Читать книгу Am Ende des Ganges - Finn Ritter - Страница 11

4
Neustrelitz 1986

Оглавление

Die Stadt blieb dieselbe und war doch nicht mehr die gleiche. Mit 15 erschienen mir die Häuser und Straßen noch kaputter und trostloser als in den Jahren zuvor, teils wohl, weil sie es tatsächlich waren, teilweise waren sie aber wohl auch einfach nur mein Spiegelbild.

Ich war in der neunten Klasse und Jörg bereits seit über einem Jahr nicht mehr an unserer Schule. Er hatte die Auszeichnung eines Wechsels an die Erweiterte Oberschule erfahren und besuchte dort eine der Spezialklassen mit sprachlichem Schwerpunkt, während mir die Worte mehr und mehr abhanden kamen. Noch immer waren wir die einzigen Bewohner unserer Welt, doch gab es jetzt plötzlich Parallelwelten, und während Jörg mit der meinen recht gut vertraut war - kannte er doch große Teile noch aus eigener Anschauung -, hatte ich in der seinen kaum Orientierung. War dies schon der Anfang vom Ende? Es gab neue Namen, neue Interessen, neue Gesten, aber verglichen mit den meinen erschienen mir die seinen wertvoller und richtiger zu sein.

Ich war nicht richtig. Ich sah falsch aus, ich dachte falsch, ich lachte falsch und ich machte das Falsche. Selbst wenn ich allein war, onanierte ich schamhaft. Alles war überzogen mit einem schmutzigen Tarnnetz und ich sah die Welt allein durch dessen Maschen.

Ich hatte das Wichsen während der Olympischen Sommerspiele 1984 für mich entdeckt, ohne gleich genau zu wissen, was ich da tat. Von da an hatte ich meine Sportart gefunden. Jörg erzählte ich nichts davon und von den sportlichen Höchstleistungen, die ich hier vollbrachte. Aber ich erzählte ihm von meinen Sehnsüchten und Verliebtheiten gegenüber verschiedenen Mädchen aus meiner Klasse. Nach Anke Tetzlaff, Manuela Kleinschmidt und Mona Reichelt war ich mittlerweile bei Julia Dröhmer angekommen, und wenn die Namen auch wechselten, war die Situation doch stets dieselbe. In anderen Worten: Es gab keine Situation. Ich gestand meine Gefühle nur Jörg und der reagierte stets mit viel Verständnis, ein Entgegenkommen, das ich mir bei Anke, Mona und Julia nicht erwarte und deshalb mit Offenbarungen lieber hinter dem Berg hielt. Nur Manuela eröffnete ich einmal mein Inneres, spontan und ohne auf eine der Strategien zurückzugreifen, die Jörg und ich in großer Zahl für solche Fälle entwickelt hatten. Es war auf der Klassenreise der achten Klasse und ich höre das Lachen aus den Mädchenzimmern noch heute.

Da es Jörg, ohne äußeren ersichtlichen Grund, in seinen Erwartungen ähnlich ging (nur hatte er den Praxistest scheinbar bisher gänzlich vermieden), gab es hier eine Idylle, die sich aus der Abwesenheit der Mädchen ergab, nur mit dieser Abwesenheit funktionierte, uns Schutz vor den erwarteten Härten der Annäherung bot und den so ungewollten wie zugleich gewollten Zustand der Abwesenheit einer Freundin über Jahre festschrieb. Hätten wir doch nur die sein können, die wir waren …

Am Ende des Ganges

Подняться наверх