Читать книгу Von zänkischen Göttern und tragischen Helden - Филипп Матышак - Страница 7

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1 Einleitung: Was sind
griechische und römische Mythen?

Falls die Mythen der Griechen und Römer nichts weiter wären als eine Geschichtensammlung über magische Verwandlungen und zankende Götter, hätte es wenig Sinn, ein Buch über sie zu lesen – allein schon deshalb, weil es eine Unmenge solcher Mythen gibt, allesamt randvoll mit verwirrenden Namen und Stammbäumen. Wozu brauchen wir Wissen über diese Details und was soll uns daran schon interessieren?

Interessant wird es deshalb, weil die Mythen uns die Weltsicht der antiken Menschen beschreiben und weil die typischen Gestalten in ihnen – Heroen, ins Unglück gestürzte Frauen und mächtige, aber beängstigend selbstherrliche Götter – auch das Selbstverständnis der Griechen und Römer und ihre Beziehung zur Welt geprägt haben. Tatsächlich sind viele dieser Gestalten dermaßen kraftvoll, dass man sie heute immer noch benutzt. Wenn die Psychologen (die ihre Berufsbezeichnung mit Psyche, einer mythischen Prinzessin, gemeinsam haben) von einem Ödipuskomplex oder einem Fall von Narzissmus sprechen, greifen sie auf mythische Gestalten zurück, denn die Mythen, in denen Ödipus und Narkissos auftreten, beschreiben bestimmte Aspekte der menschlichen Existenz so treffend, dass sie nie überboten worden sind.

Und damit kommen wir zu einem weiteren Grund, die Mythen zu lesen: Diese Geschichten haben dreitausend Jahre nicht deshalb überlebt, weil sie „Kulturparadigmen“, „thematische Motifemsequenzen“ oder sonst ein Modewort darstellen, das gerade Konjunktur an den Universitäten hat, sondern weil sie letzten Endes gewaltige und ungeheuer unterhaltsame Erzählungen sind.

Außerdem ist die Welt der Mythologie gar nicht so chaotisch, wie es auf den ersten Blick scheint. Viele Geschichten kreisen jeweils um ein gemeinsames Thema. Helden werden tief gebeugt, empfangen aber zum Ausgleich Geschenke und besondere Kräfte, Jungfrauen erleiden Liebesschmerzen, doch sie werden letzten Endes belohnt. Die finstereren Erzählungen sagen uns, dass die unerbittlichen Fäden unser Geschick bestimmen, welche die Schicksalsgöttinnen weben, zumessen und abschneiden, und dass der ganze Sinn der Übung darin besteht, dieses Geschick tapfer und edelmütig zu ertragen.

Außerdem gibt es noch ein übergreifendes Thema der Mythen, eines nämlich, das uns lehrt, wie – all ihren Konflikten, Streitigkeiten und Missverständnissen zum Trotz – Götter, Halbgötter und Menschen gegen die Ungeheuer und Giganten zusammenhalten, die für die Mächte des Aufruhrs und der willkürlichen Vernichtung stehen. Während es in modernen Geschichten oft um den Sieg des Guten über das Böse geht, handelte es sich beim großen Kampf der Antike um Kultur und Vernunft im Widerstreit mit Barbarei und Chaos. Zuletzt geht es in den Mythen darum, wie humane Werte in ein wahlloses, feindseliges Universum getragen werden. Und deshalb haben – obwohl es in der Welt von heute manchmal vielleicht so scheint, als behielten blinder Hass, willkürliche Zerstörungswut und Irrationalität die Oberhand – die antiken Mythen nichts von ihrem Zauber verloren.

Dieses Buch ist eine Art Reiseführer zum Verständnis des gemeinsamen Erbes an Geschichten und Glauben, das die griechische und die römische Welt verband. Hauptsächlich erreicht werden sollen drei Ziele.

Vermittlung eines Gesamtbildes

In vielerlei Hinsicht gibt es – wenn man den Begriff im allerbreitesten Sinn verwendet – überhaupt nur einen einzigen klassischen Mythos. Dabei handelt es sich um eine Geschichte, die sich über ein Jahrtausend oder noch länger herausgebildet hat und vor 800 v. Chr. mit Volksüberlieferung und -erzählungen aus Griechenland begann, bis sie im 2. Jahrhundert n. Chr. durch römische Schriftsteller den letzten Schliff erhielt. Sie ist die größte Gemeinschaftsproduktion, die je geschrieben wurde, und wird dadurch nur noch respekteinflößender, dass sie die Gemeinschaftsleistung zweier verschiedener Kulturen ist. Das Ergebnis ist eine gewaltige, weit ausholende Geschichte mit zahlreichen Nebenhandlungen und Tausenden von Personen, die aber dennoch eine durchlaufende Haupterzählung, klar herausgearbeitete Hauptrollen sowie Anfang, Mitte und Ende hat.

Ein Ziel dieses Buches ist es deshalb, seinen Lesern einen Überblick über den Mythos als Ganzes zu vermitteln, als eine Geschichte, die jedes griechische und jedes römische Kind kannte.

Verständnis des Kontextes

Doch dieses Buch hat noch einen weiteren Zweck, denn um ein zuverlässiger Wegweiser zu sein, muss es nicht nur die Geschichten selbst erklären, sondern auch, wie die Menschen der Antike sie begriffen. Wir müssen in den Kopf der Griechen und Römer hineinblicken und dadurch ihre Welt und ihre Götter so sehen, wie sie selbst sie sahen. Dazu müssen wir den Standpunkt eines Griechen oder Römers einnehmen, der einen bestimmten Mythos gerade zum ersten Mal hört. Dabei lernen Sie den Hintergrund, die meisten Hauptfiguren und deren Eigenschaften kennen, Sie erfahren, wo eine bestimmte Geschichte in die fortlaufende Gesamterzählung passt und wie sich die Motive der Beteiligten verstehen lassen. Weil diese Mythen zugleich den Ausgangspunkt der großen Tragödien eines Euripides, Sophokles und anderer Dichter bilden, bedeutet das Verstehen des Mythos auch eine vertiefte Würdigung jener Hauptwerke der westlichen Kultur, die diese Bühnenautoren hervorgebracht haben.

Moderne Echos

Schließlich sind diese Mythen so lebendig und so tief im westlichen Bewusstsein verwurzelt, dass sie es nie verlassen haben. Sie haben zahllose Maler, Bildhauer, Komponisten und Schriftsteller angeregt, seit den Tagen der Renaissance mehr denn je, und deshalb werfen in diesem Buch spezielle Einschübe in Kastenform ein Licht auf das nachklassische Weiterleben jedes Mythos. Nicht zuletzt gebrauchen wir in der Gegenwart Ausdrücke und Gegenstände, die mit den antiken Göttern zu tun haben, und bemerken das häufig überhaupt nicht. Das Buch macht zahlreiche Anspielungen auf Mythen bewusst, die uns im heutigen Leben – oft in völlig unerwarteten Zusammenhängen – begegnen; die Hoffnung des Autors geht dahin, dass es auf diese Weise nicht nur zum Verständnis der Leser für die klassische, sondern auch für die moderne Welt beitragen wird.

Die Quellen, aus denen dieser Leitfaden zusammengestellt worden ist, reichen von den Werken Homers und Vergils bis zu den nicht ganz so geläufigen Autoren Hesiod und Ovid; sie schließen dabei Lyriker wie Bakchylides und Pindar, aber auch die Orphischen Hymnen ein. Wo im Quellenmaterial Widersprüche auftreten (besonders zur Frage „wer zeugte wen“), ist meistens diejenige Variante bevorzugt worden, die den Aufbau einer bruchlos fortlaufenden Erzählung begünstigt.

Von zänkischen Göttern und tragischen Helden

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