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XV.
An den Bruder Michail 1847

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Lieber Bruder! Ich muß dich schon wieder um Vergebung bitten, weil ich nicht Wort gehalten und dir nicht gleich mit der nächsten Post geschrieben habe. Ich war aber während der ganzen Zeit in einer so gedrückten Stimmung, daß es mir unmöglich war, zu schreiben. Ich habe mir auch viele qualvolle Gedanken über dich gemacht. So schwer ist dein Schicksal, lieber Bruder! Bei deiner schwachen Gesundheit, deinen Gedanken, ganz ohne Gesellschaft, bei ständiger Langeweile anstatt eines Festes und bei den ständigen Sorgen um deine Familie, die dir zwar süß sind, doch immerhin als schweres Joch auf dir lasten, ist das Leben unerträglich. Verliere aber nicht den Mut, Bruder. Es werden noch bessere Tage kommen. Weißt du: je reicher wir an Geist und innerem Gehalt sind, um so schöner erscheint unser Leben. Schrecklich ist ja natürlich die Dissonanz zwischen uns und der Gesellschaft. Das Äußere und das Innere müssen im Gleichgewicht sein. Denn beim Mangel an äußeren Erlebnissen werden die inneren Erlebnisse immer die Oberhand gewinnen, was höchst gefährlich ist. Die Nerven und die Phantasie machen sich in diesem Falle in unserem Wesen zu breit. Jedes äußere Erlebnis erscheint uns kolossal und ängstigt uns. Wir fangen an, das Leben zu fürchten. Es ist noch ein Glück, daß die Natur dich mit Liebe und Charakterstärke ausgestattet hat. Du hast noch einen starken, gesunden Verstand und Funken eines diamantenen Humors und frohen Temperaments. Dies ist deine Rettung. Ich denke immer viel an dich. Mein Gott, es gibt so viele häßliche, gemeine und beschränkte graubärtige Philosophen, Lebenskünstler und Pharisäer, die auf ihre Lebenserfahrung, d. h. Unpersönlichkeit (denn sie sind alle nach der gleichen Schablone gearbeitet) stolz sind, zu nichts taugen, die immerwährend Zufriedenheit mit dem Schicksal, einen Glauben an irgend etwas, Beschränkung im Leben und Zufriedenheit mit seiner Lage predigen, und dabei gar nicht an den Sinn dieser Worte denken; denn ihre Zufriedenheit gleicht der klösterlichen Selbstkasteiung; sie verurteilen mit unendlich kleinlicher Gehässigkeit die starke, glühende Seele eines jeden, der sich ihrem abgeschmackten Tagesprogramm und Lebenskalender nicht fügen will. Wie gemein sind doch diese Prediger des falschen irdischen Glückes! Ja, sie sind alle gemein! So oft ich ihnen in die Hände gerate, dulde ich Höllenqualen ...

[Hier folgt der Bericht über einen Besucher, der Dostojewskij mit seiner Kleinlichkeit außer sich gebracht hatte.]

... Ich möchte dich so gerne wiedersehen. Zuweilen quält mich eine namenlose Trauer. Ich muß manchmal daran denken, wie schwerfällig und eckig ich bei euch in Reval war. Ich war damals krank. Ich erinnere mich noch, wie du mir einmal gesagt hast, daß mein Benehmen dir gegenüber gegenseitige Gleichheit ausschließt. Mein geliebter Bruder! Du warst ungerecht. Ich habe ja wirklich einen schlechten, abstoßenden Charakter. Ich habe dich aber immer über mich gestellt. Ich könnte für dich und die Deinigen mein Leben opfern; doch auch wenn mein Herz in Liebe glüht, kann man von mir oft kein einziges freundliches Wort herausbekommen. In solchen Augenblicken habe ich meine Nerven nicht in der Gewalt. Ich erscheine lächerlich und abstoßend und muß unsagbar darunter leiden, daß mich meine Mitmenschen falsch beurteilen. Man sagt, ich sei trocken und herzlos. Wie oft habe ich Emilie Fjodorowna, einer Frau, die tausendmal besser ist als ich, Grobheiten gesagt. Ich kann mich erinnern, daß ich mich oft ohne jeden Grund über deinen Sohn Fedja ärgerte, obwohl ich ihn zur gleichen Zeit vielleicht noch mehr liebte, als dich. Ich kann mich nur dann als ein Mensch von Herz und Gemüt zeigen, wenn die äußeren Umstände mich gewaltsam aus dem ewigen Alltag herausreißen. Wenn dies aber nicht geschieht, bin ich immer abstoßend. Diese Ungleichmäßigkeit erkläre ich mit meiner Krankheit. Hast du die »Lucretia Floriani« gelesen? Sieh dir auch den »König« an. Bald wirst du aber meine »Netotschka Neswanowa« lesen können. Diese Erzählung wird wie der »Goljädkin« meine Beichte sein, wenn auch anders im Ton. Über »Goljädkin« bekomme ich oft solche Äußerungen zu hören, daß es mir ganz bange wird. Manche sagen, dieses Werk sei ein wirkliches, doch unverstandenes Wunder, es werde in der Zukunft eine kolossale Bedeutung haben, und dieser »Goljädkin« allein genüge schon, um mich berühmt zu machen; viele finden die Erzählung spannender als die Werke von Dumas. Nun fange ich schon wieder an, mich zu loben. Wie angenehm ist es aber, Bruder, richtig verstanden zu werden! Wofür liebst du mich eigentlich so sehr? Ich werde mir Mühe geben, dich möglichst bald wieder zu sehen. Laß uns doch einander glühend lieben. Wünsche mir Erfolg. Ich arbeite jetzt an der »Wirtin«. Sie gerät mir besser als die »Armen Leute«. Die Erzählung ist im gleichen Genre. Eine Quelle von Begeisterung, die meiner Seele entspringt, leitet meine Feder. Es ist ganz anders als beim »Prochartschin«, an dem ich den ganzen Sommer gelitten habe. Wie gern möchte ich dir, Bruder, sobald als möglich helfen. Hoffe felsenfest auf das Geld, das ich dir versprochen habe. Küsse von mir alle Deinigen. Inzwischen bin ich

dein Dostojewskij.

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