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»SIE MONSTER!« MEINE SCHULZEIT

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Manchmal geht das Leben komische Wege. Als Kind und Jugendliche hasste ich die Schule. Und ich kritisiere auch heute sehr grundlegend, wie die Schule unsere Kinder (nicht) auf das Leben vorbereitet. Aber inzwischen habe ich verstanden, was wahre Bildung bedeutet und wie wichtig gute Schulen sind.

Eine meiner wichtigsten »Lehrerinnen« für diese späte Erkenntnis ist Yvonne Bezerra de Mello. Diese fantastische Frau (über die die Hamburger Filmemacherin Monika Treut die Filme Kriegerin des Lichts und Zona Norte drehte) betreibt eine Schule in einer Favela von Rio de Janeiro. Ich lernte sie im Rahmen meiner Reportagen für die ARD während der WM 2014 kennen. Das Projeto Uerê ist eine offene Schule für Kinder und Jugendliche zwischen drei und achtzehn Jahren, die in einem Umfeld extremer Armut, Gewalt und Diskriminierung aufwachsen. Fast jedes dieser Kinder leidet unter posttraumatischen Symptomen und daraus resultierenden Lernschwächen. Sie wachsen meist vaterlos auf, ihre Mütter sind in der Regel Analphabeten, konsumieren Drogen und reagieren Aggressionen an ihren Kindern ab. Rivalisierende Drogenkartelle im Armenviertel zwingen die Kinder zu Handlangerdiensten und bedrohen ihre Familien. Die Schule Projeto Uerê liegt mitten in diesem Umfeld von Armut und Gewalt. Die Mitarbeiter unternehmen alles, um die Kinder trotz der widrigen Umstände in die Gesellschaft zu integrieren: Zu den Eckpfeilern des Schulprojekts gehören regelmäßige Schulspeisung, Alphabetisierung, Unterricht in Aufklärung und Familienplanung, Computerkenntnisse, Musik, Tanz, Sport, Vorbereitung auf den Arbeitsmarkt bis hin zur Vermittlung von Stipendien für private Schulen. Die Ausbildung ist individuell auf die jeweiligen Probleme eines Kindes abgestimmt, wie zum Beispiel Sprachfehler, Legasthenie oder auch Aggressivität. Es ist mehr als eine Schule – es ist eine Zufluchtsstätte für traumatisierte Kinder, die hier behutsam wieder an die Lernfähigkeit herangeführt werden. Denn Traumata zerstören das Kurzzeitgedächtnis – viele Kinder können bei ihrer Aufnahme in Yvonnes Schule nicht mal in der richtigen Reihenfolge sagen, was sie am Vortag gegessen haben.

Der Aufsatz eines Jungen traf mich mitten ins Herz. Es ging um Berufswünsche. Er schrieb: »Wenn ich groß bin, möchte ich Tourist werden. Sie sind immer glücklich mit ihren Familien und haben keine Sorgen.« Ich habe drei Tage lang geheult deswegen. Die Perspektive aus den Augen eines Kindes nachzufühlen, war für mich sehr schmerzhaft.

Erreichbar ist die Schule für Fremde am besten auf dem Motorrad eines ortskundigen »Motoboy«, der weiß, welche Ecken gerade lebensgefährlich sind und wo man heil durchkommen kann. Dennoch bleiben nach Schießereien in der Favela immer wieder Lehrer einfach weg – aus Angst um ihr Leben. Yvonne, die eine wahre Energiebombe ist, gab mir übrigens auch Tipps zur Arbeit in Hilfsprojekten, bevor ich das erste Mal zu den Indianern in den Regenwald ging. Ausgerechnet ich, die die Schule nicht mochte, habe heute drei Patenkinder in Yvonnes Schule. Das Privatschulgeld besonders begabter Kinder wird von solchen Paten übernommen.

Auch meine Mutter war daran beteiligt, dass sich mein Blick auf das Thema Bildung und Schule verändert hat. Denn als sie 2010 mit achtundvierzig Jahren nach Brasilien zurückkehrte, war ihre einzige Chance, dort wieder Fuß zu fassen: Bildung. So begann sie, wie erwähnt, ein Pädagogikstudium. Nach dem Studium absolvierte sie ein Praktikum in Yvonnes Schule. Ich bin überzeugt von Yvonnes Lernmethode und wollte, dass meine Mutter sie unbedingt kennenlernt. Aber ich machte mir natürlich Sorgen und betete jeden Tag, dass meine Mutter heil nach Hause kommt. Schließlich war sie täglich in einer der gefährlichsten Favelas Rios, wo sie jederzeit eine verirrte Kugel treffen konnte.

Mein dritter »Weckruf« in Sachen Bildung war schließlich das Indianerdorf. Je häufiger ich dort war, desto mehr verstand ich, welches Glück ich als Kind hatte: Ich durfte zur Schule gehen (bis dahin hätte ich immer gesagt: »Ich musste …«). Wenn man nicht ständig verarscht werden will, geht es um elementare Dinge wie Lesen, Schreiben (zum Beispiel den eigenen Namen) und einfaches Rechnen. Mir wurde klar: Nur wenn die Indianer Bildung erhalten, können sie ihr Leben verbessern und bestimmte Fehler vermeiden. Deshalb engagierte ich mich sehr dafür, dass die begabteste junge Frau aus dem Dorf, Conceicao, zur Schule gehen kann.

Aber nun zu meiner eigenen, wenig ruhmreichen Schulkarriere. Obwohl: Eigentlich fing sie ziemlich gut an. Als ich mit neun Jahren nach Deutschland kam, steckte man mich zuerst zum Deutschlernen in eine »Ausländerklasse«, in der auch viele Kriegsflüchtlinge saßen. Die ersten zwei Monate dort waren hart, dann hatte ich mich dran gewöhnt. Serbokroatisch, Arabisch und Russisch waren die häufigsten Mutter- und Schulhofsprachen. Wahrscheinlich war es ein Vorteil, dass niemand außer mir Portugiesisch sprach – denn so lernte ich zwangsläufig schnell Deutsch. Ich hatte schnell guten Kontakt zu den Mitschülern, wobei meine Neugier mir auch hier zugutekam. In Brasilien kannte ich keine Ausländer, aber auf einmal hatte ich Zugang zu Menschen aus aller Welt und ihren Kulturen. Ich wollte auch immer Dinge und Regeln hinterfragen. Einmal bot ich einer muslimischen Freundin (in Absprache mit ihren Eltern) an, mal von meinem Schinkenbrot zu probieren. So unbedarft und naiv ging ich damals an die Sache ran. Natürlich habe ich heute ein anderes Verständnis und würde einem Vegetarier auch keine Wurst anbieten, es sei denn, er möchte eine. Jeder soll so leben, essen, beten und lieben, wie er es für richtig hält. Ich genieße es bis heute sehr, Kulturen und Bräuche zu entdecken. Für mich ist es egal, ob jemand schwarz oder weiß ist, Jude oder Muslim, schwul oder hetero, westlich oder indigen. Ich mag alle Menschen! Wir Menschen sollten so viel wie möglich voneinander lernen und miteinander teilen.

In der Schule war ich zunächst ganz gut und bekam sogar die Gymnasialempfehlung. Dort stellte ich dann aber bald fest, dass mir doch noch zu viele Vokabeln fehlten, um dem Unterricht zu folgen und den Stoff zu lernen. Ich rutschte immer weiter ab. Das hatte auch damit zu tun, dass meine Pubertät begonnen hatte und parallel zur Schule auch schon meine Karriere. Ich hatte so viel anderes im Kopf und wechselte schließlich mitten im Halbjahr auf eine Gesamtschule, mit dem Ziel Realschulabschluss. Mein Zeugnis war nicht besonders gut und ich kam auf eine turbulente Schule in einem sozialen Brennpunkt Hamburgs. In dieser Schule gab es wenig Respekt für die Lehrer, teilweise wurden sie sogar gemobbt. Auch hier lief es nicht problemlos, weil ich ein Doppelleben führte: Ich dachte viel an mein Tanz- und Gesangstraining, an Tourneen, Bühnenshows und TV-Auftritte, nicht so sehr ans Lernen. Heute schüttele ich selbst den Kopf darüber, dass ich während des Unterrichts an mein Handy ging und manchmal einfach rauslief, um telefonisch Jobanfragen zu beantworten. Ich nahm damals wie heute meinen Job sehr ernst. Die Schule dagegen nicht so.

Irgendwann in dieser Zeit erschien ich in der Bravo Girl unter den letzten zwanzig einer Talentwahl. Meine neuen Mitschüler waren voller Neid. Sie verbrannten die Bravo und schrieben Sachen auf meinen Tisch. Nachdem ich mich ordentlich mit allen gezofft hatte, war alles wieder in Ordnung. In solchen Schulen klärt man die Dinge so. Danach versuchte ich, möglichst wenig Aufmerksamkeit auf mich und mein Leben zu ziehen. Ich trug Latzhosen und andere weite Sachen. Erzählte keinem mehr von meinen Auftritten und Fitnesskursen. Meine Mitschüler waren dafür zu unreif – und ich perfektionierte mein Doppelleben.

Damals hasste ich die Schule, weil die Lehrer nicht verstanden, dass diese Karriereschritte richtig wichtig für mich waren. Und die Lehrer hassten mein Verhalten, weil sie nichts von der Showbranche hielten. Und auch, weil sie oft generell unzufrieden waren. Irgendwann fragte ich meine Klassenlehrerin mal: »Was machen Sie hier? Sie hassen Ihren Job!« Ich habe nie verstanden, wie man in einem Beruf bleiben kann, den man hasst – schon damals nicht.

Während eines Elterngesprächs kurz vor dem Schulabschluss erklärten sie mir und meiner Mutter, dass ich aufgrund von Fehlzeiten von der Schule fliegen würde. Die meisten Fehltage waren zwar aufgrund meiner Arbeit oder meiner Pubertät entschuldigt, aber sie sagten, ich hätte ja klar entschieden, was mir wichtiger sei; und die Schulpflicht sei vorbei. Sie redeten auf meine Mutter ein, es sei fahrlässig von ihr, mich weiter zu einer Karriere in der Showbranche zu ermutigen. Ich hätte dort doch keine Chance und meine Mutter helfe aktiv dabei, meine Zukunft zu vermasseln. Für meine arme Mutter war das eine sehr schwierige Situation. Sie glaubte an mich, sie wusste, mit welcher Leidenschaft ich auf der Bühne stand, wie ernst ich meine Jobs nahm und dass ich als Sechzehnjährige in manchen Monaten bereits mehr verdiente als meine frustrierten Lehrer. Aber sie hatte Respekt vor der Autorität von Lehrern. Und sie hatte Angst, als diese zwei Klassenlehrer so heftig auf sie – die alleinerziehende, ausländische Mutter – einredeten. Irgendwann rastete ich aus: »Was soll das?! Sie wollen mich loswerden, ich will Sie loswerden – und Sie machen mir ein paar Wochen vor dem Abschluss das Leben schwer? Warum hat keiner vorher mit uns gesprochen, anstatt jetzt diese Bombe platzen zu lassen?« Die Angelegenheit ging schließlich bis zur Schulbehörde, wo sich eine Mitarbeiterin erfolgreich für mich einsetzte. Sie argumentierte: »Dieses Mädchen ist eine Künstlerin. Wir haben spezielle Schulen für begabte Mathematiker, für Techniker – aber nicht für Künstler.« Ich durfte dann meinen Realschulabschluss doch noch an dieser Schule machen.

Meine Klassenlehrerin traf ich übrigens Jahre später mal wieder, zufällig. Weil ich im Fernsehen schon bekannt war, säuselte sie plötzlich herum: »Meine Schülerin Fernanda!« Schon ironisch, wie das Leben spielt. Hätte ich damals auf sie und ihre Empfehlungen gehört, hätte ich wahrscheinlich nie Karriere gemacht. Irgendwie habe ich aber auch Mitgefühl für sie. An so einer Schule zu arbeiten, ist bestimmt sehr desillusionierend und erzeugt großen Frust. Dennoch dachte ich bei mir: Du Monster! Mich konntest du nicht brechen – aber wie viele andere Kids und Träume hast du gebrochen?! Es gibt sicher auch einige Schüler, die wie ich ihr Ding gemacht haben, aber ich wäre generell dafür, dass Lehrer begleitend zu ihrem Job einen Psychologen zur Seite gestellt bekommen – es würde den Schülern zugutekommen.

Ich bin der Meinung, dass unser Schulsystem absolut veraltet ist. Die Schüler lernen wenig praktische Dinge wie zum Beispiel: Wie findest du heraus, was dein Traum ist und welchen Beruf du später ausüben möchtest? Worauf kommt es bei einem Unternehmen an? Welche Position würdest du gerne in einem Unternehmen besetzen? Möchtest du angestellt oder selbstständig sein? Wie verwaltet man Vermögen und einen Haushalt?

Es wird viel zu wenig Rücksicht genommen auf individuelle Begabungen und Neigungen. Alle sollen dasselbe auf dieselbe Art lernen. Natürlich braucht es einen gemeinsamen Grundstock, aber danach müsste es sich viel stärker differenzieren, finde ich. Die Potenziale, die Kinder haben, müssen individuell gefördert werden. Das läge im Interesse der Schüler – und der Gesellschaft. Die Schule sollte neben der Familie und dem Umfeld des Kindes menschliche Werte vermitteln. Ich denke, das ist sogar wichtiger als die oben aufgezählten Beispiele.

Wenn die Kinder ihre Gedanken und Gefühle früh verstehen, mit sich im Reinen sind und nicht zu frustrierten Erwachsenen heranwachsen, haben wir eine neue Generation von Menschen, die an sich und ihr Potenzial glaubt und bereit ist, es in die Welt hinauszutragen. Was Kinder außerdem brauchen, sind motivierte und motivierende Lehrer. Mich hat beispielsweise eine Politiklehrerin sehr inspiriert, die selbst politisch (bei den Grünen) engagiert war und sehr gut vermittelte und vorlebte, warum Engagement sich lohnt und wichtig ist. Bei ihr hatte ich prompt eine Eins – weil es mich interessierte und begeisterte, was sie erzählte.

Fun Fact: In Chemie hatte ich auch eine Eins. Genau einmal. Mit einem Referat über … Substanzen. Das war eine echt berauschende Erfahrung.

Es gab aber auch den umgekehrten Effekt, also die Demotivation: Da unser Mathelehrer (Mathe = Hassfach Nummer 1!) zugleich der Musiklehrer war, hatte ich auch vor dem Musikunterricht Horror. Die Töne zitterten aus meiner Blockflöte. Ich konnte meine Angst vor ihm auch dort nicht ablegen.

Auch was mich selbst betrifft, habe ich meine Einstellung zum Lernen inzwischen verändert. Ich will immer noch sehr gern etwas dazulernen und später vielleicht sogar studieren. Medizin oder Psychologie interessieren mich besonders. Um den Schritt vom Entertainment zu anderen, größeren Themen zu gehen, muss ich noch viel lernen. Ich hoffe allerdings sehr, dass es praxisorientierte Formen des Studiums geben wird. Ich bin ganz klar der Typ learning by doing. Theorie zu pauken ist nicht meine Stärke.

Kaxinawa - Meine Reise zurück zu mir

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