Читать книгу Zement - Fjodor Gladkow - Страница 4
I. Das verödete Werk Vor dem leeren Nest
ОглавлениеWie vor drei Jahren wogte auch an diesem frühen Morgen Anfang März hinter den Dächern der Mietskasernen und den Arkaden der Fabrik das Meer; in der Sonne glitzernd, lag zwischen den Bergen am Ausgang der Bucht der gleiche leuchtende Glanz in der Luft, rot wie Wein. Die bläulichen Schlote, die Werkgebäude aus Eisenbeton, die Arbeiterhäuschen der „Gemütlichen Kolonie" und die kupferrot leuchtenden Berggrate hatten in der Sonne ihre Konturen eingebüßt und waren durchsichtig wie Eis.
Nichts hatte sich in diesen drei Jahren verändert. Das dunstige Gebirge mit seinen Spalten, Klüften, Steinbrüchen und Felsen war dasselbe wie in der Kindheit. Von weitem schon sah man die altbekannten Abbaustellen an den Bergwänden, sah die Bremsberge zwischen Geröll und Gestrüpp und in engen Schluchten die Brücken und Aufzüge. Auch das Werk unten war dasselbe geblieben — eine ganze Stadt aus Kuppeln, Türmen, Tonnendächern —, und über alledem, am Bergabhang, die „Gemütliche Kolonie" mit ihren verkümmerten Akazien und den fünf Quadratmetern Hof vor jedem Häuschen.
Ging man durch das Loch in der Betonmauer, die Fabrikgelände und Vorstadt voneinander trennte (ehedem war das Loch eine Pforte gewesen), so gelangte man zu Glebs Wohnung in der zweiten Mietskaserne. Gleich wird sie herauskommen, seine Frau Dascha mit dem Töchterchen Njurka; aufschreien wird sie und an seine Brust sinken, erschüttert vor Glück. Sie erwartet ihn nicht, ebenso wenig weiß er, was sie ohne ihn in diesen drei Jahren durchgemacht hat. Es gibt im ganzen Lande weder Weg noch Steg, auf dem nicht Menschenblut geflossen wäre. Ist hier der Tod nur durch die Straße gezogen, ohne die Siedlungen der Arbeiter zu berühren? Oder ist auch Glebs Heim von Feuer und Wirbelsturm zerstört?
Auf dem unbebauten Gelände hinter der Mauer spielten schmutzige Kinder. Dickbäuchige Ziegen mit Schlangenaugen streunten umher und nagten an den Akaziensträuchern, Hähne streckten Gleb aufgeschreckt die roten Köpfe entgegen und schrieen ihn böse an: „Was ist denn das für einer?"
Im Herzen vernahm Gleb das unterirdische Grollen, das immer in den Bergen mit ihren Steinbrücken war, aber auch in den Schloten und in der Arbeitersiedlung.
Von der Höhe sah man die riesigen H-förmigen Betonpfeiler der Seilbahn herabsteigen und zwischen den steinernen Werkgebäuden hindurch wie Triumphbögen zu den Landungsbrücken am Meer hinunterlaufen. Die Drahtseile waren straffgespannt wie Saiten, unter den im Fluge erstarrten Loren zog sich das rostige Gewebe des Sicherheitsnetzes hin. Am Ende der Anlegestelle erhob sich der durchbrochene Turm des elektrischen Hebekrans mit seinen ausgebreiteten Schwingen.
Herrlich! Wieder Maschinen und Arbeit — eine neue, befreite Arbeit, erkämpft in heißen, blutigen Schlachten. Herrlich! Zusammen mit den Kindern lachten und lärmten die Ziegen. Es stank nach Schweinestall — ein fäulnisartiger Salmiakgeruch. Überall wucherte Unkraut, die Gassen waren voller Hühnermist.
Was hatten hier nur all die Ziegen, Schweine und Hühner zu suchen? So etwas hätte die Direktion früher streng verboten!
Von der „Gemütlichen Kolonie" kamen im Gänsemarsch drei Frauen auf Gleb zu, eine alte und zwei junge, die irgendwelche Lumpen auf dem Arm trugen. Die alte, die voranging, sah aus wie eine Hexe. Von den jüngeren war die eine mollig und vollbusig, die andere hatte das Kopftuch tief ins Gesicht gezogen, ihre Augen und Lider waren gerötet.
In der Alten erkannte Gleb die Frau des Schlossers Loschak, in der Vollbusigen die des Schlossers Gromada. Die dritte war ihm fremd.
In freudiger Erregung hob er die Hand an die Mütze. „Guten Morgen, Genossinnen!"
Sie warfen ihm einen argwöhnischen Blick zu und schlugen einen Bogen um ihn. Nur die Gromada fuhr ihn keck an: „Mach, dass du weiterkommst! Wenn man jeden grüßen wollte."
„Was ist los mit euch Weibern? Erkennt ihr mich denn nicht?"
Loschaks Alte blieb stehen und sagte mit ihrer Bassstimme mehr zu sich als zu ihm: „Das ist doch — Gleb! Großer Gott! Kommt aus dem Jenseits." Dann ging sie ruhig weiter, mürrisch wie zuvor. Die Gromada lachte nur auf und sagte nichts. Erst als sie schon die Mauer erreicht hatte, wandte sie sich um und schnatterte los: „Lauf schon, Gleb Iwanowitsch, lauf! Spiel mit deiner Dascha Verstecken. Wenn du sie gefunden hast, könnt ihr noch mal Hochzeit machen."
Gleb starrte den Frauen nach und erkannte die freundlichen Nachbarinnen von einst nicht wieder. Das Leben musste ihnen übel mitgespielt haben!
Da war er, der niedrige Zaun um die fünf Quadratmeter Hof, da war das Aborthäuschen gleich an der Straße! Nur hatten die Jahre und winterlicher Nordost den Zaun verbogen, und eine graue Kruste bedeckte die Bretter.
Gleich wird mit einem Aufschrei Dascha herausstürzen. Wie wird sie ihn empfangen, den aus Feuer und Tod Heimgekehrten? Vielleicht hält sie ihn für gefallen ... Oder sie wartet noch tagtäglich auf ihn — von der Stunde an, da er in jener finsteren Nacht sie und Njurka in dieser Bruchbude allein gelassen hat.
Er warf seine Tasche zu Boden und den Soldatenmantel auf den Zaun, stand da und wischte sich mit dem Ärmel der Feldbluse den Schweiß vom Gesicht.
Und gerade, als er den Fuß auf die Treppe setzen wollte, sprang die Haustür auf.
Eine Frau in rotem Kopftuch, sonnenverbrannt, mit dichten Brauen und in einem Männerhemd, stand im dunklen Viereck des Eingangs und blickte Gleb verdutzt an. Als sie Glebs Lächeln gewahr wurde, spiegelte sich in ihren Augen Bestürzung und Freude.
Das zitternde Kinn, die mädchenhaft schwellenden Wangen, die Stupsnase, der bei gespanntem Schauen schräg geneigte Kopf, die eigensinnigen Brauen — ja, das war Dascha. Alles andere aber (was, das ließ sich nicht gleich bestimmen) war fremd und neu. „Daschalein! Frauchen! Liebe!"
Er stürzte auf sie zu, atemlos vor Erregung.
Aber Dascha blieb auf der obersten Treppenstufe wie gebannt stehen und wehrte Gleb fassungslos ab, als sei er ein Gespenst. Über und über rot, stammelte sie schließlich: „Bist - du - das? Oh, Gleb ... Liebster!"
In ihren Augen aber, in ihrer schwarzen Tiefe, flackerte unbewusste Angst.
Und als Gleb sie umschlang und sich an ihren Lippen festsog, schwanden ihr fast die Sinne. „Na, gesund und munter, Liebes?"
Sie konnte sich nicht von ihm losreißen und stotterte wie ein Kind.
„Oh, Gleb! Bist du's auch wirklich? Ich hatte keine Ahnung. Wo kommst du denn her? Und so ... plötzlich!"
Sie lachte und barg den Kopf an seiner Brust. Er presste sie an sich und fühlte, wie ihr das Herz klopfte und sie am ganzen Leib bebte.
Sie rissen sich voneinander los, starrten sich trunken ins Gesicht, in die Augen, lachten und umschlangen sich wieder ungestüm.
Gleb nahm sie auf den Arm wie ein kleines Mädchen und wollte sie ins Zimmer tragen wie in den ersten Tagen ihrer Ehe. Dascha jedoch entwand sich ihm und begann mit ein wenig spöttischem Lächeln ihr Kleid glatt zu streichen. „Ach, du Hitzkopf! Und ich — wie eine Verrückte ..." Sie fuhr sich mit dem Kamm übers Haar, atmete tief auf und wich vor ihm zurück. Plötzlich fiel ihr etwas ein, und sie rief erschrocken: „Ach herrje, ich komm zu spät! Ich muss ja weg, Gleb!"
Ernsthaft, wenn auch immer noch erregt, sagte sie: „Geh beim Gewerkschaftskomitee vorbei und trag dich wegen der Zuteilung ein. Ich hab's furchtbar eilig. Ach, Gleb ... Es ist nicht zu fassen... du bist ganz verändert... bekannt und fremd zugleich."
„Was ist los, Daschalein!... Ich begreif kein Wort..." Dascha stand bereits an der Pforte und lächelte ihm zu.
„Ich esse in der Stadt, in der Kantine der ,Volksspeisung', das Brot bekomme ich im Parteikomitee! Du musst erst zum Gewerkschaftskomitee und dich anmelden wegen der Brotkarten. Ich bin zwei Tage nicht da — muss dringend aufs Land fahren. Ruh dich inzwischen von der Reise aus. Ich muss weg, das Fuhrwerk wartet schon. Da kann man nichts machen."
„So warte doch, Daschalein! Was soll denn das? Kaum hab ich die Nase hereingesteckt, machst du dich aus dem Staube."
Er stürzte zu ihr und riss sie an sich. Doch mit zärtlichem Nachdruck machte sie sich wieder frei.
„Sag mir bloß, Daschalein, was soll das alles."
„Ich bin doch im Frauenausschuss, Gleb."
„Wieso im Frauenausschuss? Und Njurka? Wo ist Njurka?"
„Njurka ist im Kinderheim. Geh, ruh dich aus. Ich darf keine Minute mehr trödeln. Wir sprechen uns nachher. Du weißt doch selbst: Parteidisziplin."
Sie rannte los. Sein Blick folgte dem roten Kopftuch bis zur Mauer — es lockte und verhöhnte ihn.
Aber dann, am Durchbruch, sah Dascha sich um und winkte ihm zu, ihre Zähne blitzten.
Gleb lief an den Zaun und rief: „Daschalein! Wie geht es Njurka? Sie muss doch schon groß sein ... Ich will vorbeigehen. Wo ist es?"
„Nein, nein, untersteh dich! Wir gehen zusammen hin. Ruh dich derweilen aus."
Gleb stand wie vom Schlag gerührt und sah der entschwindenden Dascha nach. Er konnte einfach nicht begreifen, was geschah.
Drei Jahre hatte er im Wirbel des Bürgerkrieges zugebracht, hatte im Feuer schrecklicher Ereignisse gestanden... Wie aber hatte Dascha diese Jahre verlebt?
Da war er zurückgekehrt in sein Heim, von dem er damals fortgegangen war in die einsame Nacht hinaus. Da lag das Werk, das ihn schon als kleinen Wicht mit Qualm und Öl durchtränkt hatte. Das Heim aber war leer, und Dascha hatte ihn nicht so empfangen, wie er es geträumt.
Er setzte sich auf eine Stufe der Vortreppe und spürte mit einemmal, dass er tief erschöpft war. Und nicht etwa erschöpft von dem vier Werst langen Weg vom Bahnhof — sondern erschöpft von den drei letzten Jahren und diesem sonderbaren Wiedersehen mit Dascha.
Warum diese ungewöhnliche Stille ringsum? Wo kam dieses Zirpen in der Luft her? Und was hatte das Hühnergeflatter in der „Gemütlichen Kolonie" zu bedeuten?
Das dort waren keine Häuserblocks, sondern schmelzende Eisschollen, die Schlote schimmerten bläulich wie Glaszylinder. An den oberen Enden war schon längst kein Ruß mehr, weggeblasen hatten ihn die Bergwinde. Von einem Schornstein war der Blitzableiter abgerissen. Vom Sturm? Von Menschenhand?
Hier hatte es nie nach Dung gerochen, jetzt aber mischte sich in den Duft der Grasblüte, der von den Bergen kam, faulig die scharfe „Blume" des Viehverschlages.
In jenem Gebäude dort unten am Berge war die Schlosserei gewesen. Damals funkelten zu dieser Tageszeit die unzähligen kleinen Scheiben im blendenden Widerschein der Sonne. Und heute? Hinter zerbrochenen Scheiben schwarze Leere!
Und die Stadt auf der Anhöhe jenseits der Bucht hatte sich genauso verändert: Grau geworden, verschimmelt und verstaubt, hob sie sich kaum noch vom Berghang ab. Das war keine Stadt mehr, sondern ein verwahrloster Steinbruch.
Hier die von Dascha offengelassene Tür in ein menschenleeres Zimmer, unten, im Tal, die erloschene, vergessene Fabrik...
Der Hahn kam zum Zaun stolziert, legte den Kopf in den Nacken und sah Gleb aus einem Auge an, böse und abweisend. „Was ist denn das für einer?"