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Neustrelitz

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Neustrelitz brachte Jörg; und wenn mir auch vieles fehlte nach diesem ungeliebten Umzug, wegen dem ich jetzt mit bald sechs Jahren in der Heimatstadt meiner Mutter wohnen musste – Svennie, der Strand, Frau Hauers Spielzeugladen, der Trockenkeller – so war dieser neue Freund doch viel; sicher viel mehr, als ich damals wusste, und schnell war er mir ein neues Zuhause.

In der Stadt zuhause war ich nie. Wenn ich heute nach Neustrelitz komme, was kaum mehr vorkommt, habe ich es immer mit mindestens vier Städten zu tun: Mit dem Neustrelitz meiner Kindheit, dem meiner Pubertät, dem Neustrelitz der jeweiligen Gegenwart und mit der Stadt, die ich aus den ihre Kindheit betreffenden Erzählungen meiner Mutter kenne. Schon eine davon ist mehr als genug.

Ist der neue Marktplatz nicht schön geworden?“„ Du meinst dieses Bollwerk aus Betonblumenkübeln?“ – „Hast du gesehen, dass sie auch eure Schule neu gestaltet haben?“ „Nein, ich bin anders gelaufen.“ – „Und die neue Unterführung?“ „Welche Unterführung?“

Einzig Jörg leuchtet und leuchtete aus diesem verzweifelten Grau heraus.

„Das ist Jörg!“ So, sagt meine Mutter, habe ich ihn vorgestellt, als ich ihn zum ersten Mal mit nach Hause brachte, nach oben, in den vierten Stock unseres neuen Wohnhauses, das nur einen Steinwurf entfernt vom Haus ihrer Kindheit lag. („Nur wegen dir sind wir nach Neustrelitz gezogen, Tom, allein wegen dir“.) Jörg und ich hatten uns an eben diesem Tag kennengelernt, ich war neu auf dem Spielplatz, ein Wort gab das andere, er war kaum größer, aber ein Jahr stärker, bald lag er auf mir und kurz danach standen wir dicht beieinander vor unserer Wohnungseingangstür. Für die nächsten zehn Jahre sollte sich das nicht mehr ändern.

Ich wäre gern mit ihm in eine Klasse gegangen, aber für seine war ich zu spät dran, und er wollte nicht sitzen bleiben. Wäre es besser gewesen mit ihm? Bestimmt wäre es das. Ich hatte Freundschaften geschlossen mit Svennie, mit Jörg, aber ich wusste nicht, wie man Freundschaften schließt. Schon im Kindergarten war es so gewesen, es gab die anderen und es gab mich in der Bauecke, und auch in der Schule sollte sich daran nur unwesentlich etwas ändern. Ich saß noch immer allein, vormittags auf meinem Platz in der ersten Reihe unseres Klassenraumes, der für mich und meine überstarke Brille reserviert war, und nachmittags vor dem Fernseher, ein Archiv von Kinder- und Vorabendserien der späten siebziger und frühen achtziger Jahre ist noch immer in meinem Kopf. Irgendwann nach den ersten Schulwochen stellte ich fest, dass alle Freundschaften in der Klasse geschlossen hatten, nur ich nicht. Ich musste ein Signal verpasst oder an einer geheimen Verabredung nicht teilgenommen haben, alle hatten jemanden, nur ich hatte niemanden und drehte verlegen auf dem Schulhof während der viel zu langen großen Pausen meine Runden. Aber ich hatte Jörg – und Jörg hatte mich.

Ich weiß nicht mehr, warum ich nicht auch in der Schule seine Nähe suchte. Vielleicht habe ich es getan und wurde enttäuscht (was ich noch wüsste), vielleicht habe ich ihn dort aber auch gemieden, weil es mich genierte, niemanden außer ihm zu haben. So wie es mich vor ihm und allen anderen genierte, von älteren Schülern gehänselt zu werden, wegen meiner Brille, wegen meiner vollen Wangen, wegen was weiß ich. Und was für ein Glück, einmal in Ruhe gelassen zu werden. Und was für ein noch größeres Glück, einmal in Ruhe gelassen worden zu sein, weil jemand anderes geopfert wurde.

Kerstin? Hieß so das Mädchen aus der Parallelklasse, das über Jahre hinweg immer wieder von ihren Mitschülern und Schülern anderer Klassen drangsaliert wurde? Ich weiß nicht mehr, ob ich in der fünften oder sechsten Klasse war, aber ich kann mich an den Wintertag erinnern, an dem es nach Tagen endlich wieder angefangen hatte zu schneien; der erste Schnee des neuen Jahres, rein und weiß tanzten seine Flocken durch die Luft. Auf dem Boden lag noch der des alten und dort – vor dem Schulgebäude, denn die Schule hatten wir für den Tag bereits hinter uns – lag auch Kerstin. Auf ihr saßen drei oder vier andere, Jungen und Mädchen, hatten Kerstin die Jacke aufgerissen und stopften Schnee und Eisstücke unter ihren Pullover, in ihre Hose, in ihren Mund und in ihre Haare. Ihre Schultasche lag offen, Hefte und Bücher waren herausgezerrt und durchnässt oder schon vom Schnee, der vorher in ihre Tasche gestopft worden war, aufgeweicht. Um die Gruppe herum stand ein erster Kreis von Anfeuerern und dahinter ein – stiller lachender – zweiter, auch ich. Kerstin wehrte sich nach Kräften und ich frage mich noch heute, woher sie nach all den Jahren noch die Kraft und die Hoffnung nahm, die man braucht, wenn man sich zur Wehr setzen will. Plötzlich aber waren von einem Augenblick auf den anderen keine Hoffnung und keine Kraft mehr da, so abrupt, dass fast alle plötzlich inne hielten und fast nur noch Kerstins Weinen zu hören war, anders, verzweifelter und endgültiger als bis dahin. Sie war zusammengesunken und fragte sich und uns immer wieder: Warum denn immer ich? Warum denn immer ich? Warum denn immer nur ich? Ich weiß nicht, wie oft ich in den vergangenen Jahren an diese Szene habe denken müssen. Jedes Mal muss ich dabei mit Scham und Tränen kämpfen und jedes Mal erscheinen sie mir angemessen und gerecht. Hörst du mich, Kerstin? Es tut mir leid, hörst du? Ich wünschte, ich könnte ungeschehen machen, was damals passiert ist, ich wünschte, ich hätte eingegriffen und mich nicht lustvoll darüber gefreut, dass du statt meiner so im Schnee liegen musst.

Hab’ ich dir je davon erzählt, wie wir an jenem Wintertag Kerstin gequält haben? Und davon, welche Angst ich hatte vor meiner Lust an ihrem Leid? War all das irgendwann Thema während unserer Sonntagnachmittage, an denen wir im Wohnzimmer deiner Eltern Kuchen essend und Fernsehen guckend beieinandersaßen und es uns gut gehen ließen und uns gemeinsam in unsere schöne Zukunft träumten? Und weißt du von meinen Sonntagen ohne dich?

Am Ende des Ganges

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