in strengem Kostüm manche, andere in Jeans und schlichter Verhüllung.

Er holte sich einen Teller mit dem Nötigsten vom Büffet und steuerte auf den letzten noch freien Zweiplätzetisch zu.

Ein anderer Herr kam ihm zuvor. „Verzeihung! Ich dachte, hier sei noch frei“, sagte er.

Zu spät erkannte Hermes die hagere Gestalt. Es war kein anderer als der schwarz berockte lästige Krimiautor Krumbiegel. Nicht gerade erfreut blickten sie einander an.

„Nicht mehr!“, sagte Hermes, stellte den Teller ab und setzte sich.

Krumbiegel tat es ihm nach. „Immerhin sind ja zwei Stühle da“, sagte er mit falschem Grinsen, das Hermes schon kannte.

Er kam sich vor wie Müller-Lüdenscheidt aus dem Loriot-Sketch, war versucht, darauf zu bestehen, dies sei seine Badewanne. Stattdessen bemerkte er nur: „Sie verfolgen mich!“

„Sieht fast so aus“, erwiderte Krumbiegel ungerührt.

Ein Serviermädchen brachte Kaffee, wollte einschenken. „Ich nehme Tee“, entschied Hermes spontan und hielt die Hand schützend über seine Tasse. Kaffee aus der gleichen Kanne mit diesem Mann widerstrebte ihm.

„Heißes Wasser und Teebeutel gibt’s am Büffet“, erklärte die Maid und bediente freundlich sein Gegenüber.

„Sie müssen schon entschuldigen, verehrter Professor Hermes, wenn ich Ihnen wieder lästig falle“, hob Krumbiegel an. „Ich hatte eigentlich im City am Bahnhof gebucht, hab aber versäumt, gleich nach Ankunft dort einzuchecken. Bin sofort mit dem Taxi zur Messe gefahren. Man hatte mich erwartet. Wie’s dann so geht: Man hat sich um mich gerissen – meine Lesergemeinde, Sie verstehen. Eins kam zum anderen. Der Verlag hatte irgendwo am anderen Ende der Stadt einen Empfang vorbereitet. Man hat mich dahin verschleppt. Wirklich wahr! Es wurde fast Mitternacht, bis ich endlich loskam und meinen Koffer fand, den man mir vorsorglich abgenommen hatte. Im City hieß es dann, mein Zimmer sei anderweitig vergeben. Die hatten nicht mehr mit meinem Kommen gerechnet. Nach einer Umfrage in der Bettenzentrale wurde ich dann hierherverwiesen.“

Hermes hatte sich seinen Tee geholt und widerwillig zugehört. Was geht mich dieser Mensch an?, fragte er sich. Er soll zum Teufel gehen – zu seiner Fangemeinde! Der Tag war ihm verdorben. Dabei war er doch mit Vorfreude auf das Wiedersehen mit Herma aufgewacht.

Um seinen Widerpart möglichst rasch loszuwerden, beeilte er sich mit dem Frühstück. Als er aufstand, erhob sich Krumbiegel ebenfalls, als folgten beide einem geheimen Mechanismus.

„Ich habe ein Taxi bestellt“, sagte er. „Wir können gemeinsam fahren. Um diese Zeit ist es ja schwer, ein Taxi zu bekommen.“

Es half nichts. Er musste froh sein, das Taxi mitbenutzen zu dürfen. Um Distanz bemüht, setzte sich Hermes vorn neben den Fahrer. Was Krumbiegel jedoch nicht abhielt, ihn vom Rücksitz aus weiter zu belästigen.

„Kennen Sie die Verkaufszahlen von Ihrem neuen Roman?“, fragte er, nur um sich mit eigenen Zahlen brüsten zu können. „Mein Todesengel hat die Zehntausend schon überschritten! Muss trotzdem um elf Uhr eine Lesung machen. Der Verlag besteht darauf. Im großen Saal. Werden Sie kommen? Ich lasse Ihnen einen Platz reservieren.“

Hermes tat, als habe er nicht zugehört. Zehntausend verkaufte Exemplare! Diese Auflage würde sein Roman nie erreichen. Seine Verlegerin, Frau Buchmann, hatte für heute Nachmittag einen Präsentationstermin angesetzt. Hermes hatte nur auf ihr Drängen hin telefonisch zugesagt – und in der Hoffnung, Herma dabei zu sehen. Dass der Roman ein Erfolg werden würde, so wie sein Buch im vergangenen Jahr, glaubte er schon lange nicht mehr. Zu viel Herzblut steckte darin, zu viel persönliches Anliegen – zu wenig Handlung, keine Spannung, zumindest nicht im äußeren Ablauf des Geschehens. Die innere Dramatik war kein Roman: das Ringen um Wahrheit, die Sehnsucht nach Frieden zwischen dem Ewig-Gegensätzlichen – nach der Harmonie der Liebe.

Krumbiegel plapperte unentwegt weiter. „Es gibt Leute, die lesen keine Krimis. Ich verstehe das. Das sind Leute, die sich nachts im Wald fürchten, die Flugangst haben. Wissen Sie was, Professor: Das sind Leute, die ein schlechtes Gewissen haben. Die würden auch mal ganz gern so’n Ding drehen oder auch mal einen umbringen. Aber dazu sind sie zu feige. Aber die Polizeiberichte in der Zeitung, die verschlingen sie, Prozessberichte, wo’s um Verbrechen geht – um Gewalttaten oder auch nur um spektakulären Steuerbetrug –, so was lesen sie gierig. Warum? Ich sag es Ihnen, Professor: Das sind die Leute, die Möchtegerns, die’s nie zu was bringen. Die lesen Liebesromane, Fantasiegeschichten, die immer gut ausgehen, utopisches Zeug über eine Welt, die es nicht gibt. Krimis? Pfui!

Sie gehören natürlich nicht zu dieser Art Leute, Professor. Sie lesen alles, auch mal ’nen Krimi, wenn er gut ist. Ich geb’s zu: Das meiste, was da heute auf dem Markt ist, ist primitives Zeug. Abklatsch von der alten Masche: Whodunit – Jagd nach dem Täter, wobei sich dann herausstellt, der Gärtner war’s. Oder so hirnrissige Fantasiegeschichten à la James Bond, die nur fürs Kino gut sind. Und fürs Fernsehen. Da gibt’s ja am Abend nur noch Krimis. Das meiste ist stumpfsinniger Quatsch aus Amerika. Aber ein Beweis, dass Krimis gefragt sind. Deswegen schreib ich ja welche. Und weil sie Geld bringen …“

Er kicherte und tippte Hermes auf die Schulter. „Sie hören mir gar nicht zu. Woran denken Sie, Professor? Wie schlecht die Welt ist? Da haben Sie recht. Aber nicht nur die Welt ist schlecht. Die Menschen sind’s vor allem. Ich weiß, wovon ich rede. Lesen Sie meine Bücher! Kommen Sie zu meiner Lesung, heute um elf.“

Das Taxi war im Stau stecken geblieben. „Ega das Gleiche um die Zeit!“, stöhnte der Fahrer. „De Leude fahrn wie bleede!“

Auf der Messe angekommen, trennten sich ihre Wege. Krumbiegel suchte seinen Verlag auf, Hermes ließ sich ziellos durch das Büchermeer von Halle zu Halle treiben. Eine Sintflut in Papier, so kam es ihm vor. Ein Tsunami! Ein Hekatombenopfer geistiger Ausgeburten zur Weihe des Konsums! Wer sollte all das lesen? Der Pilgerstrom, der ihn mitriss, bestimmt nicht. Hier wurde nicht gelesen, nicht gekauft. Hier wurde nur geschaut. Wohin das Auge fiel, lockten bunte Titel. Die Sprache der Bilder war lauter als das gedruckte Wort. Warum schreiben die Menschen so viele Bücher?, fragte er sich. Weil so viele Menschen Verlangen danach haben? Oder doch nur, weil sie sich mitteilen wollen – ihr Herz ausschütten, ihren Verstand – zum Preis von 19,90? Warum schreibe ich denn? Doch nicht, weil man danach fragt. Niemand zwingt mich. Nicht wegen des Geldes. Doch auch nur, weil ich mir einbilde, einiges besser zu wissen, weil ich mein Licht nicht unter dem Scheffel der Wissenschaft lassen will, sondern leuchten lassen zum Ruhm meiner Weisheit. Welch ein Selbstbetrug! Ihm wurde plötzlich klar: Ich hätte den Roman niemals schreiben sollen. Er geht unter in dieser Flut hier. Niemand legt Wert auf meine Weisheiten, meine Fantasien …

Jemand sprach ihn an. „Professor Hermes! Sie auch hier!“ Der Herr hob die Hand zur Begrüßung. Hermes wusste nicht, wer er war. „Hab Ihr Buch gesehen, drüben in Halle 4. Gratuliere! Werd es mir kaufen.“ Er verschwand in der Menge.

Die unerwartete Bestätigung seiner Existenz als Autor schreckte Hermes auf, als sei er aus einem Albtraum erwacht. Entschlossenen Schrittes, auf einmal, strebte er der nächsten Halle zu, wo der C. H. Buchmann Verlag seinen Stand hatte.

Lilott Buchmann, rüstige Witwe des Verlagserben Curt Heinrich Buchmann, empfing ihn mit gespielt vertraulicher Herzlichkeit. „Schön, dass Sie da sind, lieber Guido!“ Sie umarmte ihn und vollzog das Kussritual, ihm die Wange reichend – links, rechts, links –, obwohl sie die Abneigung des gelehrten Mannes gegen jede Art von Gefühlsregung kannte. Was sie nicht davon abhielt, ihn mit Vornamen anzureden, wenn es um Persönliches ging. Es desgleichen zu tun, widerstrebte ihm. Lilott! Welch unmögliche Karikatur eines Namens! Noch dazu bei der fülligen Figur!

„Wir müssen reden. Kommen Sie!“ Sie zog Hermes hinter die dekorative Bücherwand, wo ein behelfsmäßiges Büro mit zwei Sitzgelegenheiten eingerichtet war. Die Prinzipalin wollte auch während der Messe die Zügel ihres Verlages stets in der Hand haben.

Was gab es da noch zu reden?, fragte sich Hermes misstrauisch. Sein Pessimismus, was den Erfolg seines Mischkrug betraf, war keineswegs gewichen. Wie berechtigt, zeigte sich gleich.

„Wir müssen etwas tun für den Roman“, sagte die Verlegerin. „Sie wissen, wie sehr ich Sie schätze, Professor Hermes. Nicht nur als unseren bewährten Autor. Auch als Mensch! Das ganz besonders!“ Sie drückte ihm freundschaftlich die Hand, während sie sich setzten. „Ihre fundiert wissenschaftlichen Sachbücher, die wir herausgebracht haben, waren immer ein Erfolg“, begann sie. „Nicht immer Bestseller – aber sie haben die Unkosten gedeckt. Sie haben eben Ihr eigenes, festes Publikum. Aber …“ Sie griff sich an den Hinterkopf, als müsse sie ihren Haarschopf zurechtrücken – eine typische Handbewegung, die alle im Verlag kannten: ein Signal, dass jetzt etwas Unangenehmes kam, das auszusprechen ihr schwerfiel. „Das neue Buch geht an Ihrem Publikum vorbei. Das sind keine Romanleser …“

Hermes wollte sie unterbrechen. Ihm war selbst klar geworden, dass er kein Romanschriftsteller war.

Doch Lilott Buchmann duldete keine Unterbrechung. „Wenn es wenigstens ein guter Roman geworden wäre“, fuhr sie gnadenlos fort, „mit einer stringenten Handlung, mit erotischen Details, dann bräuchten wir uns keine Sorgen zu machen, dann würde er seinen Weg gehen. So aber nicht. Es wird da ja immer nur geredet.“ Sie seufzte, schlug sich auf die straff geschnürte Brust. „Es ist meine Schuld. Ich hatte Sie ja dazu ermutigt. Es war mein Fehler. Nehme alle Schuld auf mich. Ich hätte wissen müssen … Ach, lassen wir das jetzt!“ Sie wischte das heuchlerische Eingeständnis mit einer Geste beiseite. „Wir müssen jetzt nach vorn schauen. Das Beste daraus machen.“

Lilott Buchmann setzte wieder ihr eingeübtes Lächeln auf. „Kein Grund, traurig zu sein, lieber Guido! Es gibt Hoffnung. Wie ich Ihnen schon am Telefon sagte, diese Redakteurin vom MDR, Dr. Herma Schäfer, hat sich den Mischkrug vom Verlag kommen lassen. Offensichtlich ist sie sehr angetan davon. Sie schätzt Sie, Guido. Voriges Jahr hat sie die glänzende Besprechung Ihres Rom-Buches gebracht. Jetzt will sie unbedingt wieder ein Interview mit Ihnen. Ich hab’s ihr zugesagt. Sie wird gegen vier heute Nachmittag hier am Stand sein. Wappnen Sie sich, lieber Hermes! Sie kennen die Dame ja bereits. Seien Sie nett zu ihr! Wenn sie eine Sendung mit Ihnen macht, wird der Mischkrug nicht zu Bruch gehen.“

Als der Name Dr. Herma Schäfer gefallen war, hatte es den Professor heiß durchfahren. Schäfer hieß Herma also, und promoviert hatte sie! In neuem Licht erschien sie ihm plötzlich. Distanzierter, nicht so vertraut wie in seinen Träumen.

„Ich sehe es Ihnen an“, sagte Lilott. „Die Aussicht auf das Interview hat Sie aufgemuntert.“ Sie erhob sich. „Jetzt schauen Sie sich noch ein wenig auf der Messe um. Wenn Sie wollen, können wir mittags zusammen einen Snack im Restaurant nehmen. Ich hab einen Tisch reserviert.“ Sie geleitete Hermes wieder nach vorn, wo einige Neugierige vor der Bücherwand mit den Neuerscheinungen des Verlages standen. Von dem älteren Herrn nahmen sie keine Notiz.

Hermes überlegte, ob er noch zum Friseur gehen sollte, sich die Haare schneiden lassen. Die Erwartungsfreude, die ihn vorübergehend verlassen hatte, war zurückgekehrt. Unentschlossen schweifte er noch mal durch die Halle, wo sich die Hörbuchverlage etabliert hatten. Leute hockten da herum mit riesigen Kopfhörern über den Ohren, den Blick verloren ins Nichts gerichtet. Er ließ sich zeigen, was es da zu hören gab.

„Alles, was Sie wollen“, erklärte die Hüterin der Kopfhörer. „Die neuesten Bestseller, Krimis, Liebes- und Abenteuerromane, Erotisches vielleicht …?“ Sie schaute ihn kritisch an. „Wenn Sie wollen, auch Gedichte.“

Er verzichtete. Für ihn waren Bücher zum Lesen da, nicht zum Hören. Jedes Buch daheim in seiner Bibliothek war für ihn sichtbarer geistiger Besitz.

Als Historiker und Altphilologen war ihm aber auch bewusst, dass sich in der Blütezeit Athens und im alten Rom das Geistesleben weniger im gedruckten als viel mehr im gesprochenen Wort offenbarte. Die Beherrschung der Redekunst war wichtiger als die Handfertigkeit der Skribenten. So hatte er auch seinen Roman angelegt: als lebendigen Austausch von Gedanken und Meinungen, in Rede und Gegenrede, Argument und Gegenargument, nach dem Vorbild von Platons Dialogen. Die Überzeugungskraft des gesprochenen Wortes – ob als Lüge oder Wahrheit –, wenn nur der Redner die Kunst beherrschte, Sinn und Bedeutung in die gewünschte Richtung zu drehen. So kann sowohl Liebe geweckt wie Hass geschürt werden. Das hatte er darstellen wollen. Aber angesichts der überwältigenden Bücherflut hier und Lilotts unverhohlenem Urteil gab es keinen Zweifel mehr für ihn, dass ihm dies nicht gelungen war. Einziger Lichtblick war jetzt nur noch das bevorstehende Wiedersehen mit Herma.

Im Weitergehen geriet Hermes in das Reich von Amazon, der weltweit größten Internetbuchhandlung, wie da zu lesen stand. Hier fand er tatsächlich alles feilgeboten, was je geschrieben wurde, gleich in welcher Sprache. Von dem virtuellen Angebot hatte er selbst schon Gebrauch gemacht.

An einem besonderen Stand hielt ihm eine der herumschwirrenden Hilfskräfte das neueste Kindle entgegen. „Haben Sie schon eines?“, fragte sie herausfordernd. Mit geschultem Blick hatte sie in Hermes einen Intellektuellen der älteren Generation erkannt.

„Ich brauche so was nicht“, sagte er, das schwarze Täfelchen zurückweisend.

„Sie haben sicher eine eigene große Bibliothek zu Hause. Stimmt’s? Die können Sie bestimmt nicht auf Reisen mitnehmen.“

„Brauche ich auch nicht“, gab er zurück und wollte weitergehen.

„Nun – was man schwarz auf weiß besitzt, kann man getrost nach Hause tragen. Sie kennen das Zitat?“

Hermes lachte. „Wer kennt es nicht!“

„Könnten Sie es korrekt im Wortlaut wiedergeben, in ganzer Länge?“ Sie tippte auf das schmale Tablet in ihrer Hand und schaute ihn dabei herausfordernd an.

„So ungefähr, vielleicht“, sagte er. „Aber wozu?“

„Nur als Beispiel.“ Ein weiteres kurzes Tasten aufs Display, dann erschien schon das Originaltitelbild: Johann Wolfgang von Goethe – Gesammelte Werke.

Der Finger wischte hin und her, als würde sie in dem Gesamtwerk blättern. Schon war sie bei Faust I. Ein paar Wischer noch. „Da, schauen Sie!“ Sie reichte ihm das Kindle, auf dem zu lesen war:

Schüler:

Das sollt Ihr mir nicht zweimal sagen!

Ich denke mir, wie viel es nützt;

Denn was man schwarz auf weiß besitzt,

Kann man getrost nach Hause tragen.

„Na schön“, sagte Hermes. „Aber nach Hause tragen kann ich das Buch trotzdem nicht.“

„Selbstverständlich können Sie das“, versicherte die junge Dame. „Mit dem Kindle in Ihrer Westentasche haben Sie die gesamte Weltliteratur immer griffbereit. Das meiste sogar kostenlos. Sie brauchen es nur abzurufen.“

Hermes betrachtete den Zauberspiegel, ungläubig. Um eine Probe aufs Exempel zu machen – und um die Dame in Verlegenheit zu bringen –, forderte er sie auf: „Zeigen Sie mir Platons Dialog Phaidros. Ich möchte eine Stelle nachlesen.“

„Kein Problem“, sagte sie, tippte wieder ein paarmal aufs Display, schon stand da:

Platon – Phaidros

Übersetzung von Friedrich D. E. Schleiermacher

Einleitung: Gewöhnlich führt dieses Gespräch noch die zweite Überschrift: „Oder vom Schönen“; ist auch wohl sonst bisweilen „Von der Liebe“ und „Von der Seele“ genannt worden …

Verblüfft reichte Hermes das Tablet-Täfelchen zurück. Es war also Wirklichkeit. Die Weisheiten von zweitausend Jahren gibt’s jetzt frei Haus – umsonst sogar, wie die junge Dame triumphiert! Wohl nicht nur kostenfrei, sagte er sich. Umsonst – vergebens auch für die Welt von heute, die längst neue Weisheiten erfunden hat und sich an Romanen satt liest oder am Abfall des täglichen Gedankenmülls in den Zeitungen, nicht zu reden von der geistigen Schmalkost des allabendlichen Mattscheibenplunders.

Mehr erbittert als erfreut über die neue Entwicklung auf dem Buchmarkt schlenderte Hermes weiter und kam bei seinem Rundgang am Vortragssaal vorbei, wo gerade die Türen geschlossen wurden. Er warf einen Blick hinein und sah den unausstehlichen Krumbiegel auf dem Podium. Wie ein schwarzer Rabe hockte er auf einem niedrigen Schemel, die Beine über Kreuz, im Schoß sein Buch. Scheinwerferlicht spiegelte auf seiner Glatze. Erwartungsvolles Raunen im Publikum brach ab, als der Autor mit theatralisch schleppender Stimme zu lesen begann:

„Das Haus gegenüber! … Mit dem Haus stimmte etwas nicht. Wer wohnte darin? Wohnte überhaupt jemand dort? Ein Junge, der zwölfjährige Klaus-Jürgen, starrte aus dem Fenster hinüber. Früher … ja, da hatten dort richtige Leute gewohnt, erinnerte er sich … Die jetzt dort ein und aus gingen, das waren Kriminelle. So hatte der Vater gesagt. Dunkelhäutige, schwarzhaarige Männer … Manchmal war auch eine Frau dabei … Bestimmt auch sie eine Kriminelle, sagte sich Klaus-Jürgen. Sie kamen meist erst nachmittags, verschwanden am Abend … oder blieben auch länger. Die Fenster blieben immer geschlossen, die Rollläden heruntergelassen. Einmal war jemand da gewesen … hat ein Fenster hochgezogen – rechts oben im ersten Stock, genau gegenüber seinem Kinderzimmer. Als es dunkel wurde, fiel der Rollladen runter. Ein Spalt blieb offen … Lichtschein flimmerte. War’s eine Kerze? Eine Taschenlampe? Dann war’s wieder finster …“

Krumbiegel warf einen Blick ins Publikum, sich zu vergewissern, dass alle gespannt zuhörten.

„Es kam der entscheidende Tag“, fuhr er bedeutungsvoll fort. „Klaus-Jürgen lag wieder auf der Lauer. Es war Nachmittag. Das Fenster genau gegenüber stand weit offen. Er sah: Männer bauten eine Kamera auf … Scheinwerferlicht schwenkte hin und her … Nach einiger Zeit erschien eine Frau. Sie lief am Fenster vorbei. Klaus-Jürgen erschrak. Sie war nackt. Hatte er richtig gesehen? Da war sie wieder – völlig nackt, nur in Strümpfen! Die Männer fielen über sie her. Was machten sie mit ihr? … Klaus-Jürgen starrte ungläubig hinüber … Sie bringen sie um!, flüsterte er. Es sah so aus. Ihm gingen die Augen über … Er wollte schreien. Da fiel der Rollladen plötzlich runter. Noch immer starrte er dahin, wo das Licht durch die Ritzen flimmerte. Schatten wanderten umher … Seine Fantasie ließ ihm keine Ruhe … Später, im Bett, verfolgte ihn das Gesehene noch im Traum …

Wie schon oft stand das Haus wieder Tage lang leer. Niemand ging ein oder aus. Klaus-Jürgen ließ die Neugier keine Ruhe. Er hatte beobachtet, wie mal ein Mann durch das angelehnte Kellerfenster gekrochen war. Er fasste sich ein Herz, schlich hinüber.“

Krumbiegel blickte auf und wandte sich an die Zuhörerschaft. „Ich muss hier einfügen“, sagte er in sachlichem Ton, „von diesem heimlichen Ausflug des Zwölfjährigen in das Nachbarhaus hat niemand etwas erfahren. Nur ich weiß davon.“

Als sei dies eine wichtige Anmerkung gewesen, hielt er sein Buch hoch, blätterte um und fuhr fort:

„Zu Klaus-Jürgens Überraschung fand er das Haus völlig leer. Er durchstreifte alle Zimmer. Es gab keine Möbel, weder Tische noch Stühle. Ein paar leere Kisten standen herum … In der Küche entdeckte er zwei Gläser in der Spüle. In einem war noch ein gelber Rest. Er roch daran. Orangensaft, dachte er und nippte an dem Rest. Es schmeckte süßlich … ein wenig auch nach Alkohol. Die Flasche daneben war noch halb voll. Er spürte den Alkohol auf der Zunge. Das machte ihm Mut. Noch einen Schluck aus der Flasche … Alkohol war ihm ja verboten. Aber es schmeckte gut … Vielleicht gab es noch mehr Verbotenes hier? Er stieg nach oben. Im ersten Stock fand er einen Raum mit Teppichen ausgelegt … Es war das Zimmer mit dem Fenster gegenüber seinem Kinderzimmer. Eine niedere Liege stand in der Mitte. Klaus-Jürgen wusste gleich: Da war der Mord geschehen – oder was immer es gewesen war, was die Männer mit der Frau gemacht hatten … Klaus-Jürgen setzte sich auf die Liege und schloss die Augen … Die Bilder kehrten wieder, die ihn nicht mehr losgelassen hatten seit dem Tag … Die nackte Frau! Deutlich sah er alles noch mal … Plötzlich schrak er auf. Er hörte Schritte … War doch noch jemand im Haus? … Er bekam es mit der Angst. Auf Zehenspitzen schlich er wieder hinunter in den Keller. Wie er durchs Gitterfenster kriechen wollte, bemerkte er die schwarze Jacke am Wandhaken. Die war vorher nicht dort gewesen. Aus der Seitentasche lugte ein blaues Schulheft. Weil es aussah wie seine eigenen Schulhefte, nahm er es an sich, schlüpfte hinaus und eilte heim.“

Der Autor hielt das Buch hoch und wandte sich an seine Zuhörergemeinde. „Wenn Sie jetzt wissen wollen, was es mit diesem Heft auf sich hat, müssen Sie das Buch lesen. Ich kann Ihnen nur verraten: Das Heft ist der Schlüssel zum Roman. Die Handlung geht aber zunächst so weiter.“

Er setzte sich wieder in Positur, schlug die Beine übereinander und fuhr fort:

„Wenige Tage nach dem heimlichen Besuch im Nachbarhaus erkrankte Klaus-Jürgen an einem seltsamen Fieber. Es wurde so heftig, dass man um sein Leben fürchtete. Der Junge verlor das Bewusstsein und starb tatsächlich am folgenden Tag … Die genaue Todesursache konnte nicht festgestellt werden … Um das Treiben im leer stehenden Haus kümmerte sich niemand mehr … Bis eines Nachts Sirenen heulten und die Nachbarschaft aufschreckten. Polizeiautos mit Blaulicht stoppten vor dem Haus, auch ein Krankenwagen kam. Bewaffnete stürmten hinein. Wenig später trugen zwei Männer eine Leiche heraus …“

„Hören Sie auf! Hören Sie endlich auf!“, schrie ein Mann, der sich durch die Reihen der Zuhörer im Saal drängte.

Krumbiegel brach seine Vorlesung ab. Der Störenfried war der gleiche Kapuzenmann, der schon gestern versucht hatte, bei Lesungen von Krimiautoren auf sich aufmerksam zu machen.

„Sie vergiften die Gehirne der Menschen mit Ihren Geschichten!“, rief er. „Verbrechen, Unmenschlichkeiten, Abnormitäten – das ist Ihr Geschäft. Davon leben Sie … Sie sind ein Abgesandter des Teufels!“

Zwei Ordnungsmänner, die am Eingang bereitstanden, ergriffen den Mann. Er ließ sich widerstandslos abführen.

Krumbiegel war aufgestanden. Mit einem Blick auf die Verlagsdame, die hinter ihm gesessen hatte, und auf das Publikum fragte er: „Ich weiß nicht, soll ich weiterlesen?“

„Ja! Weiter, weiter!“, antwortete es im Chor.

Die Vertreterin des Verlags war verunsichert. „Ich glaube, es ist besser, wir brechen ab“, sagte sie. „Herr Krumbiegel ist aber bereit, Autogrammwünsche zu erfüllen.“

Hermes oder Die Macht der grauen Zellen

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