Читать книгу Wenn der Sommer kommt, tanzen die Träume - Felix Leibrock - Страница 10

KAPITEL 6

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Eine der schlimmsten Auseinandersetzungen meiner Eltern vor dem Unfall drehte sich ums Tanzen. Meine Mutter liebt es, mein Vater hasst es. Irgendwann hatte meine Mutter es geschafft, meinen Vater an einem Sonntagnachmittag zu einem Tangokurs zu bewegen. Als sie zurückkamen, stritten sie laut und ohne Rücksicht auf uns Kinder. Der gockelgleiche argentinische Tanzlehrer, die viel zu laute Musik, die stehende Luft in diesem Saal – das Lästern meines Vaters nahm kein Ende. Meine Mutter warf meinem Vater vor, er sei nur mitgegangen, um Argumente gegen das Tanzen zu sammeln und alles schlechtzureden, damit er nie wieder mitmüsse. Mit seinem mantramäßigen Na siehste, ich hab’s doch gleich gewusst begrabe er ihren Wunsch nach einem gemeinsamen Tanzkurs für alle Zeit. Daran denke ich jetzt, als Sonja bei uns klingelt. Ich werde Gründe finden, warum eine Blindenlehrerin oder Blindentrainerin, oder wie immer sie sich bezeichnet, bei mir sowieso keinen Sinn hat. Sie ist sicher hilfreich für Kinder, die blind auf die Welt kommen oder früh erblinden. Die kennen die sichtbare Welt nicht. Die wissen nicht um das, was sie verloren haben, und sind viel besser zu motivieren. Außerdem habe ich mal gelesen, das beste Lernalter sei zwischen zwölf und vierzehn Jahren. Da bin ich schon lange drüber weg. I’m sorry, it makes no sense at all!

Ja, jetzt widerspreche ich mir selbst. Vorgestern noch, beim Nachdenken vor dem Schlafzimmer meiner Eltern, wollte ich meine Höhle verlassen, mich positiv verhalten, meine Eltern mit meiner Einsicht aufbauen. Die innere Stimme, wo auch immer sie herkam, hat mir ein wenig Schwung gegeben, mal was auszuprobieren. Ich habe meine Mutter gebeten, diese Trainerin anzurufen. Jetzt, wo sie da ist, fallen alle guten Gedanken zusammen wie Dominosteine, einer nach dem anderen. Mein Inneres ist labil, meine Vorsätze sind auf Watte gebettet und ohne die Kraft, kleinsten Verunsicherungen standzuhalten. Allein dass jetzt jemand kommt, der mir helfen will, macht mich trübsinnig und destruktiv. Denn die Trainerin will mir helfen, als Blinde zu leben. Ich will aber nicht als Blinde leben. Ich habe große Angst, mein stark beschränktes Leben zu akzeptieren, wenn ich Hilfe annehme. Die innere Stimme, die vor ein paar Tagen gesprochen hat, ist jetzt verstummt und überlässt das Feld einer anderen Stimme, die sagt: Wehr dich! Akzeptier das nicht! Hadere mit deinem Schicksal! Auch wenn ich ahne, wie unsinnig die Argumente dieser Stimme sind, bin ich ihr wehrlos ausgeliefert.

Mein Vater bittet Sonja ins Wohnzimmer, spricht nur wenige Sätze mit ihr und lässt uns dann allein. Ich nehme an, das haben sie vorher so abgesprochen.

»Hi, ich bin Sonja. Ich bin Rehabilitationslehrerin und LPF-Trainerin. LPF steht für lebenspraktische Fähigkeiten. Außerdem unterrichte ich auch Brailleschrift. Ich bin achtundzwanzig Jahre alt, sehend und habe ähnlich lange Haare wie du, äh, darf ich überhaupt Du sagen, Selma? Wenn das mit uns beiden was werden sollte, so als Trainingspaar, dann ist es leichter, wenn man sich duzt. Aber siezen ist auch okay. Wie wollen wir es halten?«

Vor mein inneres Auge treten die Niagarafälle, die ich auf meiner Amerikareise besucht habe. Diese unglaublichen Wassermassen, die ins Tal stürzen. Auch in mir bewegt sich gerade viel. Zu viel. Ich kann es nicht greifen. Sonja ist die erste Person, die mich nur als Blinde kennt. Ihre Stimme ist warm, die Worte freundlich, offen. Vor dem Unfall hätte ich mich mit ihr vielleicht auf Anhieb, sozusagen blind (haha) verstanden. Aber jetzt will sie mir was andrehen, aufschwatzen. Das ist ihr Job, sie will eine neue Kundin gewinnen, spielt das Freundliche vielleicht nur.

»Selma, habe ich was Falsches gesagt? Dann tut es mir leid.«

Ich weiß nicht, wie lange ich schweige und an die Niagarafälle denke. Wir waren noch vor Sonnenaufgang mit dem Bus angekommen, hatten erst nur das Rauschen gehört und dann, als ob ein Vorhang sich langsam öffnet, die Fälle entdeckt. Wie eine Wand aus Lametta sah das glitzernde Wasser aus.

»Selma?«

»Äh, ja, ist schon okay, wir können Du sagen.«

»Schön, das freut mich. Darf ich dich mal ganz direkt etwas fragen?«

Sie erwartet eine Reaktion von mir. Ich nicke leicht.

»Ich weiß, dass du gerne wieder sehen würdest. Das ist sicherlich dein größter Wunsch. Ist ja auch völlig logisch. Aber wenn wir den jetzt mal hintanstellen. Was wäre denn dann dein größter Wunsch gerade?«

Dieses Mal zögere ich nicht lange. Ich will diese Sonja überfordern.

»Ich würde gerne ohne fremde Hilfe meine Klamotten im Schrank auswählen und die Farben der Kleider wissen. Ich möchte wissen, wie ich aussehe. Ob ich mal wieder zum Friseur muss. Wie meine Schminke sitzt. Ich möchte Spiegeleier kochen, ohne mir die Hand zu verbrennen. Und ich möchte Fahrrad fahren. Außerdem möchte ich in Neuseeland Erdbeeren pflücken. Und einen Freund haben, der mich liebt und immer für mich da ist.«

Puh, was war jetzt das?, denke ich mir. Was ist da alles aus mir herausgebrochen? Wie ein Wasserfall habe ich gerade geredet. Die Niagarafälle. Ich weiß auch, warum ich das eben getan habe. Jetzt kann Sonja ihre Sachen packen, und ich habe ein für alle Mal Ruhe vor diesen unseligen Aufforderungen meiner Eltern. Ich habe guten Willen gezeigt, aber, na siehste, ich hab’s doch gleich gewusst!

»Ich schreibe gerade mit«, sagt Sonja. »Mehr nicht? Weiter bitte!«

Jetzt will die mich auf den Arm nehmen. Und dafür sollen meine Eltern oder die Krankenkasse auch noch Geld bezahlen, unverschämt! Aber gut, wenn sie es unbedingt will. Ich bin noch lange nicht fertig. Und ich habe es ihr zu leicht gemacht.

»Ich möchte den Führerschein machen. Außerdem eine Ausbildung als Pilotin bei der Lufthansa.«

Das Letzte ist mir spontan eingefallen. Aber ist doch ein erstklassiges Totschlagargument.

»Oder ich möchte studieren. Biologie. Mit Exkursionen in die Hochalpen und Praktikum am Wattenmeer. Oder Philosophie studieren. Oder Medienwissenschaften. Oder Germanistik. Aber Lehrerin will ich nicht werden. Eher in einem Verlag arbeiten.«

Ich kämpfe mit den Tränen, aber halte sie zurück. Sonja schweigt. Oder ist sie gegangen? Würde mich nicht wundern. Denn meine Wünsche kann sie nicht erfüllen. Was will sie also noch hier? Es bleibt still. Aber ich höre ein leises Geräusch: einen Stift, der sich über Papier bewegt. Außerdem das Rascheln von Papierblättern.

»Bist du noch da?«

»Ja, klar, meinst du, ich gehe einfach so?«

»Ehrlich gesagt, ja.«

»Wieso?«

»Weil du passen musst. Du bekommst nichts von alldem hin.«

»Ja, Selma, das stimmt, ich bekomme davon wirklich nichts hin.«

Wieder sind nur der Stift und das Papierrascheln zu hören.

»Und was machst du dann noch hier?«

»Äh, ich bin sofort wieder für dich da. Du hast nur so schnell gesprochen, da komme ich mit dem Schreiben nicht nach. Kleinen Augenblick. Ich mache mir gerade Listen.«

Listen? Ich stutze. Was denn für Listen? Ich denke an meine früheren Pro- und Contra-Listen. Mir kommt ein Verdacht. Ist das hier alles eine inszenierte Veranstaltung?

»Kennst du Robert und Julia?«

»Äh, nein, sollte ich die kennen?«

Ihre Antwort ist schnell gekommen. Sie scheint sie wirklich nicht zu kennen. Also haben die ihr nichts von meinem Listentick erzählt. Meine Eltern kennen den Tick nicht. Oder jedenfalls nicht so genau. Ist das also Zufall, dass Sonja auch Listen macht?

»Was für Listen machst du?«

»Also, Selma, entschuldige. Ich habe mir jetzt alle deine Wünsche auf jeweils ein Blatt Papier geschrieben. Links habe ich eine Zeitleiste aufgemalt. Dort können wir die Termine eintragen, bis wann wir die Ziele erreicht haben wollen, auch in welchen Etappen. In die Spalte daneben tragen wir ein, wann der Fortschritt tatsächlich erfolgt ist.«

Sag ich doch, die nimmt mich auf den Arm. Erst lockt sie die Wünsche aus mir hervor, dann sagt sie, sie kann mir bei keinem helfen. Und schließlich quasselt sie was von Zielen und Etappen. In mir steigt wieder Wut hoch.

»Können wir das jetzt mal beenden? Ich find das nicht komisch.«

»Warum denn beenden? Du nennst mir Wünsche. Ich skizziere, wie die Ziele in welchen Etappen zu erreichen sind …«

»Du hast doch gesagt, du bekommst von alldem nichts hin!« Jetzt ist mein Ton schon wieder fast so schrill, wie wenn ich mich mit meiner Familie zoffe.

»Ja, das stimmt. Ich bekomme das alles nicht hin. Wo sind wir denn? Bin ich Gott? Ich kann dir das nicht erfüllen. Aber …«

»Was aber?«

»Aber jemand anderes kann dir die Wünsche erfüllen, Selma.«

Ich stutze. Irgendwie verstehe ich gerade Bahnhof.

»Wer soll denn dieser andere sein?« Meine Stimme ist scharf, genervt. Ist sie von irgendeiner Sekte und zieht mir jetzt einen Guru aus dem Hut? Es dauert eine Weile, dann sagt Sonja nur ein Wort.

»Du.«

»ICH???«

»Ja, wer denn sonst! Schau mal. Ich, Sonja Ziemer, habe ja auch Wünsche. Zum Beispiel will ich mir ein neues Sofa für meine Wohnung kaufen. Nehmen wir mal an, du willst mir dabei helfen. Dann kannst du mir sagen, ob du ein tiefes Sofa wie die Amerikaner oder eher was solides schwedisches oder ein gutbürgerliches deutsches Sofa oder ein Designsofa von Rolf Benz besser findest. Du kannst mir vielleicht Geld leihen, wenn es ein teures Objekt ist. Du kannst mir noch viele andere Hilfen geben. Aber entscheiden und kaufen und finanzieren, Selma, das muss ich, oder?«

Jetzt ist Sonja richtig laut geworden. Das hätte ich nicht erwartet.

»Okay, dann gib mir mal einen Rat, wie ich Lufthansa-Pilotin werde.«

Papierrascheln.

»Pilotin oder Pilot werden wollen ungefähr hundertmal so viele, wie es Plätze gibt«, sagt Sonja. »Da sind die Chancen schlecht, wenn du kein Überflieger-Abitur hast. Hast du eins?«

Ich halte kurz inne, dann pruste ich los, kann das Lachen nicht mehr kontrollieren, ein richtiger Anfall.

»Was ist denn so lustig?«

»Du hast gesagt Überflieger-Abitur. Wenn man Pilotin werden will …«

Sonja bleibt stumm. Irgendwie ist diese Frau schon eigen. Sie sagt nicht, ich kann keine Pilotin werden, weil ich blind bin. Sie verweist stattdessen auf die Abi-Note.

»Wenn ich ein Überflieger-Abi hätte, wie würdest du mir raten, weiter vorzugehen? Damit ich dann also die erste blinde Pilotin werde!« Ich rede jetzt wieder ganz ruhig. »Ich stelle mir das jetzt mal vor: Guten Tag, liebe Passagiere, hier spricht Selma Thierer, Ihre blinde Kapitänin … Was glaubst du, was da im Passagierraum abgeht!«

Wieder bekomme ich einen Lachanfall. Und jetzt hält es auch Sonja nicht mehr. Es dauert, bis sie wieder sprechen kann.

»Also, Selma, ich will ehrlich sein. Pilotin ist der schwierigste Wunsch. Aber auch da können wir erst mal eine Etappe angehen. Ich habe einen Freund, der ist Pilot. Er hat mich schon mal mitgenommen und mir das Cockpit erläutert. Ich frage ihn mal, ob er dich auch mal mitfliegen lässt. Dann würdest du zumindest schon mal im Cockpit dabei sein.«

Sonja geht mit mir jetzt Wunsch für Wunsch durch. Mir wird schnell klar, dass ich mich auch als Nichtblinde für eine der genannten Ausbildungen entscheiden müsste und nicht alle gleichzeitig ausüben könnte. Sie hat Ideen, wie man die Wünsche umsetzen könnte, weist aber auch auf Barrieren hin, die sich auftun.

»Den ersten Wunsch können wir jetzt gleich umsetzen.«

»Welcher war das?«

»Klamotten aussuchen, Farbe der Kleider bestimmen, habe ich mir aufgeschrieben. Komm, wo ist dein Kleiderschrank?«

Ich führe sie und sie mich die Treppe hoch zu meinem Zimmer. Den Kleiderschrank kann ich schon einigermaßen ertasten. Ich öffne ihn.

»Such dir mal was Schönes raus«, fordert mich Sonja auf. Ich ertaste den Stapel mit den T-Shirts, nehme das oberste in die Hand.

»So, dann zeig mir mal, wie ich die Farbe herausfinden soll!«, sage ich trotzig und weiß, Sonja kann jetzt nur verlieren. Sie kramt irgendetwas hervor, drückt es mir in die Hand.

»Los, halt es über das T-Shirt! Und dann drück auf den Knopf.«

Ich tue, was sie mir sagt.

»Türkisblau«, sagt eine künstliche Stimme.

»Was ist das?«

»Na, dreimal darfst du raten. Ein Farbbestimmungsgerät. Schenk ich dir.«

»Oh, danke«, sage ich und spüre zugleich zwei Seelen in meiner Brust. Die der Freude, dass es mit dem Gerät einen kleinen Fortschritt gibt, die der Verzweiflung, dass alles jetzt so mühselig ist.

Nüchtern betrachtet ist das hier ein erster winziger Schritt in ein selbstständiges Leben als Blinde. Vor meinem Unfall habe ich einen Bericht von einer Bahnradfahrerin gesehen, die nach einem Zusammenprall mit einem anderen Radfahrer querschnittgelähmt ist. Sie hat schon bald, nachdem sie im Rollstuhl saß, erste Übungen gemacht, um vom Rollstuhl selbstständig ins Bett zu kommen. Sie hat sehr optimistisch gewirkt, will ihr neues Leben mit Kampfgeist annehmen und das Beste daraus machen. Sie fällt mir jetzt ein, während ich das Plastikgehäuse des Farbbestimmungsgeräts in Händen halte. Ja, das ist schon auch so ein erster Schritt in ein neues Leben, aber … Ich spüre ein Stechen in der Brust, einen Herzschmerz. Woher kommt der nur? Ich glaube, das hängt mit dem langen, dem sehr langen Weg zusammen, den ich vor mir sehe. Ein Weg, dessen Ende ich nicht erkenne.

Ich bin auf den Status eines Kleinkindes zurückgeworfen, das alles neu erlernen muss wie mein Opa nach dem Schlaganfall. Er war halbseitig gelähmt, musste mühselig lernen, die Finger auch nur wenige Millimeter zu bewegen oder die Worte halbwegs hervorzubringen. Ein halbes Jahr später ist er gestorben, ohne dass er wirkliche Fortschritte gemacht hat. Im Unterschied zu ihm habe ich vermutlich noch ein langes Leben vor mir. Wieder wie ein Kleinkind das Leben lernen … Es gibt einen Unterschied zum Kleinkind: Das lernt schnell und ohne groß nachzudenken, wie man geht, spricht, isst. Für mich ist von diesen drei grundlegenden Dingen nur das Sprechen problemlos weiterhin möglich. Was ist mir sonst noch von früher geblieben? Der Verstand, ja, okay, ich hätte eine schwere Schädelverletzung davontragen können. Auch möchte ich nach wie vor chic aussehen, mein Modebewusstsein ist geblieben; mit diesem Farbbestimmungsgerät kann ich es wenigstens ein bisschen ausleben, auch kann ich die Stoffe genauer ertasten lernen. Mein Sinn für Schönheit ist mir geblieben, ich habe immer auf mein Äußeres geachtet, ja, ich bin ein wenig eitel, aber wer ist das denn nicht mit achtzehn?

Ich wage eine Frage, die mich schon im Krankenhaus beschäftigt hat.

»Wie sehen meine Augen eigentlich aus, ich meine, wenn ich dich so anschaue, wo schaue ich denn da hin?«

»Du schaust in meine Richtung, Selma, weil du sehr gut wahrnimmst, von wo meine Stimme kommt. Du hast wunderschöne blaue Augen. Aber …« Sonja zögert.

»Aber was?«

»Aber … Also, ich will da ganz ehrlich zu dir sein. Wenn sich Menschen unterhalten, auch in einer kleinen Gruppe, dann schauen sie sich dabei in die Augen. Eine blinde Person hat keinen Blickkontakt mit anderen mehr und schaut unter Umständen am Gegenüber vorbei.«

»Und das Gegenüber denkt dann, man interessiert sich nicht für das, was es sagt.«

»Genau, so könnten es Sehende empfinden, die keine Erfahrung mit Blinden haben.«

»Das ist doch aber auch total bescheuert, wenn ich so in die Luft schaue beim Reden!« Ich merke, wie in mir wieder Tränen hochsteigen.

»Ja, deswegen kann man auch etwas tun. Das machen viele Blinde. Ich würde mir eine total schicke Sonnenbrille zulegen. Die tragen viele Frauen, auch Sehende. Ist einfach total hip, sexy, cool, such dir ein Wort aus.«

»Ich soll eine Sonnenbrille tragen?« So langsam sickern die Worte in mein Gehirn.

»Ja, unbedingt. Es gibt auch noch einen praktischen Grund. Sie schützt dich. Kann sein, dass mal irgendwo ein Ast runterhängt. Oder sonst was, was dich verletzen kann, und eben auch deine Augen. Und deine himmelblauen Augen solltest du schützen. Die sind es wert.«

Ich setze mich auf mein Bett, Sonja auf meinen Schreibtischstuhl, wie ich aus dem Quietschen schließe. Zum ersten Mal seit dem Unfall habe ich einen Lachanfall gehabt. Davor hatte ich die so oft. Jetzt fällt alles Frohe, alles Leichte, was eben in meinem Herzen auflebte, mit einem Mal zusammen wie ein gerade aufgebautes Zelt, das vom Sturm weggeweht wird, noch ehe die Heringe fest eingeschlagen sind.

In meinem Inneren erlebe ich Wechselbäder der Gefühle. Eben noch die Hoffnung, wieder Farben bedingt zu erkennen, jetzt die Verzweiflung darüber, immer mit einer Sonnenbrille herumzulaufen. Der Blickkontakt ist doch so wichtig für gute Gespräche. Und funktioniert nicht die Liebe über Blicke?

Wer wie ich einen Schicksalsschlag erlebt, hat von heute auf morgen ein anderes Leben. Und schlimm ist es zu wissen, dass ich mein altes Leben nie mehr haben werde. Ich stelle mir vor, wem das genauso geht: Eltern, deren Kind von einem Bus überrollt wird und stirbt; Frauen, die die Diagnose Krebs bekommen und denen die Brust entfernt wird; Männer wie mein Opa, der nach dem Schlaganfall nie wieder ins Leben zurückgefunden hat. Ich beginne, das Schicksal anderer mit meinem zu vergleichen, und habe ein schlechtes Gewissen dabei, warum auch immer. Jeder hat sein eigenes Päckchen zu tragen, hat mir Oma mal gesagt, die schon vor meinem Opa gestorben ist. Mein Päckchen ist die Erblindung. Schaffe ich es, das Päckchen zu tragen? Und Päckchen ist viel zu verniedlichend, es ist ein riesiges Paket!

Alles, was ich mir wünsche, wird so ein unendlich langer Weg. Ein Spiegelei braten ist genauso viel Aufwand wie für andere Fassadenklettern an einem Frankfurter Bankenhochhaus.

»He, ist alles nicht so einfach, Selma.«

Ich erwache wie aus einem Traum, schluchze ein bisschen vor mich hin.

»Ja.«

»Du denkst sicher oft an den Unfall.«

»Hm.«

»Ich mach dir mal einen Vorschlag. Das Wort ›Unfall‹ – also ich würde das ersetzen. Durch irgendein Bild …«

»Die Schwarze Wand!«, platzt es aus mir heraus.

»Die Schwarze Wand, okay. Das ist ein starkes Bild.«

»Warum soll ich das Wort ›Unfall‹ durch ein Bild ersetzen, Sonja?«

»Weil du mit so einem Bild den Unfall besser abarbeiten kannst.«

»Wie meinst du das?«

»Die Schwarze Wand ist bedrohlich, richtig?«

Ich nicke stumm.

»Dann musst du entweder durch die Wand hindurchgehen. Oder du musst sie einreißen. Damit du dahinter wieder das Licht siehst.«

Durch die Wand hindurchgehen. Sie einreißen. Irgendwie klingt das stark. Mir dämmert, dass ich die Wahl habe: Entweder ich lasse zu, dass die Krise mein Leben bestimmt. Oder ich versuche, die Krise zu überwinden. Ich bin hin- und hergeworfen zwischen Resignation und Optimismus. Vor Sonjas Besuch war nur Resignation. Jetzt fühle ich Optimismus. Nur ein bisschen, aber immerhin. Es war jedenfalls kein Fehler, Sonja kennenzulernen, stelle ich fest und bin überrascht darüber. Wie hatte ich noch bis vor Kurzem einen solchen Besuch abgelehnt!

Ein Bild für den Unfall finden. Die Schwarze Wand. Das hilft mir. Jetzt habe ich einen Feind, dem ich mich stellen kann. Der Feind ist mächtig. Wie viel Kraft habe ich?

Manchmal lassen wir uns auf Begegnungen und Dinge nur ein, um Gründe in der Hand zu haben, sie für immer abzulehnen. Na siehste, ich hab’s doch gleich gewusst. Aber wir sind nicht davor gefeit, dass es ganz anders kommt.
Wenn der Sommer kommt, tanzen die Träume

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