Читать книгу Du bist es vielleicht - Felix Scharlau - Страница 9
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Das Gefühl, das die Menschen überkam, wenn sie den Riesenhuber vor sich aufragen sahen, war traditionsgemäß Unbehagen. Nicht angsterfülltes Unbehagen. Nicht die Art, die sich des Körpers bemächtigte, sobald die transsylvanische Passstraße den Blick auf das Schloss von Vlad dem Pfähler freigab.
Das Riesenhuber-Unbehagen speiste sich aus Verwunderung und ganz viel Mitleid. In diesem Betonklotz mit der Architektur eines Kernreaktors wurden Schüler unterrichtet? Ausgerechnet hier bereiteten sich die künftigen Säulen eines im Morast versinkenden Rentensystems auf ihren Einsatz vor?
Der Gedanke wirkte undenkbar. Und doch musste man ihn denken. Denn er war real.
Das Konrad-Zuse-Gymnasium mit dem Rufnamen Riesenhuber änderte sein Aussehen mit den Jahreszeiten. Wenn im Winter der Nordwind wochenlang um den fünfstöckigen Flachdachbau mit dem Handy-Sendemasten in der Mitte strich, wurde das höchste Gebäude der Umgebung von Tag zu Tag unscheinbarer. Die marode Front mit den rosa Streifen und den grasgrünen Metallfensterläden schimmerte dann nur noch blass. Dazu nebelte der Schornstein den Riesenhuber ein, als wolle er sein vernarbtes Äußeres vor der Welt verbergen. Im Sommer wirkte die Schule hingegen divenhaft extrovertiert. Die Fenster froren dann natürlich nicht mehr von innen an, sondern mussten wegen der Hitze weit aufgerissen werden. Das Gebäude schrie seine Hässlichkeit in die Welt hinaus.
Timo Tripke bog auf den Parkplatz ein und brachte den Wagen weit hinten, an der schmalen Seite des asphaltierten Rechtecks, zum Stehen. Direkt neben dem Fußweg, der zum Haupteingang führte. Die gute Parklücke war ein untrügliches Zeichen dafür, dass er die 20 Kilometer aus Holden heute schneller zurückgelegt hatte als sonst. Er war früh dran.
Tripke fragte sich wieder einmal, warum er und die anderen Lehrer Tag für Tag woanders parkten. Warum keinerlei feste Gewohnheiten aus der täglichen PKW-Rochade herauszulesen waren. Vielleicht ging es den Kolleginnen und Kollegen wie ihm selbst. Bevor der Riesenhuber wieder die modrige Hand nach ihnen ausstreckte, sie mit seinem jahrzehntealten Atem aus Kunststoffteppichböden, abgestandener Heizungsluft und jugendlichem Schweißgeruch einnebelte, strebte jeder für sich nach einem letzten Akt freier Entscheidung. Jedes Mal woanders zu parken verhieß Vibration in einem wattierten Dasein.
Tripke schauderte. So konkret hatte er darüber noch nie nachgedacht.
Auf Platz 12 angekommen, zog er die Handbremse aggressiver an als nötig, stieg aus und knallte die Tür zu. Dann sah er sich um. Mittlerweile war er so lange an der Schule, dass er mit fast jeder Parkbucht eine Geschichte verband.
Auf 9 hatte er bei strömendem Regen unter Mithilfe eines Kollegen vor einigen Monaten den Ersatzreifen aufziehen müssen. Nagelstreich.
Auf 2, direkt hinter der Einfahrt, hatte Frau Sperber vor zwei Jahren ein Weinkrampf ereilt. Ein Neuntklässler lag mit verschränkten Armen hinter ihrem Kleinwagen und verhinderte ihre Heimfahrt PR-wirksam. Anlass: eine vermeintlich ungerechtfertigte Benotung.
Und auf 14, direkt gegenüber, hatte vor ziemlich genau einem Jahr der graue Wagen von Gymnasialprofessor Gerber gestanden.
Gerber war an jenem Dienstag nicht pünktlich zur ersten Stunde erschienen. Als Rektor Steiner der 11a eröffnete, Gerber sei aus unerfindlichen Gründen noch nicht im Haus, sie sollten sich in Stillbeschäftigung üben, erfuhr er von einem Schüler, Gerbers alter Passat stünde sehr wohl unten auf dem Lehrerparkplatz. Er habe den »Prof« eben beim Vorbeiradeln sogar hinter dem Lenkrad sitzen sehen. Möglicherweise beim Telefonieren.
Als eine neugierige Gruppe wenige Minuten später den Parkplatz erreichte, bot sich das Bild, vor dem Rektor Steiner sich immer gefürchtet hatte. Natürlich hing Gerber nicht tot hinterm Steuer. Das hier war Heiligenstedt zur Faschingszeit, nicht Detroit bei Nacht. Doch ein toter Gerber hätte vieles erleichtert.
Gymnasialprofessor Gerber saß auf dem Fahrersitz seines Jahreswagens und schlief. In der rechten Hand hielt er eine leere Flasche Wodka. Einen Teil davon hatte er sich über das Hemd geleert. Den Rest, da musste man nicht lange rätseln, gesoffen. Im Schrittbereich, Steiner konnte seinen Blick kaum abwenden, prangte ein frischer Urinfleck auf der braunen Cordhose.
Kein untalentierter Regisseur hätte das Stück über einen gestrauchelten Beamten-Alkoholiker lächerlicher inszeniert, als Gerber es real aufführte.
Das hier, da war sich Steiner sicher, war das Ende der alten Zeitrechnung. Der Sargnagel für die moralische Integrität des Lehrkörpers. Jetzt galt es, pädagogisch wieder unten anzufangen. Erster Stock.
Und es war natürlich auch das Ende von Gymnasialprofessor Gerber. Er hatte sich endgültig zwischen überhöhten Ansprüchen an sich selbst und mangelndem Selbstbewusstsein zerrieben. Auf dem Fahrersitz lagen nur noch Reste von ihm.
Timo Tripke war die Szene vielfach geschildert worden. Natürlich jedes Mal anders. Trotzdem hatte Tripke den letzten Eindruck, den Gerber am Riesenhuber hinterlassen hatte, so klar vor Augen, als sei er selbst dabei gewesen. Dieser verdammte Parkplatz glich einem Mahnmal.
Auf dem Weg zum Hauptgebäude überlegte er, ob er vielleicht den ganzen Tag Sekunden zählen sollte. Solange, bis er wieder ins Auto steigen durfte. Kurze Zeit schien ihm der Gedanke genial.
»245, 246 … ›Hi, Sherlock!‹… 2112, 2113 … ›War denn überhaupt irgendwas sozialistisch am Nationalsozialismus?‹ … 5121, 5122 … ›Das müsste mal jemand für den Elternabend nächsten Monat auf die Agenda setzen‹ … 13232, 13233 … ›Ach, Hühnchen ist alle?‹ … 17293, 17294 … ›Hausaufgabe bis Dienstag‹ … 22937, 22938 … ›Ihnen auch, tschüss!‹«
Perfekt, das würde gehen.
Aber nicht jetzt.
Morgen. Morgen würde er es mal versuchen. Heute brachte er die Energie dafür noch nicht auf. Es war doch erst Montag.