Читать книгу Du bist es vielleicht - Felix Scharlau - Страница 12

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Der kleine Timo stand schwankend auf einem Bein. Das andere hielt er fest umklammert in Hüfthöhe. Blut tropfte wie beiläufig von seinem Fußballen auf die Holzbohlen.

»Was is?«, kam es besorgt von hinten.

Ben stand jetzt dicht bei ihm. Er war außer Atem, er schwitzte, wirkte zwar resteuphorisch, nun aber auch höchst besorgt. Wie alle kleinen Kinder, die noch nicht zwischen Schürfwunde und Genickbruch unterscheiden können.

»Nicht schlimm, Ben, keine Angst. Aber ich brauch’n Pflaster oder so. Hol mal Opa.«

»Opa, Opa!«

Ben sprintete zurück zum Heck, um das sie eben minutenlang gejagt waren. Unzählige Runden hatten sie kreischend auf Deck gedreht. Die Backbord-Reling entlang, vorne die zwei Stufen beim Anker hoch und auf der anderen Seite wieder zwei Stufen runter. An der Steuerbordseite des Hausbootes zurück und hinten beim Ruderhaus haarscharf an Opa und seinem Farbeimer vorbei. Eine Hatz wie in einem Tom-&-Jerry-Cartoon. Nur dass der Farbeimer noch nicht umgekippt war.

Timo hatte beim Rennen darauf geachtet, Ben immer den perfekten Vorsprung zu lassen. Der Abstand musste groß genug bleiben, dass Ben sich für schneller halten konnte. Gleichzeitig musste sein kleiner Bruder im unablässigen Zustand der Hysterie gehalten werden. Nie durfte er das Gefühl bekommen, Timo würde ihn absichtlich gewinnen lassen. Obwohl es der Fall war. Für Timo bedeutete das Spiel ziemlich viel Arbeit. Aber er konnte sich nichts Schöneres vorstellen.

Außer, endlich etwas gegen die verdammte Blutung zu bekommen.

Ben erschien mit Walter Tripke an der Hand, der den Erste-Hilfe-Koffer in die verbliebene Achselhöhle geklemmt hatte. Leichter wäre gewesen, Opa Tripke hätte Bens Hand losgelassen und den Koffer am Handgriff gehalten. Aber so war er eben, fürsorglich. Und darauf bedacht, die für jeden offensichtliche körperliche Einschränkung als völlig problemlos darzustellen, sie mitunter gar als Vorteil anzupreisen.

Vor kurzem erst war Timo Ohrenzeuge eines längeren Plädoyers geworden, wonach der Mensch laut Opa Tripke »im Prinzip« gar keine zwei Arme bräuchte. Doppelglieder? Dabei handelte es sich, so Walter Tripke, ganz klar um einen »Arawismus«. Falls Timo das Wort richtig verstanden hatte. Ein Bein weniger, okay, das war in manchen Lebenssituationen wirklich ärgerlich, dozierte Tripke senior. Aber nur ein Arm? Jeder konnte doch sehen, wie gut es ihm ging. Vögel zum Beispiel bräuchten auch keine Arme. Und die Schlangen erst!

Timo hörte zu und stellte sich vor, wie es wäre, mit einem Arm Fahrrad zu fahren, eine Konservendose zu öffnen oder bei einer Schulaufführung neben allen Kindern, die zwei Hände hatten, zu versuchen, mit nur einer zu klatschen.

Er war sehr glücklich über seinen zweiten Arm. Aber er sagte es nicht. Stattdessen tat er auch diesmal so, als habe er die Heldengeschichten über den amerikanischen Entdeckungsreisenden John Wesley Powell nicht schon ein halbes Dutzend Mal gehört.

Wie, Opa hatte Powell, den einarmigen Helden des Wilden Westens, noch nie erwähnt?

Den glorreichen Erforscher und Namensgeber des Grand Canyon?

Das Gründungsmitglied der National Geographic Society?

Der Mann, dessen Namen sowohl Lake Powell als auch Mount Powell in der Antarktis trugen?

Das konnte doch nicht sein.

Als Walter Tripke den Arztkoffer endlich aufgekriegt hatte und den Fuß untersuchte, sah Timo aus nächster Nähe die Schweißperlen auf der Stirn seines Großvaters. Er roch Terpentin, filterlose Zigaretten und Opa.

»Ist nicht schlimm, mit der Pinzette hier ziehe ich dir das eben raus«, beschwichtigte Tripke senior mehr in Richtung Ben, der stocksteif von unten der Untersuchung folgte.

»Hältst du die Fußsohle bitte mal selbst nach oben, Timo? Sonst komm ich da nicht ran. Genau … jetzt noch den Kopf weiter nach links, sonst habe ich keine Sonne … genau … so, das war’s schon. Pflaster drauf und fertig. Blutet gleich nicht mehr.«

»Juhu!«, rief Ben ernsthaft überrascht. Dann rannte er in freudiger Erwartung schon wieder zum Bug.

Timo trat vorsichtig auf und wartete auf den pochenden Schmerz. Doch er spürte nur die Erinnerung daran.

Opas Kofferradio im Führerhaus quäkte das Lied für den Frieden. Timo lauschte. Der Frieden auf der einen Seite, Singvögel auf der anderen. Das Platschen des Wassers, das Gepolter von Ben. Einen Moment drehte er den Kopf zur Sonne und schloss die Augen.

»Dann seh ich die Wolken, die über uns sind, und höre die Schreie der Vögel im Wind«, sang die Radio-Frau übersteuert, und Timo lachte wegen soviel Zufall.

»Was ist?«, schrie Ben von der anderen Seite des Schiffs, Luftlinie ein paar Meter von ihm entfernt.

»Nichts, Ben, nichts.«

Aber da war doch etwas. Ein Knirschen. Eine dunkelblaue Limousine mit einer großen Beule im Kotflügel rollte über den Kiesweg heran. Am Uferrand quietschte sie abrupt. Es hupte hektisch und ein hochgeschossener Mann Anfang 30 stieg aus.

Opa, der seinen Arztkoffer unter Deck in der dafür vorgesehenen Halterung verstaute, streckte Achtern den Kopf wie ein Erdmännchen aus einer Luke. Mit unbewegter Miene sah er den Neuankömmling die Gangway in großen Schritten nehmen.

»Walter? WALTER!«, rief der Große.

»Hier bin ich doch«, kam es von unten.

»Haben die Jungs schon gepackt, alter Mann?«

»Sag ihnen doch erst mal Hallo.«

Ben lief zu seinem Vater und klammerte sich an sein Bein.

»Fahren wir schon?«, befragte er die Wolken.

»Ja, hol deine Sachen.«

Der Riese streichelte Bens Kopf.

»Darf Timo denn mal vorne sitzen?«, wollte Ben wissen.

»Vorne sitzt Team Dettmering. Weißte doch.«

»Wie kannst du nur so was sagen, Udo?«, zischte Walter Tripke, der mittlerweile mit einem Einmachglas in der Hand an Deck erschienen war. »Das ist doch krank.«

»Gutes Stichwort. Wir müssen uns beeilen, die Besuchszeit endet um sechs. Komm Ben, hol deinen Rucksack und du, Timo, du bitte auch. Dann lasse ich dich auf der Rückfahrt auch vorne sitzen, ja?«

Ben und Timo stoben unter Deck.

»Soll ich deiner Tochter was von dir ausrichten, alter Mann?«

»Sag ihr, ich nehme Dienstag nach dem Frühstück wieder den Bus. Hier. Himbeer mochte sie immer gerne. Frisch eingekocht. Und reiß dich zusammen, den Kindern zuliebe.«

»Wie oft denn noch, da dürfen keine Gläser rein.«

»Dann bitte eine Schwester, die Marmelade umzufüllen. Ist ja wohl nicht zu viel verlangt.«

Udo Dettmering erwiderte nichts, machte aber den Eindruck, als sei es definitiv zu viel verlangt. Er zündete eine Zigarette an und schwieg. Als Ben und Timo mit ihren Taschen erschienen, gab Walter Tripke Timo das Marmeladenglas.

»Gib das bitte der Schwester zum Umfüllen und drück deine Mami von mir, ja?«

»Klar, Opa.«

»Und sag ihr, ich komme Dienstag nach dem Frühstück.«

»Okay, Opa. Mach’s gut, Opa. Bis Samstag.«

»Ach, ganz vergessen …«, rief Udo. »Kann sein, dass die beiden Samstagfrüh wieder ein Werbe-Shooting haben.«

»Dann eben Samstagmittag«, rief Opa Tripke und wandte sich wieder Timo zu. »Ich wünsche dir eine schöne Woche, Timo. Viel Spaß in der Schule.«

So wie alle Großeltern hielt Walter Tripke erst Timo, dann Ben viel zu lange im Arm. Vielleicht sogar noch länger, weil er nur einen hatte. Mit dem winkte er auch, als beide Kinder hinter dem Riesen zum Auto liefen.

Ben stieg vorne ein. Timo warf seinen Rucksack auf die Rückbank und Opa auf dem Hausboot einen letzten Blick zu. Der hob nun wieder die Hand und formte in Timos Richtung einen nach oben gereckten Daumen. Timo nickte, stieg seinem Rucksack hinterher und nahm auf den heißen Kunstledersitzen Platz.

»Abfahrt«, presste Udo Dettmering den Tabakrauch aus dem halb geöffneten Fenster. Er drückte den Zigarettenstummel fest in den Aschenbecher der Mittelkonsole, bis seine Fingerknöchel weiß anliefen. Dann fuhr der Zündschlüssel endlich ins Schloss.

Die Frau aus dem Radio sang ihr Lied in Timos Kopf weiter. Morgen, nach der Schule würde er bei Funk Müller fragen, was die Schallplatte mit dem Song kostete. Vielleicht reichte sein Geld.

»Wie eine Puppe, die keiner mehr mag, fühl ich mich an manchem Tag.«

Witzig. Er konnte den Text doch tatsächlich schon auswendig.

Du bist es vielleicht

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