Читать книгу Wenn der Sommer kommt, tanzen die Träume - Felix Leibrock - Страница 8
KAPITEL 4
ОглавлениеMeine Eltern sind beide gekommen. Zwei Wochen nach dem Unfall ist mein Klinikaufenthalt zu Ende. Ich darf nach Hause. Wir fahren mit dem Auto. Ich zittere vor Angst. Die Erinnerung an meine letzte Autofahrt (von der Fahrt mit dem Krankenwagen, an die ich mich nicht erinnere, abgesehen), die Unfallfahrt. Aber es geht nicht anders. Mit den öffentlichen Verkehrsmitteln wäre es noch schwieriger.
Die ersten Tage und Wochen zu Hause sind schlimm. Meine Mutter bemüht sich, es mir schön zu machen. Sie kocht fast jeden Tag ein anderes meiner Lieblingsessen, kauft tausend Teesorten oder Igelbälle für die Handmassage. Aber ich nehme das gar nicht richtig wahr, meine Seele ist eine düstere Zelle ohne ein Fenster zur Außenwelt.
»Wir haben eine Blindenlehrerin gefunden, eine Trainerin. Die würde dir erst mal privat einigen Unterricht geben. Mobilitätstraining und so.«
Ich hebe den Kopf in die Richtung, aus der ich die Stimme meines Vaters gehört habe. Wir sind im Wohnzimmer, ich sitze im Sessel der Ledergarnitur, die in einem ganz tiefen Blau gehalten ist. Oder ist sie doch schwarz? Ich erinnere mich nicht mehr. Sofort spüre ich einen Stich im Herzen. Nie wieder werde ich selbst überprüfen können, welche Farbe das Sofa hat. Auch weiß ich nicht, wie der Garten hinter unserem Haus mittlerweile aussieht. Sind schon Blätter gefallen? Jagen die Eichhörnchen noch durch die Bäume? Und in meinem Zimmer, liegen da noch die ganzen Abi-Unterlagen rum? Wie soll ich, wenn ich ein Buch oder einen Zettel in der Hand halte, herausfinden, was da draufsteht? Mir tut sich ein Ozean voller Fragen auf, und die Antworten liegen tausend Kilometer tief auf dem Meeresgrund.
»Ich brauch keine Lehrerin«, sage ich trotzig. »Ich habe monatelang fürs Abi gebüffelt. Das muss reichen.«
Mir ist klar: Diese Aussage ist nicht logisch. Kein Ausbund an Intelligenz. Aber ich will einfach nicht logisch sein. Logisch ist auch nicht, dass mich eine schwarze Wand und eine alte Ulme zerstören.
»Selma, die Lehrerin wird dir die Blindenschrift beibringen. Auch wie du am Computer arbeiten kannst. Außerdem lernst du, mit einem Blindenstock zu gehen. Das macht dich unabhängiger«, sagt mein Vater mit einem fast flehenden Unterton.
Ich atme schwer. Will da jemand sagen, ist doch alles halb so wild?
»Ich werde nie wieder unabhängig sein. Immer abhängig von der Hilfe anderer. Da kannst du dich nicht hineinversetzen. Niemand!«
Nicht zum ersten Mal unternimmt mein Vater den Versuch, mein Denken nach vorne auszurichten. Er nervt mich damit. Ich kann nicht gedanklich nach vorne schauen, wenn in meinem Kopf nur Bilder von Ulmen und zerquetschten Autotüren auftauchen. Ich kann keine Ratschläge hören, wenn in meinem Kopf das Geräusch einer Metallschere dröhnt, die eine Karosserie aufschneidet. Ich kann nicht an eine Zukunft denken, wenn meine Träume von vor wenigen Wochen in ein Land namens Absurdistan ausgewandert sind.
»Du kannst der Lehrerin absagen. Ich will das nicht.«
Mein Vater sitzt irgendwo auf dem Sofa. Ich höre, wie er sich erhebt, im Wohnzimmer umherläuft.
»Aber wie stellst du dir denn deine Zukunft vor?«, fragt er schließlich, und ich glaube, eine leichte Ungeduld in seiner Stimme zu hören. »Willst du dich für immer hier im Haus und in deinem Zimmer verkriechen?«
»Ach, geh ich euch auf den Keks? Wollt ihr mich hier weghaben? Weil ja der Plan war, dass ich irgendwo studiere und ihr das Haus dann sanieren könnt?«
Meine Stimme hat wieder dieses Schrille. Als ob der Unfall auch ein paar Stimmbänder zerkratzt hätte. Ich mag mich so nicht hören, muss mich aber auch wehren. In mir kocht es, brodelt es seit dem Unfall, manchmal explodiere ich. Neben dem Bild vom Schnellkochtopf ist mir ein anderes für meine Wutausbrüche eingefallen: das vom Old Faithful, dem regelmäßig aktiven Geysir im Yellowstone Nationalpark. Den habe ich mir vor wenigen Wochen noch angeschaut. Die USA-Reise, direkt nach der Abi-Feier. Das Geschenk meiner Eltern zum Schulabschluss. Fast bin ich erleichtert, dass der Unfall erst danach stattfand. Sonst hätte ich auch das nicht erlebt.
»Selma, wie kommst du denn auf so was? Wir wollen dich doch nicht weghaben.« Meine Mutter ist auch irgendwo im Raum und wirkt konsterniert.
»Weil ich nur noch eine Last für euch bin. Ihr müsst euch um mich kümmern, sucht mir eine Blindenlehrerin aus und lauter solche Sachen. Ich will aber nicht mehr von euch abhängig sein. Ich will meine Freiheit! Das ist doch mit achtzehn Jahren ein ganz normaler Wunsch! Könnt ihr oder wollt ihr das nicht begreifen?«
Mein Old Faithful spuckt wieder heiße Gischt aus. Ich erhebe mich und taste mich zur Wendeltreppe, die in den ersten Stock und zu meinem Zimmer führt. An der Treppe stoße ich mir das Schienbein und schreie vor Schmerz auf. Ich setze mich auf die Treppe und habe meine Gefühle nicht mehr im Griff.
An meiner Wange spüre ich eine warme Hand, jemand setzt sich neben mich und nimmt mich in den Arm.
»Weinen ist gut, Selma.« Mehr sagt meine Mutter nicht. Minutenlange Stille, in denen ich nur mein eigenes Schluchzen höre.
»Warum hat es ausgerechnet mich getroffen?«, sage ich schließlich. »Sag mir, Mama, was habe ich getan, dass von fünf Leuten im Auto das Schicksal oder Gott oder wer auch immer gerade mich aussucht und sagt: Die mache ich jetzt zur Blinden! Warum ich? Kannst du mir darauf eine Antwort geben?«
Die Handflächen meiner Mutter sind jetzt etwas feucht. Sie atmet tief ein.
»Nein, das weiß ich nicht«, sagt sie nur.
»Womit habe ich mir diese Strafe verdient? War ich böse? Habe ich etwas getan, was mich von den anderen unterscheidet? Dann könnte ich es mir erklären. Aber weißt du, was das Problem ist?«
Ich drehe mich zu meiner Mutter hin. Sie antwortet nicht.
»Das Problem ist, dass mir nichts einfällt, womit ich diese Strafe verdient habe. Ich habe mich nicht angeschnallt, okay. Aber das haben Daniel und Luis auch nicht getan. Andere müssen dafür dreißig Euro Bußgeld bezahlen, ich bezahle mit dem Augenlicht. Was fällt mir sonst noch an Vergehen ein, für die ich bestraft werde? Klar, ich bin kein Engel. Ich habe in der neunten Klasse auf dem Mädchenklo geraucht. Ich habe außerdem Denise ein bisschen gemobbt, wie fast alle anderen. Denise, die Streberin mit der fetten Brille, auf deren Noten wir alle neidisch waren. Denise, die leicht gelispelt hat, was wir so gnadenlos imitiert haben. Aber als das zu viel wurde, habe ich mich an ihre Seite gestellt und den anderen gesagt, sie sollten damit aufhören. Und wir sind sogar fast so was wie Freundinnen geworden. Damit habe ich das doch wiedergutgemacht, oder?«
»Ja, mein Schatz, davon hast du mir schon mal erzählt.«
Natürlich kennt meine Mutter diese Geschichte. Wo ist eigentlich mein Vater? Ist er gegangen? Oder sitzt er noch auf der Couch? Wieder durchzuckt mich ein Schmerz, weil ich mir so eine einfache Frage jetzt nicht beantworten kann. Ich weine heftig.
»Vielleicht müsst ihr mir Zeit lassen«, bringe ich schließlich hervor. Und bereue den Satz sogleich. Er klingt nach einer baldigen Kapitulation.
»Komm, Selma, ich lass dir jetzt ein Bad ein. Ich habe eine tolle Duftrichtung entdeckt. Walnuss-Lavendel. Mit ganz viel Schaum.«
Niemals werde ich diesen Blindenunterricht besuchen, die Brailleschrift lernen. Denn dann denken die anderen: Na, jetzt hat sie ihren Weg gefunden. Alles normal, alles gut! Blind sein. Ihr habt ja keine Ahnung, was das bedeutet!