Читать книгу Du bist es vielleicht - Felix Scharlau - Страница 10

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»Hi, Sherlock!«

Sherlock saß in ihrem verglasten, von innen mit zahlreichen Plakaten behängten Hausmeister-Kabuff, als Timo Tripke den Riesenhuber betrat. Zu sehen war nur, dass sie in einen Laptop tippte. Sherlock trug wieder ihren dunkelblauen Overall mit den großen Taschen, aus dem sie ihr Werkzeug zog wie der Zauberer seine Kaninchen.

»Der Herr Tripke!«, krächzte sie, ohne aufzublicken. Es war die belegte Stimme einer Frau, die seit langem nicht mehr geredet hatte. Tripke war stehengeblieben und beugte sich zum kleinen Bedienspalt hinunter.

»Danke der Nachfrage, Sherlock! Mein Wochenende war, es war, na, ganz okay. Und Ihres?«

Hypnotisch klackerten die Tasten weiter. Zeichenreihe um Zeichenreihe schob sich nach oben, über das Bildschirmende hinaus und ins Nichts. Dann war Sherlock fertig. Oder zumindest genervt genug, um eine Pause einzulegen. Sie klappte den Rechner zu und drehte sich gleichgültig zu Tripke um. Dabei nahm sie auch endlich die obligatorischen Ohrstöpsel ab, die sie trug, um bei ihrer Arbeit nicht angesprochen zu werden. Tripke wusste, dass Sherlock sich den Stecker meist nur lose in die Hosentasche schob, ohne die Kopfhörer irgendwo anzuklinken. So bekam sie ihre Ruhe.

»Wochenende? Eben dachte ich noch, wir hätten Sonntag.«

Timo Tripke lachte. Sherlock nicht.

»Was machen Sie da eigentlich die ganze Zeit am Rechner?«

»Es ist keine Lüge, wenn man die Wahrheit für sich behält.«

»Wittgenstein?«

»Mr. Spock.«

Sherlock öffnete das Notebook wieder und machte weiter sein Ding. Was sein, vielmehr ihr Ding exakt war, wusste niemand so genau. Vordergründig war Heike Stiefmutter, Rufname Sherlock, Hausmeisterin am Riesenhuber. Ihre Alltagsmission war klar. In der Turnhalle wischte Sherlock Blut oder Kotze weg. Sie wechselte kaputte Neonröhren. Erneuerte zerstörte Türen. Aus ihrem Kabuff, der Baker Street, verkaufte sie, genau: Backwaren. Und sie entfernte Schadsoftware von all den Lehrer-PCs, auf denen wieder jemand die falschen Pornoseiten besucht hatte, nachdem die Kollegen gegangen waren.

Was sie sonst in ihrer Kammer und dort vornehmlich am Computer tat, blieb rätselhaft. Sherlock schien immer hier zu sein. Doch weder Schüler noch Lehrer noch Putzhilfen noch Köche wussten, was in ihr vorging.

Heike Stiefmutters Geist war eine emotionslose, sauber getaktete Maschine. Hinter ihrer menschenfeindlichen Art hatte sich ein kleines Genie verbarrikadiert. Keines, dem man sich im Alltag nähern konnte. Smalltalk, Etikette, Grußformeln prallten am Schalter der Baker Street ab.

Dass Sherlock am Riesenhuber, nur am Riesenhuber, arbeitete, unterstrich, wie konsequent sie den üblichen sozialen Umgangsformen Stöcke in die Speichen warf. Jemand wie sie machte keine Karriere. Zumindest nicht offline.

Als Timo Tripke am Riesenhuber angefangen hatte, musste jedoch etwas unplanmäßig verlaufen sein in Sherlocks Regelwerk, das vorgab, wie jeder an ihr zu zerschellen hatte. Tripkes Verhältnis zu ihr war von Anfang an besser gewesen als das aller anderen. Ihn hatte sie gegrüßt, wenn auch nicht immer. Mit ihm redete sie, wenn auch nur manchmal.

Als ihm seine exklusive Verbindung zu Sherlock bewusst geworden war, hatte er sich geschmeichelt gefühlt. So wie jeder, der glaubte, Menschen für sich einnehmen zu können.

Die Wahrheit über ihr Verhältnis war jedoch eine andere. Irgendwann hatte es Timo Tripke gedämmert, dass sie vermutlich schon lange vor ihm begriffen hatte, wie ähnlich sie sich waren.

Der kleine Timo war einmal ein hübsches Kind gewesen. Noch immer hatte er professionelle Fotografien aus der Zeit, die das bestätigten. Doch irgendwann hatte er begonnen, sich zu verformen. Er musste ungefähr dreizehn Jahre alt gewesen sein, als er es das erste Mal bemerkte. Während Timo nachts schlief, schien jemand sein Gesicht neu zu modellieren. Seine Physiognomie verzerrte sich. Jeder morgendliche Blick in den Spiegel zeigte, dass sich im Vergleich zum Vorabend eine Kleinigkeit zum Schlechteren verändert hatte.

Als Kind hatte Timos Gesicht rundlich und völlig normal ausgehen. Als junger Erwachsener glich sein Kopf von vorne gesehen einer Acht. Sein Schädel war über die Jahre länger und länger geworden, die Backen dabei breit geblieben. An den Schläfen dellte sich sein Kopf nun nach innen, was den Blick seiner hellblauen Augen stechender werden ließ, als er ohnehin schon war. Die Stirn war lang wie eine Litfaßsäule. Das ohnehin dünne Haar zog sich weiter zurück. Schon mit 21 wirkte er wie ein junggebliebener 35-Jähriger, dessen Gesicht aus dem Lot geraten war. Der süße, telegene Junge von einst war Geschichte geworden. Fast Legende.

Pubertät. Niemals ging sie so ganz. Und wenn doch, dachte Tripke, dann war man nicht richtig dabei gewesen.

Er ahnte, Sherlock erlebte es für sich wohl ähnlich. Kniff man die Augen zusammen, hatte sie ein reizendes Gesicht. Niedliche, etwas zu große Ohren, eine unzeitgemäße Pony-Kurzhaarfrisur und einen rosigen Teint. Doch darauf konnten die wenigsten achten. Akne-Narben zogen sich, von den Nasenflügeln angefangen, über die Wangen bis zum Hals. Die Hautkrankheit hatte dem hübschen Mädchen die einsame Frau weisgesagt. Ihr Blick verriet, dass ihr Selbstbewusstsein unter der Erfahrung unwiederbringlich gelitten hatte.

Sherlock und Tripke waren Versehrte, die die Pubertät überlebt hatten. Deren Körper die Vergangenheit aber so plastisch nacherzählten wie mittelalterliche Wandteppiche.

Stiefmutters Spitzname Sherlock war vor diesem Hintergrund weniger ehrfurchtsvoll gemeint, als es erscheinen mochte. Er unterstrich die offensichtliche Entsexualisierung, statt das Genialische an ihr zu feiern.

Sherlock und Tripke waren zwei von derselben Sorte. Sie ahnten es instinktiv. Mögliche Allianzen schienen jedoch sinnlos. Das aber würde sich bald ändern.

Du bist es vielleicht

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