Читать книгу Wenn der Sommer kommt, tanzen die Träume - Felix Leibrock - Страница 9
KAPITEL 5
ОглавлениеDie Auseinandersetzungen mit meinen Eltern nehmen zu. Auch weil ich mich so viel mit Lennart zoffe. Der geht mir so was von auf die Nerven! Dieses Pubertier. Die laute Musik in seinem Zimmer. Seine kribbeligen Kumpels, die er manchmal mitbringt und die immer durchs Haus lärmen. Dieses Pseudomachogequake. Ich kann dem allen nur entfliehen, indem ich meine Kopfhörer aufsetze und mich genauso zudröhne. Manchmal frage ich mich, ob ich eifersüchtig auf meinen Bruder bin. Er hat ein ganz normales Leben vor sich. Das Leben eines Sehenden. Kommen diese Gedanken, schäme ich mich sogleich dafür. Mein Bruder kann doch nichts dafür, dass ich blind bin oder dass er es nicht ist. Ich habe das Gefühl, der Unfall hat mein Gehirn mit einem Eimer schwarzen Teers getränkt. Nur finstere Gedanken, alles so sinnlos, warum noch leben. Mein Herz zieht sich fast jede Minute vor Schmerz zusammen, schlägt wild, als wolle es sich aus meiner Brust heraushämmern. Ich liege auf meinem Bett, atme schwer wie eine Forelle an Land, die ihre letzten Züge macht. Was für ein seelisches Wrack bin ich durch ein einziges kurzes Ereignis geworden!
Du bist ein Sonnenkind, hat mir meine Mutter früher oft gesagt. Weil ich so lebensfroh war, gerne gelacht habe, mich für Dinge schnell begeistern konnte. Weil ich das Leben geliebt habe. Und jetzt? Jetzt hasse ich es. Ja, ich hasse das Leben. ICH HASSE ES.
Ich drehe die Musik in meinem Kopfhörer so laut auf, dass mir das Trommelfell schmerzt.
Ein lautes Haus. Ein zugedröhnter Kopf. Ein Gewirr der Stimmen da und dort.
Manchmal bin ich alleine zu Hause. Dann wage ich es, mich auszuprobieren. Ich taste mich zum Kühlschrank, öffne eine Flasche und errieche Milch. Aber die Grenze wird mir aufgezeigt, als ich mir ein Spiegelei braten will. Ich vergreife, vertaste mich. Fasse auf die sich erhitzende Herdplatte. Ich glaube, den Geruch schmorender Haut zu riechen, schreie laut. Auch noch, als meine Mutter Minuten später nach Hause kommt und mich zusammengekauert auf dem Küchenboden entdeckt, die linke Hand so fest um den rechten Unterarm gepresst, als könne ich damit irgendwo den Schmerz abdrehen. Meine Mutter untersucht die Wunde, offenbar ist es nicht ganz so schlimm, wie es mir der Schmerz signalisiert hat. Sie trägt eine Salbe auf und legt mir einen Verband an.
»Warum machst du denn so was?«, höre ich sie schimpfen. Mir ist alles egal. Habe ich halt auch noch eine verkohlte Hand. Was macht das schon bei einer Blinden!
»Warum lässt du dir nicht von einer Lehrerin helfen, Mensch, sag, Selma, warum, warum nicht?«
Ich schweige, trotze vor mich hin.
»Du musst deine selbst gebaute Höhle verlassen, sonst bleibst du immer im Dunkeln.«
»Selbst gebaut?«, wimmere ich. »Habe ich den Unfall selbst gebaut?«
»Den Unfall natürlich nicht. Aber du hast dir seitdem eine Höhle des Selbstmitleids, des Sturseins geschaffen. Und in dieser Höhle wirst du niemals glücklich!«
»Glücklich, das werde ich doch sowieso niemals … ach, vergiss es einfach, Mama, vergiss es.«
Meine Mutter verliert nur manchmal die Geduld mit mir, mein Vater ständig. Beide sagen, ich sei bockig, stur, wolle mich in mein Leid eingraben. Sogar zum Psychiater wollten sie mich bringen. Als ob ich gestört bin! Gestört ist doch, dass ich nichts mehr sehe. Dafür kann ich nichts.
Gestört sind auch Clara, Bibi, Hanna, Esther, Sophie. Auch Lukas, Manuel und Alex. Sie haben mir eine Karte geschrieben, gleich nach dem Unfall. Wie witzig, eine Karte! Als ob sie mich quälen wollen: Schau mal, was da Schönes drauf ist. Wenigstens war es eine Reliefkarte, damit ich auf der Vorderseite das Motiv ertaste.
»Ein Glücksschwein?«, frage ich meine Mutter.
»Nein, Selma, zweimal Raten hast du noch.«
Ich fahre weiter mit dem Zeigefinger die Konturen ab.
»Ein Weinfass?«
»Nein.«
»Ein Vogel?«
»Nicht schlecht, es ist ein Engel mit einer Sprechblase. Er sagt: Hab dich lieb.«
»Aha.«
Ein Engel also. Vielleicht ist es mein Schutzengel. Der hatte am Freitag, dem einundzwanzigsten Juni, seinen freien Tag, wie der Name schon sagt. Frei-Tag. Oder er hat Überstunden abgebaut. Nicht mal für eine Vertretung hat er gesorgt. Gekniffen hat er vor der schwarzen Wand. Versager-Engel!
»Wir sind für dich da, Selma, steht auf der Rückseite«, sagt meine Mutter, »Clara, Bibi, Hanna, Esther, Sophie, Lukas, Manuel, Alex.«
Alle aus meiner alten Klasse. Besucht haben mich von denen in den vergangenen sechs Wochen, seit ich zu Hause bin, nur Clara und Esther. Und die auch nur ein einziges Mal. Die anderen sind alle unterwegs. Erdbeerenpflücken in Neuseeland vielleicht. Manchmal kommst du zu der bitteren Erkenntnis, dass geglaubte Freunde nur oberflächliche Bekannte sind.
Julia kommt häufig. Aber nicht mehr lange. Im Oktober zieht sie nach Regensburg. Zum Jurastudium. Mit Robert will sie erst mal eine Fernbeziehung führen.
»Mit ihm hier jetzt zusammenziehen, das will ich nicht. Jedenfalls noch nicht. Wir sind ja kein Ehepaar«, kichert sie. Mir ist nicht nach Lachen zumute. Wenn sie am Wochenende nach München kommt, wird sie sich mit Robert treffen. Keine Zeit mehr für mich haben.
»Ich habe im Internet gelesen, dass man es in einem Experiment geschafft hat, den Sehnerv wiederherzustellen«, sagt sie.
»Echt?« Ich sortiere die Worte, die sie eben gesagt hat. Mein Puls beschleunigt sich.
»Ja, hier, warte, einen kleinen Augenblick.«
Sie liest mir vor, was an der Stanford University gelungen ist. Mit Chemikalien und bestimmten Stimulationen haben sie den Sehnerv zum Teil wiederbelebt.
»Und sieht der Blinde jetzt wieder was?«
»Äh, nein, die haben das mit einer Maus gemacht. Aber die hat offenbar wieder einen Schatten registriert.«
Eine Maus, die einen Schatten registriert. Das ist doch gar nichts, denke ich mir. Erzähle es aber trotzdem der Augenärztin, zu der mich mein Vater noch mal begleitet, ohne dass ich erkennen kann, was mir das bringt. Und die Ärztin warnt gleich. Man müsse diese Ergebnisse in Stanford mit Vorsicht aufnehmen. Der Sehnerv bestehe aus mehr als einer Million Nervenfasern. Und die seien bei einem Unfall wie meinem durchtrennt worden. Klar könne man hoffen, aber …
Hoffen, wie gerne würde ich das! Auf irgendeine Chance hinleben. Ich würde so gerne kämpfen, wenn ich damit mein Augenlicht wieder erhalten könnte. Wenn alles wieder so wäre wie vor dem Unfall! Aber dass Blinde wieder sehen, gibt’s doch nur im Märchen. Reine Erfindung. In der Bibel steht auch was von Blinden, die wieder sehen werden. Wenn ich das richtig verstanden habe, wird das dort in ein Jenseits verschoben. Ich lebe aber nicht im Jenseits. Ich will im Diesseits sehen. Oder beim Kleinen Prinzen sagt der Fuchs: Man sieht nur mit dem Herzen gut. Das macht mich aggressiv. So ein Gesülze! Das können die leicht sagen, die nicht blind sind. Das Wesentliche ist für die Augen unsichtbar, sagt der Fuchs weiter, wenn ich mich richtig erinnere. Postkartensprüche. Für mich ist das kein Trost und schon gar keine Hoffnung. Um zu hoffen, braucht man realistische Perspektiven. Forscher in Stanford, die sagen: Wir haben den Durchbruch geschafft! Wir werden als Nächstes einer achtzehnjährigen Deutschen den Sehnerv wieder zusammenflicken!
Auch etwas anderes kann helfen, wenn man hoffen will: Vorbilder, an denen man sich orientieren kann. Menschen, die gekämpft haben und scheinbar Unmögliches geschafft haben. Eine Blinde mit durchtrenntem Sehnerv, die wieder sieht, dafür fehlen mir Vorbilder. Es gibt sie nicht. Wie heißt es im Sprichwort? Die Hoffnung stirbt zuletzt. Bei mir ist sie zuallererst gestorben. Im Krankenhaus, als dieser Dr. Hollweck meinem Vater gesagt hat, was Sache ist. In meinem Fall existieren keine realistischen Perspektiven und keine Vorbilder. Es gibt nichts mehr zu hoffen. Da braucht man nicht lange um den heißen Brei herumzureden.
Was sagt noch mal die Augenärztin zu den Stanford-Ergebnissen? Klar könne man hoffen, aber …
Ich merke schon an ihrer Stimme, um wie viel gewichtiger die Aber-Worte sind, die folgen. Wenigstens ist sie keine Märchenerzählerin, keine Jenseitsvertrösterin, keine altkluge Füchsin. Realistisch ist, dass ich mich auf ein Leben in völliger Blindheit einrichte, bleibt mir nur als Schlussfolgerung. Aber kann, will und werde ich das tun? Mich in diesem neuen Leben einrichten?
Ich liege in meinem Bett und höre Radio. Weil ich dann, immer wenn die Nachrichten kommen, weiß, ob es hell oder dunkel ist und ob es jetzt Zeit ist zum Einschlafen. Zweiundzwanzig Uhr. Aus dem Schlafzimmer gegenüber höre ich gedämpfte, erregte Stimmen. Meine Eltern streiten wieder. Das haben sie auch schon vor dem Unfall getan. Jetzt aber geschieht es häufiger, heftiger. Ich lausche, schnappe ein paar Satzfetzen auf.
»… dann müssen wir sie einweisen lassen, wenn’s nicht anders geht, mit …«
»… verrückt … das eigene Kind?«
»Ach, mir reicht’s … Irrenhaus …«
»Du bist doch nur noch …«
»Und du erst … Du hast doch … Und du …«
Türenschlagen. Das Klappern eines Schlüsselbundes. Schnelle Schritte. Draußen springt ein Motor an. Ein wegfahrendes Auto.
Wenn das so weitergeht, bringt der Unfall meine Eltern noch auseinander. Diese Gewitter von Du-Botschaften. Bei den Streitereien früher haben sie sich meist noch am selben Tag wieder zusammengerauft. Jetzt bleibt mein Vater manchmal die ganze Nacht weg. Ob er eine Freundin hat? Und nur noch einen Vorwand sucht, um meine Mutter und natürlich auch Lennart und mich zu verlassen?
Ich überlege, ob das schlimm wäre, wenn er ganz wegginge. Er schimpft so viel mit mir, ist oft gereizt. Letztens hat er offen von meiner Mitschuld am Unfall gesprochen, weil ich nicht angeschnallt war. Da bin ich völlig ausgerastet, obwohl ich mir selbst diesen Vorwurf auch mache. Aber das ist etwas anderes. Einem anderen, und wenn er mein Vater ist, steht es nicht zu, mich in dieser Sache schuldig zu sprechen. Denn die Konsequenzen, die ich tragen muss, stehen in keinem Verhältnis zur Ursache. Blindheit für Nichtanschnallen. Geht’s noch?
Ich frage mich wieder, ob es schlimm wäre, wenn mein Vater ginge. Emotional ist er mir schon immer etwas fern gewesen. Durch den Unfall, seine Vorwürfe, die vielen Streitereien ist er mir noch fremder geworden. Deswegen ist die Antwort, ob es auch ohne ihn ginge, eine doppelte: Emotional vielleicht schon, zumindest im Augenblick, aber praktisch gesehen geht es nicht ohne ihn. Ich bin von ihm abhängig wie auch von meiner Mutter. Er hilft mir im Haus und begleitet mich, wenn meine Mutter arbeitet, bei den wenigen Malen, wenn ich das Haus verlasse. Als Zahnarzt hat er zeitliche Spielräume, zumal er die Praxis gemeinsam mit zwei Kolleginnen betreibt. Da kann ihn immer mal jemand vertreten. Meine Mutter, Kunsthistorikerin in der Alten Pinakothek, hat zwar Gleitzeit, ist aber nicht so flexibel. Nach dem Unfall haben meine Eltern den geplanten Urlaub in Schweden gestrichen. Meine Mutter hat für meine Zeit im Krankenhaus ihren kompletten Resturlaub genommen. Vielleicht sind die beiden auch deswegen so gereizt. Urlaube, die ausfallen. Zeiten der Nähe, die fehlen. Aggressionen, die wachsen.
Der Schlüssel für eine Verbesserung der Situation, das wird mir nach dem Streit der beiden heute klar, liegt auch bei mir. Ich stemme mich aus dem Bett und taste mich zur Schlafzimmertür meiner Eltern. Ich höre, wie meine Mutter vor sich hin schluchzt.
Bevor ich das Schlafzimmer betrete, setze ich mich auf die niedrige Kommode im Flur, um nachzudenken. Um mich herum geht die Welt scheinbar unter. Ich selbst bin verbittert, weil meine Lebensträume zerstört sind. Meine Eltern streiten sich, leben sich immer mehr auseinander, nicht nur, aber auch wegen des Unfalls. Lennart in seiner Pubertät setzt das sicher hart zu. Bisher habe ich mich nicht gefragt, was es für ihn bedeutet, jetzt eine blinde Schwester zu haben. Sollte ich aber tun! Alle Zeichen im Hause Thierer stehen auf Krise, schwerste Lebens- und Familienkrise. Was nur kann ich tun, um dem wenigstens ein bisschen entgegenzuarbeiten? Wenn man in Krisenzeiten den Dingen einfach nur seinen Lauf lässt, ist irgendwann völliges Land unter. Auch wenn ich nicht schuldig an meiner Lebenskrise bin, befreit mich das nicht von der Aufgabe, gegen die Krise anzugehen. Das sagt mir jetzt eine innere Stimme. Ich kann nicht in diesem Klagestatus, in dieser Lethargie bleiben.
Was bringt mich zu dieser Einsicht? Vielleicht weil ich merke, wie ich durch mein Verhalten andere mit herunterziehe. Andere, die mir wichtig sind, weil sie meine Familie sind, und die es nicht verdient haben, auch noch Leidtragende des Unfalls zu werden. Ich glaube, wenn man in einer unverschuldeten persönlichen Krise steckt, darf man sich eine Zeit lang gehen lassen, jammern, selbstmitleidig sein. Aber das muss ein Ende finden, wenn es auf Kosten anderer geschieht; denn sonst macht man sich schuldig.
Was aber, so frage ich mich, kann ich konkret tun, um eine positive Entwicklung in Gang zu setzen, gerade wenn es mir so unendlich schwerfällt, aktiv zu werden? Mir kommen Sätze meiner Eltern in den Sinn, die sie die letzte Zeit oft gesagt haben und die bei mir nur bockige Reaktionen ausgelöst haben. Vielleicht, wenn ich mich mal auf diese Sätze, diese Forderungen einlasse? Ich betrete das Schlafzimmer meiner Eltern und taste mich zum Bett vor, in dem meine Mutter liegt und weint.
»Mama, bitte ruf morgen diese Blindenlehrerin, diese Trainerin, an. Ich will das mal versuchen.«
Manchmal muss man sich einen Ruck geben, über den eigenen Schatten springen, den inneren Schweinehund überwinden. Oder anders gesagt: Manchmal muss man die Höhle verlassen. |