Читать книгу Hermes oder Die Macht der grauen Zellen - Felix Heidenberger - Страница 8
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ОглавлениеDer Zwischenfall wurde gleich Gesprächsthema im Messerestaurant. Auch am reservierten Tisch des Buchmann Verlages. Die Verlegerin hatte einen neuen Autor mitgebracht, von dessen Erstlingswerk sie sich offensichtlich mehr versprach als von Hermes’ Roman. Sie machte die beiden Gelehrten miteinander bekannt. „Dr. Eliya Singh hat in Amerika studiert“, sagte sie. „Spricht fließend Englisch, aber auch sein Deutsch ist einwandfrei. Er ist ein Phänomen – nicht nur sprachlich. Er hat einen doppelten Doktor!“ Sie strahlte den jüngeren Gast – offensichtlich indisch-asiatischer Herkunft, wie Hermes vermutete – wie eine günstige Neuerwerbung an. „Das Lektorat hatte kaum Mühe bei der Bearbeitung. Die vielen Fachausdrücke sind ja immer ein Problem bei wissenschaftlichen Sachbüchern.“
Dr. Singh lächelte – es sah zumindest so aus – und strich seinen schwarzen Backenbart. Ohne auf die Elogen der Verlegerin einzugehen, griff er den Zwischenfall im Vortragssaal auf. „Vergiften – hat der Mann das so gesagt? Da ist tatsächlich etwas dran.“ Er schob seinen Salatteller beiseite. „Man kann das Gehirn vergiften. Durch schädliche Speisung, durch Wiederholungen vor allem. Das ist wie leibliche Speise. Essen Sie einmal fettes Fleisch, ist nicht schlimm. Essen Sie immer fettes Fleisch, werden Sie krank.“
Professor Hermes horchte auf. Er hatte im Vortragssaal ganz hinten gestanden und die Darbietung Krumbiegels verfolgt. Gelangweilt und angewidert hatte er den Saal gerade verlassen wollen, als der Zwischenrufer aufgetaucht war. „Wollen Sie sagen, der Dauerkonsum von Kriminalromanen vergiftet das Gehirn?“
„Ich will nicht verallgemeinern“, erwiderte Dr. Singh. „Kenne den Mann nicht, weiß nicht, was er für Sachen schreibt.“
Lilott Buchmann wandte sich erklärend an Hermes. „Dr. Singh ist Arzt, Mikrobiologe. Gehirnforschung ist sein Spezialgebiet … Er hat auch in Physik promoviert!“
Hermes nahm die Qualifikationen seines Gegenübers gelassen zur Kenntnis. Es war offensichtlich, dass die Verlegerin ihn favorisierte. Er tat jedoch so, als habe er die Zwischenbemerkung überhört und setzte das Gespräch fort: „Der Mann schreibt Krimis. Bildet sich was darauf ein, hat offensichtlich eine feste Lesergemeinde, die seine Mordgeschichten schätzt. Wirkt sich das tatsächlich aufs Gehirn aus, wenn man dauernd solches Zeug liest?“
„Das ist unterschiedlich“, räumte Dr. Singh ein. „Jedes Gehirn ist anders. Die Grundsubstanz der Zellen ist von Natur aus gegeben. Aber die Moleküle können sich verändern. Es hängt von den Eindrücken ab. Wir sagen so – Eindrücke.“ Er schaute Hermes fragend an, als sei er nicht sicher, ob ihm der gelehrte Altphilologe auch folgen könne. „Es sind tatsächlich Eindrücke in die Substanz, aber dazu auch die äußeren Eindrücke. Die können sehr verschieden sein. Ein Kind in Europa empfängt von Geburt an andere Eindrücke als ein Kind in Asien oder Afrika. Das familiäre Umfeld ist anders, auch die Sprache. Es folgt das unterschiedliche Reagieren auf äußere Einflüsse – das Wetter, Geräusche, Tierlaute –, alles prägt sich dem Gehirn ein und steuert Verhaltensnormen.“
Professor Hermes ließ sich seine Pasta bolognese schmecken. Was dieser doppelte Doktor sagte, war ihm durchaus geläufig. „Um auf die Kriminalromane zurückzukommen“, sagte er deshalb in überlegenem Ton, „wie würde sich denn Ihrer Meinung nach die Dauerlektüre solcher Sachen auf das Gehirn auswirken?“
„Wiederholte Eindrücke können zu einem Dauererlebnis werden“, dozierte Dr. Singh. „Reales Geschehen und Angelesenes vermischen sich. Verbrecherische Vorgänge – je drastischer geschildert, umso nachhaltiger prägen sie sich ein – werden wie tatsächliches Erleben in der Erinnerung gespeichert. Primär gegebenes Bewusstsein von Recht und Unrecht, von Gut und Böse, von Mein und Dein, diese moralischen Prinzipien – wir gehen davon aus, dass sie automatisch erworben werden – können sich im Unterbewusstsein verändern. Man hat immer wieder gelesen: Verbrechen ist möglich, Diebstahl funktioniert, Raub gelingt, Mord ist schnell getan …“ Dr. Singh wedelte mit der Hand, als seien solche Taten nur Luftgespinste. „Man darf sich nur nicht erwischen lassen!“ Er lächelte zynisch. „Das kann einen Reiz zur Nachahmung auslösen. Zunächst nur in Gedanken. Vielleicht unbewusst im Traum. Vielleicht dann auch durch eine Tat – eine Untat. Allein der Reiz bestimmter Gehirnzellen mit Gedanken, die den moralischen Prinzipien widersprechen, kann zerstörerisch wirken – wie Gift. Das liberale Schusswaffengesetz in den USA ist ein Beweis für die bereits in den Gehirnen verankerte Illusion, der Besitz eines Gewehres sei Voraussetzung für die persönliche Freiheit. Es muss nicht immer eine Pistole sein. Es kann auch ein Messer sein, ein Baseballschläger – oder auch Gift, was zur Mordwaffe wird. Auslöser ist die oft unbewusste Erinnerung an eine entsprechende Tat – ob in Wirklichkeit erfahren oder angelesen. Das macht keinen Unterschied. Unbewusste geistige Prozesse laufen da ab.“
Das Klingeln von Frau Buchmanns Mobiltelefon unterbrach Dr. Singhs weitschweifige Ausführungen. Ungeduldig nahm sie den Anruf entgegen. Wie es schien, war ihre Anwesenheit am Messestand des Verlages dringend erforderlich. Sie entschuldigte sich. „Ich muss die Herren allein lassen. Tut mir leid. Es ist so interessant, Dr. Singh zuzuhören. Guido, Sie müssen unbedingt sein Buch lesen – Die Materie lebt. Ich lass Ihnen ein Exemplar zurücklegen.“ Sie stand auf. „Nicht vergessen: Wir sehen uns um vier am Stand! Die Fernsehleute sind immer pünktlich. Dr. Singh kennt die Redakteurin ja auch schon. Sie hat ihn bereits gestern interviewt.“
Hermes horchte auf. Sein Konkurrent im Verlag war ihm also auch bei Herma schon vorausgekommen. Mit einem Gefühl von Eifersucht, nicht mehr nur als Autor jetzt, wandte er sich erneut an Dr. Singh: „Wenn ich Sie recht verstehe, dann sind es Ihrer Meinung nach infizierte Gehirnzellen – durch Erfahrung mit entsprechender Literatur infiziert –, die zu kriminellen Nachahmungen verleiten?“
„Ganz recht. Es ist nicht nur meine Meinung. Es gibt Statistiken aus Kriminalprozessen, die das belegen. Die Neuronenverbindungen zwischen den einzelnen Gehirnzellen steuern die Aktionen – oft auch ohne Bewusstseinskontrolle. Der Mensch handelt, ohne es bewusst zu wollen. Wenn ein Kind vor Ihr Auto läuft, treten Sie spontan auf die Bremse. Das ist ein Reflex. Ihr Wollen ist da gar nicht gefragt. Oder: Sie gehen über die Straße, schauen erst nach links, dann nach rechts. Das ist unbewusst, weil Sie es gewohnt sind, weil Sie es schon tausend Mal so gemacht haben – weil Ihr Unterbewusstsein weiß, dass die Gefahr von links kommt.“
„Mein Wissen, dass bei Rechtsverkehr die Gefahr zuerst von links kommt, ist aber Voraussetzung für das unbewusste Handeln. Ist es nicht so?“
„Richtig. Sie haben das Wissen durch Erfahrung erworben. Die Gehirnzellen haben die Erfahrung gespeichert. Diese sind es – verkürzt gesagt –, die auf die Bremse treten, nicht Ihr bewusstes Wollen.“
Hermes gab sich noch nicht geschlagen. „Das kann aber nicht heißen, dass solche unbewussten Impulse stärker sind als mein bewusstes Wollen.“
Dr. Singh breitete die Hände aus wie bei einer Beschwörung. „So spricht der Philosoph! Die Hirnforschung kann noch immer nicht alle Fragen beantworten. Die geistigen Prozesse, die mit den Neuronen – den Trägern der Botschaften – zwischen den Gehirnzellen ablaufen, sind so komplex, dass sicher noch Jahre vergehen werden, bis das Geheimnis des Gehirns restlos gelüftet ist. Es wäre das Geheimnis des Lebens schlechthin.“
Hermes nickte nachdenklich. „Das Gehirn ist sicher das wichtigste Organ im menschlichen Körper.
„Nicht nur im menschlichen Körper“, korrigierte Dr. Singh. „Jedes Lebewesen – jede Fliege, jeder Wurm – hat so ein Steuerungsorgan. Die Hirnforschung bedient sich dieser Tatsache, um experimentell Erkenntnisse zu gewinnen, die allgemeingültig für jedes Lebewesen sind. Das menschliche Gehirn ist lediglich das am weitesten entwickelte.“
Hermes seufzte. „Und das Herz, das Zentrum der Gefühle, wie wir so gern glauben, ist nichts anderes als eine Pumpe!“
„Sogar austauschbar, künstlich hergestellt. Was beim Gehirn nicht möglich ist. Noch nicht. Aber vielleicht kommt auch das noch. Auf dem Gebiet der Molekularbiologie ist die Wissenschaft bereits weit vorgedrungen.“
„Eine grausige Vorstellung!“ Hermes schüttelte sich. „In puncto Gehirnwäsche hat man ja schon genügend Erfahrung gesammelt. Und Sie machen da mit, Dr. Singh?“
Der junge Wissenschaftler zeigte wieder sein unbestimmtes Lächeln. „Ich bin schon viel weiter, verehrter Professor. Die Neugier treibt mich. Ursprünglich wollte ich einfach nur Arzt werden. Anderen Menschen helfen. Kranke heilen! Welch schönes Ideal! Aber schon während des Studiums hat mich dieser graue Zellklumpen, Gehirn genannt, mehr fasziniert als alle anderen Organe. Vor allem, weil er so nichtssagend aussieht und so bedeutungsvoll sein soll. Und vor allem, weil es noch so viele offene Fragen gab, was seine Funktion betraf. Deshalb hatte ich mich auf die Gehirnforschung spezialisiert, bin eingedrungen in die unbegrenzte Vielfalt der Neuronen und ihrer Eigenschaften … Bis ich auf den Kern gestoßen bin. Buchstäblich: den Kern der Zellsubstanz – den molekularen Aufbau der Zellen und die Möglichkeit, diesen zu verändern. So bin ich über die Molekularbiologie schließlich bei der Physik gelandet – der Mutter aller Naturwissenschaften, wie ich heute weiß.“ Dr. Singhs schwarze Augen leuchteten auf. „Die Nanotechnologie hat uns bewiesen, dass wir den atomaren Aufbau im Molekül verändern können … und damit auch die Eigenschaften bestimmter Substanzen.“
„Heißt das nicht, der Natur ins Handwerk pfuschen?“, fragte Hermes skeptisch.
„Wir machen nur nach, was die Natur uns vormacht. Die Welt ist längst voll von sich selbst replizierenden molekularen Lebensformen. Nehmen Sie nur die Viren und Bakterien. Sie mutieren, wenn sie mit Medikamenten beschossen werden, die ihre Eigenart bedrohen. Man hat ihnen sozusagen den Schlüssel für die Haustür genommen. Dann produzieren sie aus sich selbst heraus einen Schlüssel für die Hintertür.“
„Und Sie glauben, Sie könnten auf diese Weise auch Hirnzellen verändern?“
„Es ist möglich.“ Der euphorische Glanz in Dr. Singhs Augen nahm um einige Grade zu. „Sogar der Eingriff in das Genom, in die Erbsubstanz, ist möglich. Gentechnische Veränderungen von Molekülen der Gehirnzellen hat man in Tierversuchen erprobt. Warum sollte es nicht möglich sein, auf diese Weise auch individuelle Eigenschaften und Eigenarten eines Menschen zu verändern?“
„Der Mensch nach Wunsch – aus der Retorte programmiert? Ist das Ihr Ziel, wonach Sie streben?“ Hermes starrte sein Gegenüber entsetzt an.
„Biologie, Chemie und Physik arbeiten gemeinsam daran. Ich meine, zum Wohle der Menschheit. Der Mensch der Zukunft könnte wieder der sein, der er eigentlich sein sollte: ohne Krankheit, ohne Bosheit – ohne all die schlechten Eigenschaften, die er seit biblischen Zeiten weitervererbt hat, die zur Selbstzerfleischung in Kriegen und Pogromen geführt haben und zu unsinnigen und überflüssigen Kämpfen um Selbstbestätigung.“
Hermes schüttelte den Kopf. „Das wird wohl nie geschehen“, sagte er. „Und selbst wenn: Es wäre das Ende der Menschheit – der menschlichen Menschheit. Dieses Retortenwesen wäre nicht besser als die Roboter, die heute schon auf dem Markt sind: technische Hilfskräfte ohne Intelligenz, ohne eigenen Willen.“
„Sagen Sie das nicht, Professor!“ Dr. Singh beugte sich vor und nahm den Salzstreuer vom Tisch in die Hand. „Eines Tages, da bin ich ganz sicher, wird man dieses Salz in Zucker verwandeln. So wie Jesus Wasser in Wein verwandeln konnte. Und man wird den Tod in Leben verwandeln!“ Er klopfte mit dem Salzgefäß auf die Tischplatte. „Das Glas ist keine tote Masse. Alle Materie besteht aus Molekülen, alle Moleküle setzen sich aus Atomen zusammen, in jedem Atom schlummert Energie – in Bewegung kreisende Elementarteilchen. Materie, Energie und Bewegung sind eins. Sie sind das A und O des Lebens. Leben ist nichts anderes als Eigenbewegung von Materie. Es gibt keinen Tod. Der ganze Kosmos ist Energie und Bewegung. Es ist nur eine Frage der Zeit …“
Hermes brach in Lachen aus. „Jaja, machen Sie ruhig so weiter, Herr Dr. Singh. Wenn Sie wirklich das glauben, was Sie sagen, können Sie mir nur leidtun. Die Lektüre Ihres Buches – wie war gleich der Titel?“
„Die Materie lebt!“
„Ja, also – die Lektüre kann ich mir wohl sparen.“