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Korrektur

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Ajay bringt mir das sechste Bier, es könnte auch das siebente sein, so genau weiß ich es nicht mehr. Vor ein paar Stunden habe ich angefangen, die Schnäpse wegzulassen und den aufkommenden Frohsinn durch Korrekturen zu vertreiben, aber die anfänglich genial erscheinende Idee, Skrupel bei der Kommentierung und Notenfindung der Arbeiten, die ich nun schon zwei Wochen mit mir herumtrage, im Bier zu ertränken, zeigt nun ihre Schattenseite. Soweit ich noch denken kann, denke ich, dass ich zumindest einen Teil der so korrigierten Arbeiten so nicht werde zurückgeben können. Gerade habe ich die Klausur von Judith Eisler in den Händen, die mich immer viel zu sehr an Julia Dröhmer erinnert und deshalb häufig die noch bessere Note erhält. Manchmal jedoch auch die schlechtere. Abgesehen von der Korrektur eines schnell gefundenen Rechtschreibfehlers habe ich bisher erst zwei rote Tintenflecken auf ihrem ansonsten noch jungfräulichen Klausurbogen hinterlassen. Das passt zur gestellten Thematik (der Prager Fenstersturz und seine Ursachen), aber es passt ganz sicher nicht zu der formal-korrekten Haltung, die ich immer vorgebe und einzunehmen versuche. Und natürlich passt es auch nicht zu den Korrekturrichtlinien.

„Sie sollten für heute Schluss machen, Herr Ritter.“

„Womit, Ajay?“

Ajay und ich kennen uns seit sieben Jahren, er hatte nur wenige Monate, bevor ich in den Hamburger Schuldienst trat, im „Maybach“ angefangen. Ich hatte das Caférestaurant noch innerhalb meiner ersten Arbeitswoche als schülerfreie Fluchtburg nahe der Schule entdeckt und verbrachte hier seitdem häufiger Freistunden, mitunter ganze Nachmittage – und manchmal auch Abende. Gleich bei meinem ersten Aufenthalt dort erzählte mir Ajay die Kurzfassung seiner Geschichte. Und dabei blieb es. Ajay kam aus Bhagalpur in Bihar und hatte mit dem Erwerb der dauernden Aufenthaltsgenehmigung in seiner Wahrnehmung nun endlich das Zuhause, das seinem Bedürfnis nach Ordnung und Zuverlässigkeit entsprach.

„Mit dem Bier. Und mit dem Arbeiten.“

„Und stattdessen?“

„Sollten Sie schlafen gehen.“

„Aber ich schlafe doch schon, Ajay, ich schlafe die ganze Zeit. Ich schlafe in der Schule, ich schlafe beim Korrigieren und auch, wenn ich nicht korrigiere. Ich schlafe den großen Schlaf.“

„Sie wissen, was ich meine.“

„Nein, ich weiß nichts, Ajay.“

„Gehen Sie nach Hause, Herr Ritter.“

Nach Hause, wo soll das sein?

„Und du, du bist hier auch nicht zuhause. Sag ich dir, dass du nach Hause gehen sollst?“

„Ich bin hier zuhause.“ Ajay sieht mich missbilligend an.

„Komm schon, Ajay, so hab ich es nicht gemeint, ich bin kein Idiot. Gib mir noch ein Feierabendbier und dann geh ich in die Heia. (Gehsch in ni Heiha.)“

Natürlich war ich schon so betrunken, wie ich es gerade bin, ich war es sogar schon viel mehr, nur hier war ich es in dieser Form noch nie. Ajay schiebt mir mit etwas weniger missbilligendem aber dennoch ernstem Blick das gewünschte nächste Bier zu, längst habe ich den Platz an meinem Tisch und die Klausuren darauf verlassen und bin an den Tresen gewechselt, der das Einzige ist, was im ansonsten modernen und weitläufigen Gastraum noch an die alte Inneneinrichtung der vormaligen Schankwirtschaft erinnert. Ich trinke das Bier in einem Zug, schiebe mit dem Versuch eines verbindlichen Grinsens Ajay das leere Glas zu, stütze mich mit beiden Händen am Tresen ab und kann plötzlich fliegen.

Am Ende des Ganges

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