Читать книгу Hermes oder Die Macht der grauen Zellen - Felix Heidenberger - Страница 11

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Seit fast einer Stunde wartete er nun schon im Chinarestaurant. Er sah auf die Uhr: gleich neun. Er hatte wieder den gleichen Tisch. Ob Herma noch erscheinen würde? Ihm kamen Zweifel. Bei dem Fernsehinterview war es nicht nur um das Buch gegangen. Die Fragen waren so mehrdeutig gewesen. Hatte sie ihn provozieren wollen? Er nahm sich vor, endlich Klarheit zu schaffen, falls sie noch erscheinen sollte. Seine Hand zitterte leicht, als er die Teetasse zum Mund führte. Die Ungewissheit, wie es weitergehen würde, nahm ihm jede Sicherheit. Er fühlte sich wehrlos gegenüber dieser Frau. Sie hatte ihn wieder in ihren Bann gezogen. Seit dem geflüsterten „Ich bewundere Sie!“ und den tiefgründigen Blicken aus ihren dunklen Augen war sie ihm nicht mehr aus dem Sinn gegangen. Erst recht seit dem Gespräch im vergangenen Jahr, hier am gleichen Tisch, als sie auf die Gleichheit ihrer beider Namen hingewiesen und sie als Zeichen einer Verwandtschaft beschworen hatte, dabei augenzwinkernd die vielen Liebschaften des göttlichen Hermes erwähnend. Sie waren sich auf seltsame Weise nahegekommen, wenn auch nur im Gedanklichen. Das Verlangen nach größerer, nach intimer Nähe hatte ihn nicht mehr losgelassen. Er versuchte, sich Rechenschaft zu geben, dass nicht er es gewesen sei, sondern sie, die den Anfang gemacht hatte. Sie, diese Frau Dr. Schäfer, ist es doch, die hinter mir her ist, sagte er sich. Was will sie denn von mir? Ich könnte ihr Vater sein. Was für ein Spiel treibt sie? War es wirklich nur das Buch über die Frauen Roms, das sie voriges Jahr so gefesselt hatte, dass sie mich näher kennenlernen wollte? Den Autor der Frauenbiografien aus der Antike?

Versonnen rührte er in seinem grünen Tee – da stand sie plötzlich vor ihm, warf ihren Mantel über eine Stuhllehne und war präsent wie ein Geist aus der Flasche. Hermes kam gar nicht dazu, sich zur Begrüßung zu erheben, schon saß sie ihm gegenüber und schenkte ihm ihr Lächeln.

„Entschuldige die Verspätung, Guido“, sagte sie etwas außer Atem. „War noch kurz zu Hause, habe mir die zwei Bücher geholt, damit du mir eine Widmung hineinschreibst.“ Sie legte zwei schmale Bändchen neben sich auf den Tisch, offenbar Bücher von ihm. „Vorher bin ich noch in der Redaktion aufgehalten worden. Stell dir vor: Die Wissenschaftsredaktion will eine Sendung mit diesem Dr. Singh machen. Die finden sein Buch so toll. Ich soll die Verbindung mit dem Verlag herstellen. Hab gleich die Buchmann angerufen, war aber nicht mehr zu erreichen. Muss das gleich morgen machen … Jetzt hab ich aber ehrlich Hunger.“ Sie griff nach der Speisekarte. „Hast du inzwischen schon gegessen?“

Hermes war so hingerissen von ihrem Anblick, ihrer Vitalität, ihrem Charme – und vor allem, dass sie ihn mit Du anredete –, dass er kaum Worte fand.

„N-nein. Hab auf … Sie gewartet.“

„Wäre aber nicht nötig gewesen … Hast du eben Sie gesagt? Waren wir nicht per Du, Guido? Hier, beim Chinesen?“

Hermes fasste Mut. „Ja – in Gedanken, sicher. Herma!“ Er versuchte, ihr Gesicht zu sehen, das sich über die Menükarte beugte. „Schau mich an, Herma! Bitte!“

Sie blickte kurz auf. „Ja?“

„Herma – ich liebe dich!“ Seine Stimme zitterte.

„Na, na!“ Sie lachte. „Nicht so stürmisch, Herr Professor!“

„Es ist ernst gemeint!“ Er griff nach ihrer Hand, in der sie die Speisekarte hielt.

„Lass uns erst was bestellen“, sagte sie ungeduldig. „Ich hab wirklich Hunger. Bin den ganzen Tag nicht zum Essen gekommen.“ Sie winkte der Bedienung, die bereits im Hintergrund wartete.

Sie bestellten gemeinsam eine Reistafel, Hermes wählte den gleichen Rotwein wie beim letzten Mal, dazu einen Krug Wasser.

„Du mischst wieder?“, fragte sie anzüglich. „Wie wär’s, heute mal pur?“

„Ich bin schon lange nicht mehr nüchtern“, gab er lächelnd zurück. Er wollte noch mehr sagen. Dass es ihre Gegenwart sei, die ihn trunken mache, dass er seit einem Jahr auf diese Stunde gewartet und gehofft habe, in der er ihr alles sagen könne, was er für sie empfinde und was sie ihm bedeute. Doch Herma, die wohl so etwas ahnte, ließ ihn nicht zu Wort kommen.

„Dieser Dr. Singh ist wirklich phänomenal“, sagte sie, als sei dies das Thema, das sie beschäftige. „Hast du ihn kennengelernt? Ihr seid ja im gleichen Verlag. Sein Buch musst du lesen. Der Mann hat ein immenses Wissen. Ich glaube, die Hirnforschung ist wirklich die interessanteste Wissenschaft. Da kommen Medizin, Biologie und Physik zusammen – und auch Psychologie und Philosophie. Vielleicht sogar Religion. Er sagt, das Gehirn macht erst den Menschen aus. Nicht das Herz – und auch nicht die Seele. Wie findest du das?“

„Entsetzlich!“ Geschichtsprofessor Hermes machte kein Hehl aus seiner Aversion gegen den asiatisch aussehenden Konkurrenten, der ihn bereits beim Buchverlag zu verdrängen suchte und nun offensichtlich auch bei Herma.

„Es sind erschreckende Vorstellungen, ja“, gab Herma zu. „Diese Millionen von grauen Zellen, von Molekülen, Neuronen und wie all die Nervenverbindungen heißen, die in unserem Kopf herumschwirren, sie steuern nicht nur unsere Körperfunktionen, sondern auch unsere sogenannte Vernunft. Das jedenfalls will dieser Forscher beweisen. Und nicht nur unser Denken und Handeln wird gesteuert – unabhängig von unserem Wollen –, sondern auch das, was wir Gefühle nennen: Glaube, Liebe und Hoffnung!“

„Hör auf, Herma! Bitte!“, unterbrach er sie. „Den ganzen Unsinn hat er mir auch schon zu erklären versucht.“

„Persönlich mag ich den Mann auch nicht“, versicherte sie zu seiner Beruhigung. „Er ist mir unheimlich. Aber sicher ein interessanter Wissenschaftler. Es wird bestimmt eine tolle Sendung mit ihm werden. Ich hoffe, die Wissenschaftsredaktion lässt mich da mitmachen.“

„In welcher Redaktion arbeitest du denn?“

„Im Aktuellen. Da bin ich für die Kultur zuständig. Na ja – was man alles so Kultur nennt. Manchmal auch die Affen im Zoo.“

Ihr herzerfrischendes Lachen versöhnte Hermes. „Erzähl mir von dir. Wie bist du zu dem Journalistenberuf gekommen? Promoviert hast du ja auch. Worüber? Ich möchte alles wissen von dir, Herma!“

„Wirklich?“

Während die Reistafel serviert wurde, begann sie zu erzählen. Langsam, stichwortartig zwischen einzelnen Häppchen, die sie sich mit den Stäbchen in den Mund schob. „Ich heiße eigentlich anders. Schäfer ist der Name meines Mannes. Ich hab ihn nach der Scheidung beibehalten. Meinen Familiennamen wollte ich vergessen. War gerade mal zwanzig, damals, bei der Wende. Da hatte ich ihn kennengelernt, den Jürgen Schäfer. Ein Wessi mit Porsche. Die große Euphorie − damals für uns DDRler. Es war nicht Liebe. Erst recht nicht … Vernunft. Ich hatte den Verstand verloren vor lauter Freude. Der Verstand kam zurück, als ich schwanger war. Dann musste geheiratet werden. Als das Kind kam, eine Tochter – ich konnte nichts mit ihr anfangen, mein Mann erst recht nicht –, gab ich’s meiner Mutter und haute ab nach Amerika. Studium Journalistik. Was anderes fiel mir nicht ein. Nach zwei Jahren kam ich zurück, promovierte hier in Leipzig und ließ mich scheiden. Dann fing ich beim MDR an. Zuerst als freie Mitarbeiterin. Jetzt hab ich das Kulturelle im Aktuellen – wie schon gesagt. Das ist alles.“ Sie schaute Hermes mit tiefblickenden, ernsten Augen an. „Kennst du mich jetzt?“

Ernüchtert schüttelte Professor Hermes den Kopf. „Ich danke dir. Es hörte sich an wie ein Geständnis … Herma – lass mich in dein Herz schauen! Was wurde aus deinem Kind?“

Herma schien mehr bewegt, als sie zeigen wollte. Sie griff nach einem Taschentuch und tupfte sich die Augen. „Bettina lebt bei mir. Sie ist jetzt zwölf. Ihr gehört mein Leben. Ich hätte sie nie hergeben dürfen. Ich hab vieles gutzumachen an ihr …“ Erneut kämpfte sie mit Tränen.

Hermes reichte seine Hand über den Tisch − eine hilflose Geste, Mitgefühl zu zeigen. Schweigend stocherten beide auf ihren Tellern, unfähig zu essen.

„Ich bin seit zweiunddreißig Jahren verheiratet“, begann er. „Cornelia, meine Frau, ist einige Jahre jünger. Wir haben einen Sohn. Er ist inzwischen erwachsen, hat einen Beruf. Ich hab mich wenig um ihn gekümmert – zu wenig. Er ist die neue Generation. So wie du, Herma. Es ist schwer, sich zu verstehen.“

Sie hob den Kopf. „Wirklich? Was fällt dir schwer, Guido?“ Jetzt war sie es, die die Hand über den Tisch reichte.

„Eine gemeinsame Sprache zu finden. Cornelia spricht eine andere Sprache. Mir wurde das zu spät bewusst. Mein Sohn noch mehr. Er lebt in einer anderen Welt. Seine Sprache, sein Denken ist eine andere Welt. Nicht nur dieses andere Jahrhundert … Ich weiß, es liegt an mir. Meine Welt ist eine andere: die Welt des Humanismus – der Glaube an das Schöne und Gute, das immer auch die Wahrheit ist. Ich habe versucht, das auch meinen Studenten nahezubringen …“ Erbitterung schwang in seiner Stimme. „Mit wenig Erfolg. Für diese Generation ist nur das Praktische, das Gebrauchbare, schön und gut. Die Realität des Alltags, das ist ihnen die Wahrheit – all diese Verlogenheit des Alltags …“ Er sah sie an. „Entschuldige! Ich fange mal wieder zu jammern an. Dabei will ich nur sagen, wie dankbar ich bin, mit dir so reden zu können. Weil ich weiß, dass du mich verstehst.“

„Ja, ich glaube, ich verstehe dich, Guido. Ich will dir auch sagen, warum und seit wann.“ Sie hielt eines der Büchlein hoch, die sie mitgebracht hatte: die Biografie Iphigenie, die er vor Jahren veröffentlicht hatte. „Seit ich das gelesen hatte, hab ich dich geliebt, Guido – auf meine Art geliebt. Erst recht, nachdem ich voriges Jahr Die Frauen Roms gelesen hab und jetzt den Mischkrug. Ich hab mich in dieser Iphigenie wiedererkannt. Du beschreibst sie als ein junges Mädchen, das vom Vater Agamemnon vergewaltigt wurde. Sie flieht in den Schutz eines Tempels – eines Klosters. In dem Abt Thoas findet sie einen würdigen Vaterersatz. Bis eines Tages Bruder Orest auftaucht und sie heimführt.“

Herma schwenkte das Büchlein. „Als ich das gelesen hatte, wurde mir erst klar, was für eine dumme Gans ich gewesen war, als ich mich in den Jürgen Schäfer verliebt hatte − in ihm meinen Erlöser zu erkennen geglaubt hatte, der mich heimführen würde. Die Schuld meines Vaters erschien mir plötzlich in einem anderen Licht. Agamemnon, Iphigenies Vater, war dem ererbten Fluch seines Vaters Tantalus verfallen, der seinen Sohn den Göttern als Speise geopfert hatte. Ich begriff mich als Iphigenie, als Opfer einer Folge von Untaten, von bösen Gewalten, die vor mir – und über mich – herrschten.“ Herma holte tief Luft. „Lass dir erklären: Mein Großvater war ein hoher Nazifunktionär. Sein Name bedeutete Angst und Schrecken. Die Parteigrößen damals waren seine Götter. Er hatte einen Sohn, meinen Vater − wie Tantalus −, den hat er auch den Göttern geopfert, diesen braunen Parteigötzen, indem er ihn vergiftete mit deren Ideologie des Bösen, mit dem Hass auf die Juden. Als nach dem Krieg die Russen kamen, haben sie zuerst meinen Großvater aufgehängt, dann meinen Vater zuerst nach Sibirien verschickt, um ihn dann zum Kommunisten zu machen. Sie konnten ihn gebrauchen. Viel ändern mussten sie ihn nicht. Er war noch immer voller Hass – auf alles jetzt, auf alle, die nicht so sein wollten wie er. Ich, das Unschuldskind mit zwölf Jahren, war eines seiner Opfer.“

Herma reichte ihm das Büchlein. „Schreib mir was rein, Guido“, bat sie. „Für Iphigenie! Und unterschreibe mit Thoas!“

Letzteres begriff er nicht gleich. Erschüttert von Hermas Lebensgeschichte nahm er ihr den schmalen Band ab. Als er die Biografie Iphigenies schrieb, hatte er von Herma noch nichts gewusst. Die Dramen des Euripides und Goethes hatten neben anderen Dichtungen und Daten als Vorlagen gedient.

„Lebt dein Vater noch?“, fragte er.

„Er lebt, ja. Aber ohne Verstand. In einem Heim für Geisteskranke. Er büßt für das, was er getan hat, ohne zu wissen, was er tat. Und für die Verbrechen seines Vaters. Vielleicht kannst du jetzt besser verstehen, warum mich die Hirnforschung so interessiert. Wie es geschehen kann, dass Menschen zu Unmenschen werden, weil ihr Gehirn unter den Einfluss des Bösen geriet.“

Hermes verstand es. Umso mehr liebte er sie. Während er überlegte, was er ihr Passendes ins Buch schreiben könne, kam ihm das geschulte Gedächtnis des Altphilologen zu Hilfe. Er schlug das Titelblatt auf und schrieb:

Thoas:

Zur Sklaverei gewöhnt der Mensch sich gut

und lernet leicht gehorchen, wenn man ihn

der Freiheit ganz beraubt.

(J. W. v. Goethe: Iphigenie auf Tauris)

Guido

Herma las es nachdenklich. Sie hatte etwas anderes, mehr Persönliches erwartet. „Die Freiheit des Geistes. Ja, das ist es, was den Menschen ausmacht. Ich danke dir, Guido.“ Sie legte das Büchlein beiseite. „Es ist wohl so, dass selbst die Geistesfreiheit – das freie Denken – durch den Einfluss des Bösen vergewaltigt werden kann. Ich stelle es mir vor wie eine Infektion des Gehirns. Der Mensch kann nicht mehr so denken, wie er eigentlich will. Es ist eine Krankheit, schlimmer als Aids, Pest oder Cholera. Wir in den Medien – alle Journalisten, Publizisten und Autoren – sollten die Ärzte sein, die dagegen ankämpfen. Hab ich recht?“

„Du sagst es, Herma. Genau das versuchen wir ja. Ich mit meinen Büchern und du in deinen Sendungen, ich bin sicher.“ Hermes fühlte sich so hingerissen, nicht mehr nur vom Liebreiz ihrer Weiblichkeit, sondern von allem, was sie sagte – und wie sie es sagte –, dass er spontan ausrief: „Wir sollten uns zusammentun, Herma!“

„Wir sind es doch längst, Guido“, sagte sie ruhig. „Schreib du nur weiter so – vielleicht keine Romane, aber schreibe! Gib deine Gedanken weiter an die Menschen, die Gedanken an das Schöne, Wahre und Gute. So, wie du’s im Mischkrug den Sokrates als Schlusswort zu Phaidros sagen lässt: Wenn du die Wahrheit erkannt hast, dann schreibe sie den Menschen in die Seele, denn sie ist das Unsterbliche, das den Menschen leitet. Hab ich recht zitiert?“

Hermes hatte das Zusammentun anders gemeint, nicht nur das Schreiben betreffend. „Ja. Du denkst wie ich, Herma.“ Er breitete die Hände über dem Tisch aus, als wolle er ihr die Reisschüssel reichen. Würdevoll sagte er: „Ich wiederhole noch einmal – und immer wieder: Ich liebe dich, Herma!“

Als habe sie nicht verstanden oder wolle es nicht gehört haben, griff sie nach dem zweiten Büchlein, das sie mitgebracht hatte. „Ich möchte, dass du mir hier auch etwas reinschreibst. Etwas Persönliches!“

Es war eine Kurzbiografie der Daphne, einer seiner ersten Versuche, Frauen aus der griechischen Mythologie als Gestalten von zeitloser Bedeutung darzustellen. Wie er jetzt darin blätterte und die ersten Verse aus Ovids Metamorphosen las, die er zum Einstieg übersetzt hatte, fiel ihm wieder ein, dass es eine unglückliche Jugendliebe gewesen war, die ihn damals inspiriert hatte. Im Versrhythmus zitierte er:

Peneus, der Gott des Flusses in Tessalien,

Sohn des Okeanos und der Thetys,

war Vater von Daphne, der lieblichen Jungfrau,

die Eros erwählte, den Hochmut Apolls zu bestrafen …

„Schön! Ja, lies weiter!“ Herma lehnte sich entspannt zurück. Das Essen hatten beide längst beiseitegeschoben.

Hermes las weiter, davongetragen vom Klang seiner Worte, die er einmal geschrieben hatte.

So sprach Apoll zu Eros, dem geflügelten Amor:

Was tust du, neckischer Knabe, mit Waffen,

die nur für Helden gemacht?

Du brauchst dir eine Ehre,

die uns allein zukommt, nicht anzumaßen.

Kaum hatte er solches gesprochen,

entschwand Eros auf des Parnass luftiger Höh.

Zwei Pfeile zog er aus seinem Köcher,

Pfeile von verschiedener Farbe und Wirkung:

Der eine, glänzend von Gold, verursacht die Liebe,

der andere, mit schwarzem Gefieder, vertreibt sie.

Mit diesem schoss Eros die Nymphe,

mit jenem aber traf er das Herz des großen Apoll.

Hermes hielt kurz inne. „Sogleich entbrennt der eine in Liebe“, fuhr er leiser, aber mit besonderer Betonung fort, „die andere hingegen fliehet den Mann, auch sei er ein Gott.

Er sah Herma an. „Bist du auch Daphne?“

Ihre Blicke trafen sich. Fragend der seine, wissend der ihre. Noch immer hielt er das Buch in der Hand, ratlos. Sie ließ es sich zurückgeben, blätterte einige Seiten weiter. „Sie floh vor Apoll – floh vor dem Mann, gegen dessen Begehr sie der Eros-Pfeil unverwundbar gemacht hat. Verwandelt sich schließlich in einen Lorbeerbaum. Am Ende aber, so heißt es weiter …“ Sie begann, wieder zu zitieren:

Auch als Baum liebt Phöbus sie noch.

Indem er die Äste umarmt,

küsst er das duftende Holz.

Kannst du meine Gemahlin nicht sein,

so sei von nun an mein Baum.

Du sollst, unsterblicher Lorbeer, meines Hauptes,

meiner Harfe und meines Köchers Zierde sein.

Und wie mein Haar soll ungeschoren bleiben,

sollst auch du deine Blätter beständig behalten.

Sie fuhr mit der Hand glättend über die Seiten. „Ist es nicht, als hättest du es gestern geschrieben?“

Hermes ahnte, worauf sie hinauswollte. „Nein, Herma, bestimmt nicht. Das ist Vergangenheit, das ist Dichtung. Du bist nicht Iphigenie und auch nicht Daphne. Du bist Herma – und, wenn du willst, auch Frau Dr. Schäfer. Und ich bin weder Thoas noch Apoll. Aber wir sind einander verbunden. Wir spüren es – du genauso wie ich.“

Er ließ sich das Buch noch einmal geben und schrieb eine Widmung hinein:

Der schwarze Pfeil ist zerbrochen.

Du darfst wieder lieben.

Guido

Herma las es, sagte „Danke“ und klappte das Buch zu. Sie schaute ihn ernst an. „Ich liebe meine Tochter, weil ich ihre Mutter bin. Was den Eros betrifft, da hast du so viel Schönes gesagt und geschrieben, dass ich nichts erklären muss. Du fährst morgen nach München zurück, und ich kümmere mich hier um meinen Job.“

Sie stand auf und griff nach ihrem Mantel. „Ich glaube, ich muss jetzt gehen. Es ist schon spät.“

Professor Hermes starrte sie an. Der Zauber war verflogen. Das Licht der roten Lampions ließ ihre Lippen blass erscheinen, das Gesicht unwirklich fremd.

„Warte! Ich begleite dich ein Stück“, sagte er, half ihr in den Mantel und bezahlte rasch die Rechnung.

Vor der Tür nahm er ihren Arm und geleitete sie in Richtung des nahen Hotels. Sie ließ sich willenlos führen − so schien es. In Hermes keimte neue Hoffnung. Vor dem nur spärlich erleuchteten Hoteleingang schlang sie plötzlich die Arme um ihn und küsste sein Gesicht – seine Wangen, seine Stirn und schließlich den Mund. Überrascht und aufs Neue beseelt griff er nach der Tür, Herma mit hineinzuziehen.

Sie wehrte sich und wies auf das Auto, das nur wenige Meter entfernt vor dem Hotel parkte. „Mein Wagen“, sagte sie. „Ich wusste, du würdest mich hierher bringen. Ich kenne den Werbespruch des Hotels!“

Hermes ließ sie los. Sie ging zum Wagen. Vor dem Einsteigen wandte sie sich noch einmal um. „Schreib wieder etwas, Guido. Für nächstes Jahr auf der Messe. Eine Biografie Diotimas!“

Hermes oder Die Macht der grauen Zellen

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