Читать книгу Du bist es vielleicht - Felix Scharlau - Страница 13

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Christiane Seiffert, vielleicht auch Christine, Timo Tripke wusste es nicht mehr genau, löste den Verschluss ihres dezent geblümten BHs. Endlich nahm sie ihn ab und warf ihn auf den Plüschsessel neben ihrem Nachttisch. Nur noch mit ihrer Unterhose bekleidet stand sie neben dem Bett.

Timo betrachtete sie schweigend, äußerlich unberührt. In Wahrheit speicherte er hektisch Standbilder ihres Körpers auf seiner internen Festplatte. Vorräte sammeln.

Christiane-Christine verharrte. Mit ihren Gedanken schien sie ganz woanders zu sein. Vielleicht bei der Arbeit. Oder einem kranken Verwandten. Oder ihrer Einsamkeit, falls sie einsam war, Tripke wusste es nicht. Klar war nur, sie hatte auf irgendetwas keine Lust mehr.

Timo Tripke ging es ähnlich. Auch er hatte keine Lust mehr. Es war Freitag. Der fünfte Tag in Folge, dass er Christiane-Christine Seiffert, in der Tiefe von Bernadettes ehemaligem Arbeitszimmer stehend, durch Opas Fernglas beim abendlichen Entkleiden beobachtete.

Bei der Premiere am Montag hatte er dabei noch immense, beinahe jugendliche Lust verspürt. Wer wusste schon, wie viele Chancen er noch bekam, etwas Aufregendes zu empfinden? Mit 43 kippte die Wippe allmählich auf die andere Seite. Unaufhaltsam taumelte man dann nach unten in Richtung Friedhof.

Und doch hatte sich bereits vorgestern, am Mittwoch, das abendliche Warten auf Christiane-Christine in eine leicht ärgerliche sexuelle Sucht ohne große Erfüllung ausgewachsen. Heute lag sogar null echte Erregung mehr in der Luft.

Im Prinzip spannte er Christiane-Christine nur noch ins Schlafzimmer, weil er es konnte.

Das Haus in Holden gehörte ihm. Zeit und Gelegenheit waren seine einzigen Mitbewohner. Aber er musste nicht lange zurückdenken, um sich an weitaus schlechtere Wohnpartner zu erinnern.

An Christiane-Christines erstaunlichen Körper lag es nicht, dass ihm die Show nicht mehr gefiel. Ihre Figur war keineswegs makellos. Aber genau das hatte Tripke jenseits der stumpfen, pulsierenden Lust an Christiane-Christine direkt berührt. Sie schien so wahnsinnig real. So unverstellt schön.

Tripke misstraute Perfektion ganz grundsätzlich. Perfekt, das waren immer nur die anderen. Und was immer nur die anderen hatten, hatte in Wahrheit keiner. Störte sich niemand außer ihm an diesem logischen Widerspruch?

Timo Tripke war froh, sich nie für das Perfektsein interessiert zu haben. Auch, weil ihm das die unmögliche Aufgabe abnahm, sein alles andere als perfektes Äußeres mit den Ansprüchen der Welt synchronisieren zu müssen.

Moment mal, was war los da drüben? Warum ging es nicht weiter? Christiane-Christine kam heute überhaupt nicht auf den Gedanken, sich etwas über die nackte Haut zu ziehen. Steif stand sie vor ihrem Bett, starrte auf den Boden und zeigte Timo bewegungslos ihre leicht unterschiedlich großen Brüste. Timo Tripke speicherte und speicherte, bis er Kopfschmerzen bekam.

Wusste sie vielleicht die ganze Zeit, dass er da war, und fand es, er kramte tief in sich drin nach dem Wort, womöglich »geil«, beobachtet zu werden? Bei dem Gedanken spürte Tripke kurz etwas im Schritt. Dann war es aber auch schon wieder weg.

Natürlich wusste sie nichts von ihm. Alles nur Zufall. Und wenn sie ihn gesehen hätte, würde der Anblick des verformten Stelzbocks von nebenan, der neuerdings sehr viel in seinem ungenutzten Garten rauchte, in ihrem Kopf wohl eher die 110 heraufbeschwören. Keine holzschnittartigen Sex-Stellungen, wie man sie aus Erwachsenenfilmen kannte.

Timo Tripke schämte sich endgültig im Angesicht solcher aufgegeilten Hirngespinste. Das war nicht er. Das hier war einfach nicht er selbst.

Er stellte das Fernglas in das leergeräumte Bücherregal zurück. Dann zog er die Jogginghose über sein schlaffes Glied und verließ den Raum. In seinem eigenen Arbeitszimmer angekommen überlegte er, ob er eine seiner alten Schulkassetten anhören sollte. Einfach so. Sich von einem zehn Jahre jüngeren Selbst die Welt erklären lassen. War er dafür heute in Holden geblieben, anstatt direkt nach der Schule am Heiligenstedter Südkreisel die zweite Abfahrt zum Hausboot zu nehmen? Nur, um sich selbst beim Reden zuzuhören?

Warum eigentlich nicht? Es gab noch eine Menge Wochenenden, an denen er etwas anderes tun konnte. Ein gutes mehr, ein gutes weniger – egal. Bernadette war weg. Die Tanzabende, Theater- und Restaurantbesuche, die er nicht mit ihr hatte erleben wollen, hatten ihr offenbar nicht gereicht. Über Freunde, selbst Bekannte verfügte er praktisch nicht mehr. Seine ehemaligen Lehramtskommilitonen lebten Leben, die nicht mehr nach ihm verlangten. Partner, Kinder, Hunde, Hobbys, Pläne, das war so weit weg wie ein anderes Leben eben weg war. Doch Timo Tripke fühlte sich okay. Vielleicht okayer als jemals zuvor.

Bei gleißender Außenbeleuchtung rauchte er demonstrativ lange auf der Terrasse. Dabei gab er sich betont normal. Christiane-Christines schimmerndes Schlafzimmerfenster in der Ferne sollte wissen, dass hier nichts Ungewöhnliches passierte. Nur ein in sich ruhender, rauchender Mann mit verbogenem Kopf, der sein halbes Leben noch vor sich hatte.

Keine besonderen Vorkommnisse in Akazienweg 9.

Du bist es vielleicht

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