Читать книгу Hermes oder Die Macht der grauen Zellen - Felix Heidenberger - Страница 4

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Der ICE nach Leipzig rollte aus dem Münchner Hauptbahnhof. Professor Guido Hermes, emeritierter Ordinarius für Geschichte des Altertums und Autor gern gelesener Werke über die alten Griechen und Römer, sah nicht aus dem Fenster. Vergebens suchte er in der Literaturbeilage der Morgenzeitung seinen Namen oder den Titel seines neuen Romans. Enttäuscht legte er das Blatt beiseite. Sein Blick fiel auf den Mann ihm gegenüber. Erstmals nahm er den Fremden zur Kennt­nis. Ganz in Schwarz gekleidet sah er aus wie ein Kleriker. Nur der weiße Kragen, das runde Kollar, fehlt, dachte Hermes. Der blank polierte Glatzkopf würde zu einem Mephisto passen.

„Professor Hermes?“, sprach ihn der Herr mit leichter Verbeugung an. Er deutete auf den Namen des Reservierungsschildes über dem Platz des Professors. „Welche Ehre! Sie fahren auch nach Leipzig – zur Buchmesse?“

Hermes betrachtete den Mann in seiner hochgeknöpften, halbpriesterlichen Verkleidung genauer. Der Kahlkopf gefiel ihm durchaus nicht.

„Ich darf mich vorstellen: Krumbiegel! Ich hatte auch reserviert. Welch ein Zufall! Fühle mich wirklich geehrt.“

Hermes warf einen Blick auf das Namensschild gegenüber. Der Name Krumbiegel sagte ihm nichts, schien aber passend zu dem Mann. Er schätzte ihn auf etwas über dreißig. Könnte mal Student bei mir gewesen sein, überlegte er.

„Sie kennen mich nicht?“ Die Frage klang provozierend. „Macht nichts. Sie lesen keine Kriminalromane?“

„Tut mir leid.“ Hermes’ Interesse für derartige Literatur hatte bei Agatha Christie und George Simenon aufgehört, Sherlock Holmes war für ihn unübertroffen, Donna Leon nur als Film erträglich – wegen der Musik und des Venedig-Ambiente.

„Macht nichts“, wiederholte Krumbiegel. „Ist ja wohl auch eine Generationsfrage. Allerdings“, er hob den Zeigefinger, „eine Statistik in Altenheimen hat ergeben, dass auch dort Krimis am meisten gefragt sind.“

„Wohl eher eine Geschmacksfrage“, konterte der Professor. Dieser Pseudokleriker sah ganz so aus, als schriebe er solche Sachen.

„Über Geschmack lässt sich ja gut streiten“, meinte Krumbiegel, das Zitat verdrehend. „Was halten Sie von Dostojewski? Der schrieb auch Kriminalromane. Die Brüder Karamasow … und so.“

Hermes schüttelte den Kopf. „Das ist Literatur.“

Herr Krumbiegel lächelte diabolisch. „Immerhin, da geht’s auch um Mord und Totschlag. War mal ’n Bestseller. So was ist noch immer gefragt.“

„Da haben Sie allerdings recht. Das Böse hat Konjunktur.“ Der Professor griff nach der Literaturbeilage. „Zur Abwechslung mal wieder als Märchen.“ Er hielt seinem Gegenüber die Zeitung hin. „Haben Sie das gelesen? Ist für den Kinderbuchpreis nominiert.“

Krumbiegel nahm die Zeitung und warf einen Blick auf den Titel: Fingerli und das Böse – ein Märchen, aus der Hand zu lesen [s. Anhang].

Mit dem geschärften Blick des Kriminalisten überflog der Erfolgsautor die abenteuerliche Geschichte des kleinen Fingers, der sich von seinen vier handsamen Brüdern löst, um eigenhändig den Unterschied von Gut und Böse zu entdecken, dabei in die Fänge der Versuchung gerät und am Ende erfahren muss, dass sich das Böse immer in Menschengestalt versteckt.

„Interessant!“ Der Kriminalschriftsteller reichte die Zeitung zurück. „Könnte von mir sein. Ist aber nicht mein Stil.“ Er stand auf. „Werde mich mal im Zug umsehen. Vielleicht sind noch Kollegen aus der Branche da.“ Er grinste und verschwand.

Professor Hermes atmete auf, froh, den Mann los zu sein. Möchte nicht wissen, was der für Mordgeschichten schreibt, dachte er. Bildet sich ein, ein zweiter Dostojewski zu sein! Gewohnheitsmäßig zupfte er an seinem eisgrauen Lippenbärtchen, das er sich am Morgen noch leicht gestutzt hatte. Die männliche Zier hatte er sich seit seiner Promotion vor dreißig Jahren stehen lassen, um sich ein würdigeres Aussehen zu geben. Seine Doktorarbeit über Die Deutung von Kriegsursachen anhand der Geschichtsschreibung des Thukydides hatte ihm damals viel Lob eingetragen.

Er lehnte sich zurück, schloss die Augen, versuchte, seine Gedanken neu zu sammeln. Das arrogante Geschwätz seines Gegenübers hatte nicht dazu beigetragen, seine Missstimmung aufzubessern, die ihn seit dem Frühstück mit Cornelia, seiner Frau, befallen hatte.

„Ich verstehe nicht, Guido, warum du dir das antust, auf diese Messe zu fahren“, hatte sie gemeint. „Es bringt ja doch nichts.“

Cornelia verstand es nicht, verstand vieles nicht, hatte ihn eigentlich nie richtig verstanden. Hermes hatte sie nach einem kurzen Anfall von Leidenschaftlichkeit und den sich daraus ergebenden Folgen getreu seiner konservativen, gut katholischen Erziehung geheiratet. Die Ehe war nicht wirklich schlecht gewesen, aber es war bei dem einen Kind geblieben, einem Sohn, der längst den Reifegrad eines Kindes der Zeit erreicht hatte, was bedeutete, dass die geistigen Welten, in denen die beiden zu Hause waren, endgültig auseinandergedriftet waren. Eine Folge nicht zuletzt der Unfähigkeit des Vaters, seine Erzieherpflichten in den Kindheitsjahren wahrzunehmen und ein vertrauensvolles Verhältnis zum Sohn aufzubauen. Wäre sein Kind ein Mädchen geworden, hätte sich bestimmt manches anders entwickelt, sagte er sich oft. Guido hatte schon als Kind eine Schwäche für alles Weibliche gehabt. Als unschuldsvoller Jüngling war er, ohne Erfahrungen gesammelt zu haben, allzu früh Cornelias verführerischen Reizen verfallen. Er hatte für Liebe gehalten, was doch nur biologische Anziehungskraft gewesen war. Das Bekenntnis des Chorus mysticus aus Faust II: „Das Ewig-Weibliche zieht uns hinan“, war ihm Bestätigung seiner eigenen Empfindungen geworden. Alles männliche Gehabe, alle Kraftprotzerei, alles Militärische auch war ihm zuwider. Was ihn, obwohl grundlos, bald in zweifelhaften Geruch brachte. Ob der Versuch, diese Thematik in einem Roman mit dem vieldeutigen Titel Mischkrug abzuhandeln, sinnvoll war, erfüllte ihn im Nachhinein mit Zweifel. Selbst der Verlag, der bisher seine Sachbücher mit Er­folg herausgebracht hatte, hatte den Roman nur zögerlich ins Programm genommen.

Während in seinem Kopf all diese Gedanken kreisten, hatte Hermes begonnen, in der Hamburger Wochenzeitung zu lesen, die er sich am Bahnhof gekauft hatte. Wie auf getrennten Schienen verlief beides – das Lesen und die reflektierenden Gedanken – nebeneinanderher. Er hätte nicht mehr zu sagen gewusst, was er eben gelesen hatte. Er legte die Zeitung beiseite, schaute zum Fenster hinaus. War Albert Einstein seine Idee zur Relativitätstheorie nicht erstmals beim Blick aus dem Fenster eines fahrenden Zuges gekommen? Auf einem Feldweg, in einiger Entfernung parallel zum Gleis, sah Hermes ein Pärchen auf dem Fahrrad eng nebeneinanderfahren. Der Mann hatte einen Arm um die Schulter der Frau gelegt, mit dem anderen hielt er seinen Lenker. Hatten sie keine Angst, sich gegenseitig zu behindern? Vorbeihuschende Bäume löschten das Bild. Was hätte wohl Einstein gesagt? Ich sitze, bewege mich nicht; der Zug bewegt sich, von links nach rechts; die Landschaft bewegt sich, am Fenster, von rechts nach links; in der Landschaft bewegen sich zwei Radfahrer, von links nach rechts fahrend: In welchem Verhältnis stehen da Zeit und Geschwindigkeiten zueinander?

Die Gleichzeitigkeit des Denkens mit unterschiedlichem Sehen und Handeln wurde ihm bewusst. Wie beim Autofahren, sagte er sich: Du fährst mal nach links, mal nach rechts, achtest auf den Verkehr − und denkst dabei an ganz etwas anderes.

Hermes schloss die Augen, lehnte sich zurück. Ein anderes Bild leuchtete auf: Herma! Die Erinnerung an diese Frau hatte ihn nicht mehr losgelassen. Vergangenes Jahr war er erstmals auf der Buchmesse gewesen. Sein Verlag hatte ihn eingeladen, sein neues Buch über die Frauenfrage im alten Rom persönlich vorzustellen. Das Buch war ein bescheidener Erfolg geworden. Die Pressekonferenz mit anschließender Signierstunde hatte den Auftakt gegeben. Im Handumdrehen waren die Freiexemplare für Journalisten vergriffen gewesen. Als Letzte war Herma gekommen, hatte sich als Redakteurin vom MDR ausgewiesen und um ein Autogramm gebeten. Schon während der Pressekonferenz war ihm die junge Frau aufgefallen. Diese vollen, kirschrot geschminkten Lippen waren nicht zu übersehen gewesen. Unverwandt hatte sie ihn angestarrt. Ihre Augen hatten sich getroffen. Kurz nur. Doch es war der Anfang gewesen.

Als Fragen zum Buch gestellt wurden – unsinnige Reporterfragen über Tempelprostitution im alten Rom, die Rolle der Sklavin als Nebenfrau und mit welcher Politikerin von heute der Herr Professor die Agrippina vergleichen würde –, hatten sich Hermas schöne Lippen verächtlich gewölbt. Dann war sie vor an seinen Tisch gekommen, das Freiexemplar aufgeschlagen für ein Autogramm hinhaltend, und hatte leise gesagt: „Ich bewundere Sie!“

Noch jetzt, ein Jahr später, spürte Hermes Herzklopfen bei der Erinnerung. Wie sie ihn angeblickt hatte! Hingebungsvoll, dass es ihm einen Stich versetzt hatte. Unter seinen Studentinnen waren oft junge Frauen gewesen, die ihn angehimmelt hatten. Und er hatte den Reiz ihrer weiblichen Ausstrahlung gespürt. Die Versuchung, sich da auf etwas einzulassen, war groß gewesen. Doch die Vernunft war immer stärker. Diesmal jedoch war er nahe daran gewesen, sich dem so lange unterdrückten Verlangen auszuliefern. Lag es an seinem Alter von über sechzig? Durfte er jetzt schwach werden?, hatte er sich gefragt. Es war nicht dazu gekommen. Wie würde es diesmal sein?

Professor Guido Hermes fuhr zwar zur Buchmesse nach Leipzig. In Wahrheit jedoch fuhr er zu Herma, die Versuchung noch einmal zu wagen.

Hermes oder Die Macht der grauen Zellen

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