Читать книгу Wenn der Sommer kommt, tanzen die Träume - Felix Leibrock - Страница 5

KAPITEL 1

Оглавление

Es ist einer jener Sommer voller Schwalben, flirrendem Asphalt und dem unverwechselbaren Geruch von Sonnenöl, Pommes und Jugend über dem matten Grün der Schwimmbadwiese.

Ein Grashüpfer ist auf meinen Studienführer gesprungen und schnuppert am T von DIE ZEIT. Mit meinem Abi von 1,8 ist es schwer bis unmöglich, einen Studienplatz für Psychologie zu bekommen. Ich schreibe Wartezeit in die Contra-Spalte.

»Ey, Selma, komm, mach mit!« Robert und Julia stehen am Volleyballnetz zwanzig, dreißig Meter entfernt und albern mit dem Ball im grauweißen Sand herum. Für ein Volleyballspiel brauchen sie noch Leute. Ich winke ab.

Vielleicht gehe ich ein Jahr ins Ausland. Australien oder Neuseeland, Work and Travel, Erdbeerenpflücken und dann ein bisschen durchs Land reisen. Das würde mir Spaß machen. Ob man mir das als Wartezeit für das Psychologiestudium anrechnet? Ich blättere im Studienführer. Auf der hellblauen Fleecedecke vor mir liegen mehrere Blätter. Oben auf jedes Blatt habe ich einen Studiengang geschrieben, der mich interessiert. Darunter zwei Spalten. Meine berühmten Pro- und Contra-Listen, der Running Gag in unserer Clique. Schauen wir in Roberts Studentenbude die neue Game of Thrones-Staffel? Oder chillen wir bei Giovanni in der Eisdiele? Selma, mach doch mal eine Pro- und Contra-Liste! Sollen sie sich ruhig darüber lustig machen. Mir ist das egal. Ich brauche diese Listen, um meinen Kopf aufzuräumen.

»Seeelma!« Robert hält die Hände als Trichter vor seinen Mund. Wieder winke ich ab. Der Grashüpfer ist auf meinen Oberschenkel gesprungen. Ein leichtes Prickeln durchströmt meine Haut. Das Orange meines Bikinis scheint wie eine Signalfarbe auf ihn zu wirken. Ich bleibe im Schneidersitz und erfreue mich an meinem kleinen Besucher.

»Geografie« steht auf einem der Blätter. Mich interessieren ferne Länder, exotische wie Patagonien oder die Archipele in Indonesien. Ein anderes trägt die Überschrift »Biologie«. Vor einigen Tagen habe ich mir das Institut an der Uni angeschaut. Eine Hochalpenexkursion bieten sie dort an, auf 2500 Meter zur Kürsingerhütte. Und ein meeresbiologisches Freilandpraktikum am Wattenmeer. Wow, das wäre supercool. Aber das ist sicher alles teuer. Auch für Philosophie interessiere ich mich. Bekommt man damit aber einen Job? Wer braucht eine Philosophin?

Oder Germanistik. Ich lese gerne Gegenwartsliteratur, Romane, auch Gedichte. Im Deutsch-Abi habe ich vierzehn Punkte. Das alles schreibe ich in die Pro-Spalte. Oder nimmt man in Germanistik nur die Klassiker durch? Berufliche Perspektiven hätte ich da wohl nur als Lehrerin. Eigentlich will ich das nicht. Auf ein anderes Blatt habe ich »Medienwissenschaften« geschrieben. Immer mehr Pros und Contras zu den jeweiligen Studiengängen fallen mir ein.

Julia und Robert haben zwei Jungs gefunden, die jetzt mit ihnen Volleyball spielen. Sie haben viel Spaß miteinander. Robert ist mit seinen dreiundzwanzig Jahren ganz schön lebenserfahren. Die Ausbildung bei der Polizei hat er abgeschlossen. Polizeioberwachtmeister ist er – gewesen. Kurz nach der Ausbildung hat er den Dienst quittiert. Eine Kollegin von ihm sitzt im Rollstuhl, weil ein psychisch Gestörter sie angeschossen hat. Robert hatte die Schicht unmittelbar danach. Er redet nicht gerne über den Vorfall, aber für ihn war es ein Schlüsselerlebnis. Jetzt studiert er Betriebswirtschaft. Seinen Humor hat er behalten. Ich kenne ihn schon seit Kindertagen, seine jüngere Schwester Clara hat mit mir Abi gemacht. Jetzt ist er mit Julia zusammen, meiner besten Freundin. Das hat mich ziemlich verletzt, denn er hat mir schon immer gefallen. Die letzten beiden Jahre habe ich wegen ihm oft gelitten, konnte nichts essen oder nicht schlafen, aber er wusste nichts davon. Ich habe immer auf eine Gelegenheit gewartet, dass er und ich irgendwo, irgendwie … ach, vergiss es. Die Liebe kann man nicht erzwingen. Jetzt schäkern sie da drüben beim Volleyballspielen miteinander, umarmen sich ständig, geben sich flüchtige Küsse nach jedem Ball, obwohl Julia doch wissen müsste, wie sehr ich in Robert verliebt war und vielleicht immer noch ein bisschen bin. Sie tut mir weh, aber ich bin sicher, sie macht das nicht mit Absicht. Robert himmelt sie an und sie ihn, die beiden passen einfach zueinander. Ich bin draußen. So ist das nun mal.

Pechschwarze Wolken ziehen hinter dem Sprungturm und dem Wäldchen auf. Plötzlich grollt es am Himmel, ein Donnern, dass die Gläser in der Strandbar klirren. Ein Gewitter droht sich schon sehr bald zu entladen. Robert und Julia rennen atemlos herbei. Ihnen folgen die zwei Jungs vom Volleyballfeld. Robert stellt sie mir kurz vor, er kennt sie vom BWL-Studium.

»Los, wir packen es, fahren wir dem Gewitter davon. Im Isartal müsste schon wieder die Sonne scheinen. Dort gehen wir noch in einen Biergarten.«

Eilig klauben wir unsere Klamotten, Zeitschriften, Sonnencremes auf und falten die Decken zusammen. Mit unseren Flipflops, die Taschen über der Schulter, starten wir ein Wettrennen. Robert ist der Erste, der zum Ausgang stürmt und am Mercedes Cabrio seines Vaters eintrifft. Sein Dad hat ihm den Wagen ausgeliehen, im Fuhrpark des Schönheitschirurgen steht ein halbes Dutzend edler Gefährte zur Auswahl. Julia springt auf den Beifahrersitz. Ich quetsche mich mit Luis und Daniel, so heißen die beiden Kumpels von Robert, auf die Rückbank.

»He, Robert, willst du nicht das Cabrio schließen?«, fragt Luis.

»Nein, wir fahren dem Regen davon.«

Robert fährt schneidig los. Man merkt ihm seine Fahrerfahrung an. Neben den Führerscheinstunden hat er bei der Polizei ein spezielles Fahrtraining absolviert. Für Blaulichtfahrten. Bei ihm fühle ich mich sicher, auch wenn er riskant fährt. Allerdings merke ich, dass ich auf dem Sicherheitsgurt sitze. Auch die beiden neben mir auf der Rückbank sind nicht angeschnallt. Wenn ich den Gurt jetzt unter meinem Hintern hervorholen will, müsste ich mich ganz schön hin und her ruckeln. Und das neben den zwei Kumpels von Robert. Am Schluss denken die noch, ich will ihnen auf den Schoß steigen. Ist schon sehr eng da hinten im Fond. Nun, für die paar Kilometer geht es auch mal ohne Gurt.

»Hör auf, Luis! Na warte!«, schreit Robert jetzt gespielt empört nach hinten. Eine nasse Badehose ist von der Rückbank nach vorne geflogen. Die beiden Jungs neben mir feixen, Julia, die ein paar Wasserspritzer abbekommen hat, kreischt vor Vergnügen auf. Laut tönt Musik von Peter Fox aus dem Radio. Mit dem linken Arm hält Robert das Lenkrad fest. Nur kurz dreht er sich um und zielt mit der Badehose auf Luis. Es ist genau der Moment, in dem eine schwarze Wand um die Ecke kommt. Als Robert wieder nach vorn schaut, ist es zu spät. Ein Schleudern wie auf der Achterbahn, dann ein Krachen, als ob mein Schädel platzt. Das Herz steht still. Doch schlimmer als der Knall, das Krachen, ist das völlige Fehlen von Geräuschen danach. Wie in einem Sarg zehn Meter unter der Erde. Totenstille.

Ich heiße Selma Thierer, bin achtzehn Jahre alt und habe gerade mein Abitur gemacht.

Wenn der Sommer kommt, tanzen die Träume

Подняться наверх