Читать книгу Wenn der Sommer kommt, tanzen die Träume - Felix Leibrock - Страница 7
KAPITEL 3
ОглавлениеSeit einer Woche liege ich jetzt in der Augenklinik. Es steht fest: Der Unfall, das Umherschleudern meines Kopfes durch den schweren Aufprall, hat meinen Sehnerv durchtrennt.
ICH BIN BLIND!
Es klopft an der Tür, und ich murmele ein mechanisches »Herein«. Eigentlich ist es mir egal, ob jemand zu mir kommt. Alles ist mir gleichgültig geworden. Besuche, Essen, Fernsehprogramm. Haha, das Fernsehprogramm. Ich bin blind, mein Leben ist zerstört. Der Gedanke, es zu beenden, kommt mir immer häufiger in den Sinn. Aber selbst dazu bin ich als Blinde ja nicht ohne Weiteres imstande. Wenn ich zur Wand renne, wo die Fenster sein müssten, eins öffne und springe, lande ich vielleicht mit ein paar gebrochenen Knochen auf einem Vordach nur zwei Meter tiefer. Was kann ich überhaupt noch?
»Hallo, Selma«, höre ich eine leise, brüchige Stimme. Ich erkenne sie trotzdem.
»Julia. Wie geht es dir denn?«
Julia ergreift meine Hand.
»Hallo. Ich bin auch da.«
Auch diese Stimme ist verrutscht, schwach, fast wie ein Zwölfjähriger, den die Eltern beim Rauchen erwischt haben und jetzt zur Rede stellen.
»Robert?«
»Ja.«
Mehr kommt nicht. Nur ein Schluchzen höre ich.
»Julia? Weinst du?«
Ich vermute, dass sie es ist, die sich schnäuzt.
»Es ist so furchtbar, Selma«, bricht es jetzt unter Tränen aus ihr heraus. »Das war doch alles so nicht abzusehen. Hätten wir doch nur diese blöde Badehose nicht herumgeworfen. Dann wäre das alles nicht passiert.«
Ich warte ab, ob sie noch was sagt. Aber sie schweigt.
»Hätte, hätte, hätte«, übernehme ich und merke eine Aggression in mir, die ich bisher nicht an mir kannte. »Hätte ich mit euch Volleyball gespielt, wäre das alles nicht passiert. Hätten wir die Öffentlichen genommen und nicht diesen supertollen, superschnellen, superschönen, superteuren Mercedes … Jetzt ist der Schrott, und ich bin es auch. Na bravo!«
Ich habe mich aufgerichtet und schreie so laut, dass sich die Tür öffnet und ein Krankenpfleger fragt, ob alles in Ordnung sei.
»Ja«, sage ich scharf, »alles ist in Ordnung. ALLES!«
Keine Ahnung, was für Blicke der Pfleger und meine Besucher miteinander wechseln. Jedenfalls schließt sich die Tür wieder, und der Pfleger scheint nicht mehr im Raum zu sein.
»Es tut mir unendlich leid, Selma. Ich hätte vorsichtiger sein müssen. Am Steuer muss man nach vorne schauen.«
»Toll! Kluge Erkenntnis, Robert!«, fahre ich ihn an. »Noch so ein Hätte-Mensch. Ich liebe Hätte-Menschen. Hätte. Hätte. Hätte. Hättest du darauf verzichtet, uns deine Bonzen-Karre vorzuführen! Hast du aber nicht! Hättest du als Fahrer darauf bestanden, dass wir uns hinten anschnallen! Hast du aber nicht! Und jetzt bin ich blind!«
Es ist ruhig, und ich wimmere leise vor mich hin. Noch mehr Seufzen und Schluchzen ist zu hören. Ich vermute, Julia und auch Robert haben ihre Gefühle jetzt überhaupt nicht mehr im Griff. Minuten vergehen. Kurz kommt mir der Gedanke, dass ich das mit dem Anschnallen gerade auch Robert in die Schuhe geschoben habe. Ich bin ja kein kleines Kind, ich hätte mich unaufgefordert anschnallen müssen. Aber das ist mir in diesem Augenblick egal. Roberts Schuldpaket soll ruhig noch schwerer werden. Er hat es verdient, und zwar so was von!
»Wenn ich es wiedergutmachen könnte, würde ich es tun«, sagt er schließlich.
Mir schießt ein Gedanke durch den Kopf. Robert, meine große Liebe. Er könnte doch als Ausgleich für sein Versagen am Steuer, jetzt statt Julia mich als neue Freundin … Ich verbiete mir den Gedanken gleich wieder. Absurd. Was für ein Bullshit!
»Und mein Vater hat auch alle Hilfe angeboten«, fährt Robert fort. »Du weißt, er ist Chirurg. Plastische Chirurgie. Aber das wirst du nicht brauchen. So wie ich das sehe, sind das nur Schürfwunden, blaue Flecken, Prellungen. Die gehen von alleine weg.«
Sicher meint es Robert, getrieben von schlechtem Gewissen, gut. Aber es ist ein einziges Wort, das genügt, um mich wieder auf die Palme zu bringen.
»NUR Schürfwunden habe ich, mein guter Robert!« Wieder werde ich laut. »Ach Gottchen, alles halb so schlimm, ja, klar. Weißt du eigentlich, dass ich nie wieder etwas sehen werde? Dass ich blind bin, weil du in den Graben gefahren bist?«
Dieses Schreien ist mir wesensfremd. Aber ich kann nicht anders. Mir fällt eine Szene mit Mama ein, als ich noch klein war. Sie hat einen neuen Schnellkochtopf ausprobiert und etwas in der Gebrauchsanweisung falsch verstanden. Der Druck im Topf war gewaltig, als sie ihn geöffnet hat. Die Gemüsesuppe ist bis an die Decke geschossen. Ich bin gerade so ein Schnellkochtopf. Und Robert kennt die Gebrauchsanweisung nicht. Vielleicht gibt es auch keine Gebrauchsanweisung. Er hat jedenfalls den Deckel geöffnet.
»Ich weiß doch, Selma. Aber auch da hat mein Vater seine Hilfe angeboten, ich meine finanziell, er will …«
»HÖR AUF MIT DEINEM VATER!« Ich atme schwer und beiße mir heftig auf die Lippen. »Du musst selbst Verantwortung übernehmen für das, was du angerichtet hast. Ich brauche keine Schönheits-OPs und kein Geld. Ich will wieder sehen, begreifst du das nicht? Ich will in Neuseeland Erdbeeren pflücken, eine Exkursion mit der Uni ans Wattenmeer machen oder mit dem Fahrrad zum Philosophiestudium fahren. Aber das geht alles nicht mehr. Da kann mir dein Vater nicht helfen. Und du nicht. Niemand kann mir da helfen. Aus. Vorbei. Finito.«
Ich lasse mich weinend in die Kissen zurückfallen. Keine Kraft mehr zum Aufbäumen. Dann tauche ich in meine unsichtbare Kapsel ein, fast schalldicht, nur einen undefinierten leisen Geräuschteppich nehme ich noch wahr, unbeholfene Sätze von Robert, vertröstende Worte von Julia. Ich öffne die Luke zur Kapsel nur noch einmal, als Julia mir etwas in die Hand drückt, eine Schachtel.
»Hier! Ich habe meinen Bruder gebeten, mir das zu besorgen.«
Ich öffne die Packung und ertaste ein Gefäß.
»Du musst hier drücken.« Julia führt mir die Hand, den Zeigefinger. »Mach es dir hier auf den Handrücken der rechten Hand. Und dann halte sie dir unter die Nase.«
»Das geht nicht, Julia, das Schlüsselbein rechts ist doch gebrochen.«
»Okay. Dann mach es mir auf die Hand, und ich reib es auf deinen anderen Handrücken.«
Ich drücke den Knopf. Das Geräusch eines Sprühstoßes. Sie reibt ihre Hand an meine.
»So, jetzt riech mal.«
Ich atme durch die Nase einen tiefen Zug ein.
»Donna Karan New York«, sage ich tonlos.
Julias Lieblingsparfüm. Sie hat es letztes Weihnachten von ihren Eltern geschenkt bekommen. Und sie hat nicht vergessen, wie ich mich für den Duft begeistert habe.
»Ich würde vorschlagen, Selma, das wird ab jetzt unser gemeinsamer Duft.«
»Wie? Ist das für mich?«
»Ja. Dann sind wir uns noch ein bisschen näher.«
Julia will mich aufmuntern. Aber sie erreicht mich nicht, weil sie nicht versteht, was uns unterscheidet. Sie hat ein gebrochenes Bein, Robert einen gebrochenen Arm. Ich aber, ich habe ein gebrochenes Herz. Gebrochene Beine und Arme wachsen wieder zusammen. Gebrochene Herzen nicht.
Stühlerücken, Julia umarmt mich, küsst mich auf die Wange, flüstert mir tatsächlich »Ich liebe dich« ins Ohr. Ihr Atem riecht nach Wrigley’s Spearmint. Robert traut sich offenbar nicht, mich zu berühren. Abschiedsworte. Sie gehen in die Welt der Sehenden. Ich bleibe im Reich der Blinden zurück. Als sie gegangen sind, halte ich mir den Handrücken unter die Nase und sauge den Duft tief ein.
In den wenigen klaren Momenten in diesen ersten Tagen nach dem Besuch von Julia und Robert sage ich mir: Ich darf es mir nicht mit denen verscherzen, die nach so einem Ereignis an meiner Seite sind. Nicht dieses Schimpfen, das ganz schnell, bei einer falschen Bemerkung, in ein Beschimpfen übergeht. Auch bei meinen Eltern, bei meinem jüngeren Bruder Lennart habe ich mich schon mehrfach so wie bei Julia und Robert gehen lassen. So war ich doch vor dem Unfall nicht. Bin ich nur vorübergehend wehleidig, oder verwandle ich mich in eine Misanthropin? In einer Zeitschrift habe ich gelesen, dass Trauernde die ersten Wochen nach dem Tod des geliebten Menschen viel Zuwendung erfahren. Aber spätestens nach einem halben Jahr wandelt sich das in Ungeduld: Jetzt trauert die immer noch!
Wer bin ich anderes als eine Trauernde? Ich trauere um Selma, die Sehende. Maximal ein halbes Jahr habe ich also. Dann wird es einsam um mich.