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II. Das rote Kopftuch Der erloschene Herd
ОглавлениеTagsüber blieb Gleb zu Hause. Das verwahrloste Zimmer mit dem staubigen Fenster (selbst die Fliegen mieden es) und dem ungescheuerten Fußboden stieß ihn ab und beengte ihm die Brust. Gegen Abend schienen die Wände noch näher zusammenzurücken, und die Luft wurde noch stickiger.
Gleb irrte auf dem Werkgelände umher, stieg zu den Steinbrüchen voller Gestrüpp und Unkraut hinauf und fühlte sich hinterher immer wie zerschlagen.
Erst in der Nacht kehrte er heim. Dascha empfing ihn nicht wie in früheren Jahren.
Damals war das Zimmer freundlich und behaglich gewesen. An den Scheiben hatten sich die Mullgardinen gebauscht, und auf dem Fensterbrett leuchteten bunte Topfblumen.
Der gestrichene Fußboden hatte wie ein Spiegel geglänzt, das weißbezogene Bett sich weich gewölbt, ein duftiges Tischtuch zärtlich zum Bleiben eingeladen. Der Samowar hatte gesummt und das Teegeschirr leise geklirrt. Hier hatte einst Dascha gelebt, hatte gesungen, geseufzt, gelacht, von morgen geredet und mit der kleinen Njurka gespielt.
Der Gedanke tat weh, dass es dies alles einmal gegeben hatte. Jetzt verursachte der Anblick desselben Heimes voll Dreck und Schimmel Übelkeit.
Wie gewöhnlich kam Dascha erst nach Mitternacht.
Trübe brannte die blakende Petroleumlampe, und die Milchglasglocke am rußgeschwärzten Draht schwebte wie eine erfrorene Blume in der Luft.
Gleb lag auf dem Bett und beobachtete Dascha unter den Wimpern hervor.
Nein, das war nicht die Dascha von früher — jene Dascha war tot. Vor ihm stand eine ganz andere Frau, mit braungebranntem Gesicht und eigenwilligem Kinn. Das rote Tuch umloderte den Kopf und ließ ihn größer erscheinen.
Sie zog sich am Tisch aus, kaute an einer Brotrinde und sah nicht einmal zu ihm hin. Ihr Gesicht war müde und verschlossen.
Als Dascha von ihrer Dienstreise zurückkehrte, war sie sofort nach Hause geeilt, hatte Gleb jedoch nicht angetroffen: er hatte gerade die Bremsberge besichtigt. In der Nacht hatte sie ihn dann geschäftig umsorgt, hatte ein paar schneeweiße Süßstofftabletten auf eine Untertasse geschüttet, Mohrrübentee gebrüht und ihm mit schalkhaftem Blick ein Stück Butter zugeschoben — alles Dinge, die sie im Bezirksparteikomitee für ihn erstanden hatte. Beim Teetrinken hatte sie angeregt von ihrer Arbeit im Frauenausschuss erzählt und ihn dann gefragt, wie er die letzten drei Jahre verbracht und an welchen Fronten er gekämpft habe.
Dann hatten sie von Njurka gesprochen: Sie sei ein artiges kleines Mädchen und habe sich gut im Kinderheim eingelebt. Ihre Spielkameraden mochte sie gar nicht mehr missen. Als Dascha sie einmal an einem Feiertag nach Hause holte, habe sie die ganze Zeit ins Heim zurück gewollt. Dabei ließen die Kinderheime noch viel zu wünschen übrig, die Verpflegung sei mäßig — es gebe wenig Milch, keinen Zucker, und von Fleisch hätten die Kinder überhaupt keine Vorstellung. Das Personal sei unzuverlässig — jedem müsse man ständig auf die Finger sehen. Aber mit der Zeit werde schon alles werden, werde alles sich einrenken. Doch was habe er, Gleb, denn vor?
Er hatte gar nicht hingehört und lauter unpassende Antworten gegeben. Hatte sie nur angesehen und sich bemüht, sie zu begreifen, sich in sie einzufühlen, die frühere stillschweigende Ergebenheit in ihr wieder zu finden. Umschlungen hatte er sie, hatte sie dann auf die Arme genommen, war ungestüm geworden. Auch sie hatte ihn umarmt, in ihren Küssen jedoch war vorsichtige Zurückhaltung, und ihre ängstlich aufgerissenen Augen hatten streng geblickt. Da war er, rasend vor Leidenschaft, über sie hergefallen, sie aber hatte unfreundlich-nüchtern verlangt: „Aber warte doch! Halt mal! Einen Augenblick!"
Wie Ohrfeigen hatten ihn diese kalten Worte getroffen und zurückgeschleudert. Dascha aber war verletzt gewesen und hatte ihn mit Vorwürfen überhäuft: „Du erkennst mich nicht als Menschen an, Gleb. Warum siehst du in mir nicht den Kameraden? Ich habe manches Gute und Neue kennen gelernt, Gleb. Ich bin nicht nur Frau — nicht mehr. Versteh das doch. Während du weg warst, habe ich den Menschen in mir entdeckt und seinen Wert erkannt. War nicht ganz einfach. Hat mich viel gekostet, dieser Stolz. Dafür aber kann niemand ihn mehr brechen, auch du nicht, Gleb."
Er war wütend geworden und hatte sie rüde unterbrochen: „Ein Weib ist mir jetzt wichtiger als ein Mensch ... Bin ich verheiratet oder nicht? Habe ich ein Recht auf meine Frau, oder bin ich ein Trottel geworden? Was sollen mir deine Redensarten, verflucht noch mal!"
„Was ist das für Liebe, Gleb, wenn du mich nicht verstehst? Ich kann das nicht ertragen. Ich will nicht mehr so leben wie früher, bloß in den Tag hinein. Und mich einfach unterordnen wie die meisten Frauen, das liegt mir nicht."
Fremd und unnahbar, hatte sie ihn stehen lassen.
Die Entfremdung hatte seitdem mit jedem Tag zugenommen. Dascha war immer verschlossener geworden, und Gleb hatte wohl gesehen, dass sie sich quälte. Auch er hatte gelitten — an der ihm zugefügten Kränkung und an seinem Zorn darüber. Er war zu dem Schluss gekommen, dass jemand zwischen ihnen stehen müsse, dass Dascha in diesen Jahren wahrscheinlich einen anderen Mann gefunden habe und ihre Liebe nun nicht zwischen ihm und seinem unbekannten Nebenbuhler teilen wolle. Wie hätte er sich sonst ihre Unnachgiebigkeit erklären sollen? Hat sie in diesen drei Jahren den Mann entbehren müssen, dann kann es doch einfach nicht mit rechten Dingen zugehen, wenn sie sich ihm nach seiner Rückkehr nicht ohne Besinnung hingibt. Wie dumm, nachts, unter seinen heißen Umarmungen Vorträge über den Menschen im Weibe zu halten! Dabei hatte er sehr wohl gemerkt, dass auch sie ihre Erregung nur schwer beherrschen konnte, dass ihr Herz stürmisch unter seiner Hand klopfte.
Da stand sie nun vor ihm — ferner noch als in den ersten Tagen. Wie lange sollte denn dieses Getue noch weitergehen, verdammt noch mal?
„Sag selbst, was soll ich davon halten, Dascha. Ich bin Soldat gewesen, ich habe keine freie Minute für mich gehabt. Nun bin ich nach Hause gekommen, und es steht mir bis zum Halse. Nächtelang liege ich wach und warte auf dich. Eine ganze Woche bin ich nun schon da, und du hast in dieser Zeit nur dreimal daheim geschlafen. Wir haben uns doch drei Jahre lang nicht gesehen."
Sie seufzte und lächelte weich. „Ja, drei Jahre, Gleb."
„Du kannst mich totschlagen, aber ich verstehe nichts. Erinnerst du dich noch an die Nacht, als wir uns getrennt haben? Weißt du noch, wie du mich in der Dachkammer bemuttert hast? Wie hast du geweint, als ich dann gehen musste! Wie oft habe ich daran gedacht. Dascha, was ist geschehen?"
„Ach, Gleb, es hat sich so vieles geändert!"
„Eben. Das meine ich ja."
„Sieh mal, Gleb, ich war damals ein dummes Ding. Ich schäme mich richtig, wenn ich daran denke."
„So. Dann bin ich also vergebens zurückgekommen, Dascha. Alles, was früher war, ist zum Teufel?"
Dascha blickte ihn aufmerksam an und wandte sich dann nachdenklich zum nachtdunklen Fenster um.
„Was willst du eigentlich, Gleb? Was hast du die ganzen Jahre gedacht? Du hast mich damals meinem Schicksal überlassen, und ich habe mich allein durchgebissen. Ich habe sogar gelernt, mich im Winter im ungeheizten Zimmer wohl zu fühlen — wir stecken doch in einer Brennstoffkrise —, ich habe mich daran gewöhnt, in der Kantine zu Mittag zu essen." Sie lächelte und fügte scherzhaft hinzu: „Du siehst, auch ich bin eine freie Sowjetbürgerin."
Gleb setzte sich im Bett auf, und seine Augen, die Tod und Blut gesehen hatten, weiteten sich erschrocken.
„Und Njurka? Soll dir als der freien Frau am Ende auch deine Tochter gestohlen bleiben?"
„Was für ein Blödsinn, Gleb!"
Sie nahm ihr Kopftuch ab und warf es auf den Tisch. Ihr kurz geschnittenes kastanienbraunes Haar lockerte sich, ein paar Strähnen fielen ihr ins Gesicht. Man hätte sie für einen Jungen halten können. Sie betrachtete Gleb ein wenig von oben herab, mit überlegener Nachsicht, und lächelte.
Draußen, in der Schlucht, seufzte ein einsamer Nachtvogel, unter dem Fußboden wühlten hungrige Ratten in Erde und Schotter.
„Na schön. Aber wenn ich nun morgen ins Kinderheim gehe und Njurka nach Hause hole? Was würdest du dazu sagen?"
„Bitte, Gleb. Du bist der Vater. Ich habe keine Zeit, mich um sie zu kümmern. Aber wenn du Kindermädchen spielen willst — nur zu. Ich würde mich sehr freuen."
„Aber du bist doch die Mutter. Seit wann hast du dich in einen Kuckuck verwandelt? Steckst dein Kind weiß der Teufel wohin und jagst mit hängender Zunge durch die Gegend."
„Ich bin in der Partei, Gleb. Vergiss das nicht!"
Gleb erhob sich und ging zur Tür. Wieder glaubte er ersticken zu müssen. Die Wände erdrückten ihn, der Fußboden bebte und knarrte unter seinen Stiefeln.
Dascha nahm Kissen und Decke vom Bett, holte ein Laken aus der Kommode und bereitete sich auf dem Fußboden ein Nachtlager.
Dann machte sie rasch das Bett für Gleb zurecht.
Er musste endlich Klarheit gewinnen: Liebte sie ihn wie früher, oder war ihre Liebe gestorben und mit der Liebe auch die alte Dascha?
Wem hatten in diesen drei Jahren ihre Liebkosungen und ihr warmer Körper gehört? Hätte denn auch eine gesunde, kräftige Frau als taube Blüte leben können?
„Ja, Bürgerin, so ist das nun. Beim Abschied flossen die Tränen, beim Wiedersehen weiß man nicht, was sich sagen."
„Warum denn, Gleb? Ich möchte gern mit dir sprechen. Ich möchte dir viele gute Worte sagen. Aber du denkst immer nur an das eine."
Er hörte nicht auf sie und brummte: „Drei Jahre lang hab ich gedacht: Zu Hause wartet meine Frau auf mich. Und dergleichen mehr ... Nun bin ich heimgekommen — und bin Witwer geworden. Als ob ich nur im Traum verheiratet gewesen wäre! Du hast natürlich einen Mann gehabt — nur nicht mich."
Dascha drehte sich verblüfft zu ihm um, und ihre Augen blitzten zornig.
„Du hast wohl an der Front keine Mädchen gehabt? Sei ehrlich! Ich weiß ja nicht einmal, ob du gesund geblieben bist oder vergiftetes Blut mitgebracht hast."
Sie sagte das geringschätzig durch die Zähne, dabei aber sehr bestimmt. Gleb sah sich durchschaut, und das machte ihn verlegen.
„Na ja, an der Front passiert so manches. Man kann doch aber Mann und Frau nicht über einen Kamm scheren. Was der Mann darf, darf die Frau noch lange nicht."
Dascha hatte sich ausgezogen, ging aber nicht zu Bett; sie lehnte ungeniert an der Wand. Mit wissendem Blick maß sie Gleb von Kopf bis Fuß und murmelte wieder geringschätzig durch die Zähne: „Das ist ja reizend! Bei der Frau liegt die Sache anders. Ein beneidenswertes Los ist ihr zugefallen — Sklave hat sie zu sein ohne eigenen Willen, nicht Leitpferd, sondern Beipferd. Nach welchem Abc hat man dir den Kommunismus beigebracht, Genosse Gleb?"
Er erkannte sie nicht wieder; eine ganz neue Kraft ging von ihr aus. Ihre unerschrockene Offenheit brachte ihn außer Fassung. Hätte sie es früher gewagt, in so selbständigem Ton mit ihm zu sprechen? Sie hatte einst gedacht, was er dachte, und sich ihm rückhaltlos untergeordnet. Woher nahm sie heute diesen Mut und dieses Selbstbewusstsein?
Er trat auf sie zu und sah ihr ins Gesicht. „Also ist es wahr? Ja?"
Draußen vor dem Fenster, im Sternenschein, lag dumpfe Stille, trotz Gezirp und nächtlichem Klingen. Hinter dem Werk, bei den Anlegestellen, seufzte das Meer in phosphoreszierendem Dunst das Klagelied der Brandung.
„Ich frage dich nicht nach deinen Frontliebchen, Gleb, was gehen dich meine Liebsten an?"
„Lass dir gesagt sein, Dascha — ich kriege es raus. Ich komme dir auf die Schliche. Merk dir das!"
Sie löste sich von der Wand, ihre Augen funkelten. „Vorsicht, Gleb. Auf Stirnrunzeln verstehe ich mich nicht schlechter als du."
Wo nahm sie diese Frechheit her? Wo hat sie gelernt, den Kopf so stolz zurückzuwerfen und einen Schlag mit dem Blick zu parieren?
Nicht die Kriegsereignisse, nicht der Hamstersack auf dem Buckel, nicht die üblichen Weibersorgen hatten Dascha zu sich selbst finden lassen und ihren Charakter gestählt, sondern der Gemeinschaftsgeist, die Hochglut der letzten Jahre, die harten Prüfungen und das schwere Frauenlos.
Der Boden wankte ihm unter den Füßen. Er fühlte, dass er lächerlich dastand. Seine Ohnmacht machte ihn rasend; er fasste ihre Hände und presste sie zusammen, dass die Gelenke knackten. Sie verriet mit keiner Miene, wie weh es ihr tat. „Hände weg, Gleb! Hörst du! Lass los!" Er packte sie um den Leib und warf sie aufs Bett. Sie nahm alle Kraft zusammen, um sich loszureißen, ihr entblößter Körper wand sich ohne alle Scham in seinen Armen. Schließlich stieß sie Gleb mit einem geschickten Fußtritt zu Boden und sprang rasch vom Bett auf. Blass, keuchend, strich sie ihr Hemd glatt und sagte voller Verachtung: „So lasse ich nicht mit mir umspringen, Gleb. Du kennst mich noch nicht von dieser Seite? Lern mich kennen, es kann nicht schaden. Ein feiner Bolschewik bist du! Ein tüchtiger Kämpfer! Nicht einmal zu Verstand bist du im Krieg gekommen."
Er saß bezähmt auf dem Fußboden und knirschte mit den Zähnen.
„Mach das Licht aus, Gleb, und leg dich hin! Kühl dich ab. Jetzt bist du nicht fähig, zu denken. Wir kommen heute sowieso zu keinem Ergebnis."
„Ich begreife nichts, Dascha. In meiner Brust brennt es wie Feuer."
„Leg dich hin und beruhige dich, Gleb. Ich bin todmüde. Morgen muss ich wieder aufs Land. Immer wieder Banditen, Überfälle."
Sie ging selbst zum Tisch und löschte die Lampe. Er hörte, wie sie sich niederlegte und mit dem Bettzeug raschelte, dann wurde es still. Gleb war elend zumute — vor Kränkung und Scham. Am liebsten hätte er sich auf sie geworfen, sie geschlagen, ihr weh getan und — geweint, unter Tränen um Zärtlichkeit gebettelt. Lange lagen sie schweigend und unbeweglich. Er erwartete, erhoffte immer noch, dass sie aufstehe, zu ihm komme und sich, ohne ein Wort zu sagen, zärtlich an ihn schmiege. Aber sie rührte sich nicht, und er hörte nicht einmal ihren Atem. „Dascha, Liebste! Quäl mich doch nicht. Warum bist du so spröde?" Sie griff nach seiner Hand und legte sie an ihre Brust.
„Lieber, nimm dich zusammen, beruhige dich. Versuchen wir uns doch ein wenig zu verstehen. Hab Geduld, Lieber. Mir fällt das alles auch nicht leicht. Aber es gibt da manches, das man durchdenken muss. Ich habe mich nur nach dir gesehnt, die ganzen drei Jahre."
Der Himmel war voller Sterne. Fernes Donnergrollen kam aus den Bergen. Es war das Lied des Waldes, den der nächtliche Nordost in den Schluchten zauste.