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Nigeria – wo liegt das überhaupt?

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Im Sommer 1973 sollte ich in die Schule kommen. Mama hatte mir eine wunderschöne Schultüte gefüllt und übte mit mir den Schulweg. Stolz trug ich dabei meinen Schulranzen. Noch bevor die Schule überhaupt begann, kannte ich den Weg in- und auswendig. Leider durfte ich noch nicht in die Schultüte schauen, dafür musste ich bis zur Einschulung warten.

Inzwischen hatte ich mich daran gewöhnt, überall das einzige Kind mit dunkler Haut zu sein. Es war okay, ich bemerkte es gar nicht mehr. Manchmal wurde ich jedoch angesprochen und gefragt, ob ich denn auch einmal Ärztin werden wolle, um »meinen Leuten« zuhause zu helfen. Zuhause? Waren Mama oder Oma etwa krank? Oder als ein Mitschüler mich in der Schulpause fragte, ob ich denn »überall« so Schwarz sei. So etwas machte mir Angst und der Lehrerin gelang es kaum, mich zu beruhigen.

In solchen, sehr seltenen Situationen wurde mir bewusst, dass ich anders aussah. Zwar fühlte ich mich als einziges Schwarzes Kind wohl und es machte mir auch nichts aus, aber darauf angesprochen werden wollte ich nicht. Irgendwie empfand ich die Hautfarbe dann doch als Makel. Ich war das Kind meiner Mama. Natürlich wusste ich, dass ich nicht ihr leibliches Kind war. Dennoch, die Hautfarbe erinnerte mich an meine eigentliche Herkunft und die lehnte ich ab.

Leute strichen über mein »schönes, krauses Haar«. Sie fragten mich vorher nicht, sie machten es einfach – als ob ich ein Ausstellungsstück wäre. Selbst im Museum oder im Obstladen hieß es damals schon: »Nicht berühren!« Und trotzdem, sie taten es einfach. Was sie daran schön fanden, verstand ich nie. Was war an dieser Holzwolle, die mich morgens dazu zwang, eine halbe Stunde früher aufzustehen, weil Mama sie mit warmem Wasser nass machen musste, um mit einer Forke ähnlichen Kamm irgendwie durchzukommen, schön? Außerdem sah ich mit meinen kurz geschnittenen Haaren aus wie ein Junge. Und damit man mich nicht für einen Jungen hielt, musste ich immer Röcke und Kleider tragen.

Mama brachte mir schon früh bei, dass alle Menschen gleich sind und es keinen Unterschied gibt. Sie erklärte mir, dass es schön ist, wenn Menschen ihre Freundlichkeit zeigen. Ich freute mich über diese Freundlichkeit bei anderen und begegnete den Menschen unbefangen und unvoreingenommen, in die Haare fassen sollten sie mir dennoch nicht.

Wenn die Mitarbeiter der städtischen Müllabfuhr vor unserem Haus die Mülltonnen leerten und ich ihnen zuschaute, zogen sie ihre Handschuhe aus, um mir die Hand zu geben. Die Menschen waren freundlich, sehr freundlich.

Schon früh brachte man mir bei, Plattdüütsch zu sprechen und freute sich immer sehr, wenn ich auf die Frage: »Wie geit die dat?« auf perfektem Plattdüütsch antwortete: »Mi geiht good.« Bei unserem Bäcker an der Ecke brachte mir diese Begrüßung stets einen Lolli und einen Handschlag ein.

Der Kontakt zu meinen Eltern blieb »spontan«. Ich genoss ihre Abwesenheit, war froh, wenn sie keine Zeit hatten und ich Flori und nicht wie auch immer heißen und mich entsprechend benehmen musste.

Ich erinnere mich aber auch an ein paar gelöste Situationen mit ihnen. Da waren wir verabredet, sie kamen uns besuchen, begleiteten uns auf Elternnachmittage in der Kirchengemeinde, die Mama ausrichtete. Alle Gäste hatten Platz genommen, an schön gedeckten Tafeln, die Kinder – auch ich – führten eingeübte Stücke auf, sangen Lieder. Es gab Kaffee, Tee und Butterkuchen, und zwar den für mich bis heute weltbesten Butterkuchen unseres Bäckers an der Ecke. Da waren sie einfach »Floris Eltern« und ich erinnere mich an ein Gefühl, das sich ein ganz klein wenig wie Stolz anfühlte. Stolz auf diesen großen Mann, den die anderen Mütter mit strahlenden Augen ansahen, wenn er erzählte. Auf diese hübsch gekleidete Frau, der die Väter immer wieder einen Blick zuwarfen, obwohl sie einfach nur dasaß und wenig sagte. Überhaupt waren sie sehr unterhaltsame Gäste, besonders er bestach mit seinem trockenen Humor.

Sie fingen an, mir von Nigeria zu erzählen, dem Land, aus dem sie kamen, das Land, das auch meine Heimat sein sollte. Sie erzählten mir von dieser Heimat und dass wir bald dorthin zurückgingen, etwas, das ich weder wahrhaben noch verinnerlichen wollte. In Lagos würden wir leben, einer wunderschönen Stadt, in einem wunderschönen, großen Haus, jedes Kind hätte ein großes Zimmer. Unsere Verwandten würden dort auf uns warten, ein Opa und eine Oma wären dort, Onkel, Tanten, Cousinen, Cousins und meine Schwester – alle würden sie auf uns warten.

Ein eigenes Zimmer? Das klang gut, das hatte ich bislang nicht, und mit Speck fängt man ja bekanntlich Mäuse. Aber Nigeria? Wo sollte das sein? Und warum meine Heimat, mein Zuhause? Ich hatte ein Zuhause und das hieß Buxtehude. Und überhaupt, was sollte ich in einem fernen, fremden Land, wenn meine Mama doch in Buxtehude war. Kam sie vielleicht mit? Aber was würde dann aus Oma werden? Kam diese auch mit? Nein, sie würden nicht mitkommen, also war dieses andere Land auch für mich nicht im Entferntesten eine Option.

Es war mir ein Rätsel, wie meine Eltern glauben konnten, dass ich dorthin passen könnte. Ja, ich hatte eine braune Hautfarbe, genau wie sie. Einmal soll ich meinen Vater erstaunt angeschaut und festgestellt haben: »Bist du aber Schwarz.« Er erwiderte, dass ich genauso Schwarz sei. Ob ich es begriffen hatte, wage ich zu bezweifeln, nahm ich mich doch in meiner Welt so nicht wahr. Es gab wohl auch eine Zeit, da habe ich versucht, mich mit einer Bürste sauber zu schrubben und meine Mama gefragt, warum sie sich nicht ein sauberes Kind genommen hätte. Das waren dann jene Momente, in denen ich sie wahrnahm, meine Schwarze Haut in meiner weißen Welt.

Mama nahm sich Zeit, mir die Dinge zu erklären und half mir dabei, meine Hautfarbe und die Tatsache, dass ich lange Zeit das einzige dunkelhäutige Kind in meiner Umgebung war, zu akzeptieren. Und dennoch, es dauerte eine Weile, bis ich begriff, warum die Nachbarn sich immer an mich erinnerten, wenn wir doch mindestens zehn Kinder waren, die den Klingelstreich verübten. Hatte ich doch meistens das Gefühl, genauso zu sein wie alle anderen auch. Dieser Zwiespalt sollte sich wie ein roter Faden durch mein Leben ziehen. Äußerlich afrikanisch, innerlich deutsch. Mit Nigeria hatte ich nicht viel am Hut, wollte auch nicht viel davon wissen, außer ich sah ein Kind, das so aussah wie ich und allein unter Weißen war. Dann war die Neugier groß. Es war, als schaute ich in einen Spiegel, wie damals in Großbritannien. Sehr oft gab es diese Gelegenheiten zwar nicht, aber wenn, dann war ich komplett aus dem Häuschen.

Ich liebte Spielmannszüge. Wann immer ich einen hörte, musste Mama mit mir in die Richtung der Musik laufen. Oder ich lief kurzerhand allein los, was mir natürlich im Nachhinein Ärger einbrachte, aber das war es mir wert. Die Uniformen, die Instrumente, die Tambourmajore, die ihren Stock immer so gekonnt in die Höhe warfen und wieder auffingen, all das liebte ich sehr. Ich war gerade in die Schule gekommen, als wir ein Festival mit Spielmannszügen aus den europäischen Nachbarländern besuchten. Ich erinnere mich an ein Mädchen in einem dieser Spielmannszüge, das doch tatsächlich so aussah wie ich – zumindest hatte es die gleiche Hautfarbe. Ich weiß noch wie heute, wie schnell ich die Absperrungen überwunden hatte, nur um dieses Mädchen näher anschauen zu können. Endlich einmal ein weiteres Kind in Buxtehude, das so aussah wie ich. Zu Mama sagte ich, dass dieses Mädchen doch sicherlich meine Schwester sein müsste. Natürlich war es nicht meine Schwester. Aber die Erinnerung und die Freude, die ich damals empfand, hallen bis heute in mir nach.

Mama war es wichtig, dass ich nicht auffiel, trotz oder gerade wegen meiner Hautfarbe. »Flori, was sagen die Leute?«, war ihre Standardermahnung. Nur nicht auffallen, nicht aus der Reihe tanzen, niemandem Anlass für eine negative Äußerung geben und froh sein, dass die Leute nichts gegen einen hatten. Und so war ich das angepasste, freundliche und höfliche kleine Mädchen mit dem schönen krausen Haar, das immer Röcke und Kleider trug.

Manchmal meinten Nachbarn die Bemerkung machen zu müssen, dass ich ja gar nicht so Schwarz wäre und überhaupt ja auch gar nichts dafür könne. Diese Sätze klangen komisch und ich konnte sie nicht einordnen. Dennoch, ich mochte Äußerungen dieser Art schon damals nicht. Sie hinterließen das Gefühl, etwas an mir zu haben, für das ich jedoch nichts konnte. Sie hinterließen eine unerklärliche Wut, die ich noch weniger einordnen konnte, waren die Menschen doch freundlich zu mir. Mein Unbehagen äußerste ich nie, ich blieb angepasst, freundlich und höflich.

Auch bei meinen Eltern übte ich mich in dieser Tugend der Unauffälligkeit. Erzählten sie mir über »unsere« Heimat, hörte ich brav zu. Überhaupt hörte ich mehr zu, als dass ich sprach, was sich später noch als sehr nützliche Angewohnheit herausstellen sollte.

Immer öfter bekam ich mit, dass die »Ausreise«, wie es hieß, bald bevorstünde. Mama war sehr besorgt, ängstlich und traurig und ich begriff, dass die »Ausreise« nichts Gutes verhieß. Ich sollte auf eine einheimische Schule gehen, deshalb sollte ich so schnell wie möglich Englisch lernen. Außerdem war Englisch die Amtssprache in Nigeria und ich sollte mich ja auch mit den Verwandten verständigen können.

Mama brachte mich ein paar Mal zu einer Bekannten, einer Engländerin, und ich begann ein paar Brocken aufzuschnappen. Meine Eltern hatten bisher mit mir nur Deutsch gesprochen und Yoruba, ihre Stammessprache, die ich nicht verstand und auch nicht verstehen wollte. Es gab auch eine deutsche Schule in Lagos, aber die kostete Geld. Und dieses Geld war nicht vorhanden.

Inzwischen war es das Jahr 1975, ich besuchte die zweite Klasse, kam in die dritte. So wirklich begriff ich nicht, was mit der Umsiedlung nach Nigeria auf mich zukam. Ich bemerkte aber, dass Mama sich große Mühe gab, mir viele schöne Erinnerungen zu bescheren – mein achter und letzter Geburtstag in Buxtehude, das letzte Osterfest, der letzte Sommer, das letzte Weihnachtsfest, das letzte Silvester. Zum Glück bestanden meine Eltern in diesem Jahr nicht darauf, dass ich diese Feiertage mit ihnen und meinen Brüdern – ein zweiter Bruder war im Dezember 1975 zur Welt gekommen – verbrachte. Denn in der Vergangenheit hatten Mama und ich Weihnachten manchmal vor- oder nachfeiern müssen.

Mama versuchte mich abzulenken und ging mit mir in den Tierpark Hagenbeck. Ich liebte es, die vielen Tiere zu betrachten, sie zu füttern oder zu streicheln, wo es erlaubt war. Wir besuchten Jahrmärkte. Die Karusselle gefielen mir besonders. Ich durfte mir gebrannte Mandeln kaufen und Zuckerwatte. Mama verwöhnte mich sehr, wusste sie doch, dass sie mir eine solche Freude nicht mehr lange machen konnte. Wir hatten nie viel Geld, dennoch hielt es Mama nicht davon ab, zahlreiche Kinonachmittage mit mir zu verbringen. Die Märchen, die dort gezeigt wurden, kannte ich aus den Büchern, es gefiel mit sehr. Eine Wasserratte war ich nie und sollte ich auch nie werden, dennoch wollte Mama, dass ich auch diese Erinnerung mitnahm und verbrachte einige Sommernachmittage mit mir im Freibad.

Mein Bruder, knapp fünf Jahre jünger als ich, schien sich auf Nigeria zu freuen. Kein Wunder, er wohnte die meiste Zeit mit meinen Eltern zusammen und hatte nicht viel anderes kennengelernt. Mein zweiter Bruder war noch ein Baby. Der Tag der Ausreise rückte näher und es hieß Abschied nehmen, von Freunden, von Verwandten, von meinen Spielsachen, meinem Zuhause. Viel konnte ich nicht mitnehmen. Mama versuchte es mir so leicht wie möglich zu machen. Und doch sah ich ihrem Gesicht an, dass es ein Abschied für immer sein würde – an ihren Blick erinnere ich mich noch heute.

Anrufe, Briefe schreiben oder gar Besuche – ob das alles möglich sein würde? Laut meines Vaters, kein Problem. Aber ob darauf Verlass war? Wann würde ich wieder ganz nach Hause dürfen? Warum musste ich denn überhaupt mit? Konnten meine Eltern nicht allein fliegen? Schließlich brachten sie zwei weitere Kinder mit. Das sollte doch zum Vorzeigen ausreichen, wo Jungs in ihrer Kultur ohnehin einen größeren Wert zu haben schienen als Mädchen. Meine Brüder waren der lebendige Beweis dafür. Allerdings war da eine Sache, auf die ich sehr neugierig war – freuen wäre zu viel gesagt – meine Schwester kennenzulernen. Endlich ein Mädchen, das nicht nur so aussah wie ich, sondern mir vielleicht sogar ähnlich sah.

Und dann war es soweit. An einem kalten Februartag packte Mama meine Kleider in einen Koffer. Aber viel wichtiger war die Tragetasche mit meinen Puppen, der großen und der kleinen braunen Puppe sowie einem kleinen, weißen Teddybären. All das sollte mir den Abschied erleichtern und meine Erinnerungen aufrechterhalten. Mama gab mir ein Geschenk für meine Schwester mit. Und außerdem einen Puppenjungen, den ich meinem Bruder geben sollte, damit er nicht meine Puppen nahm. Mama kannte mich, sie wollte mir Ärger ersparen, sie wusste, dass ich es nicht mochte, wenn mein Bruder meine Sachen an sich nahm.

Am Abend vor der Ausreise fuhr ich mit Mama und der Nachbarin, die den Weihnachtsmann für mich gespielt hatte, nach Hamburg, um meine Eltern und meine Brüder in einem Hotel zu treffen. Am nächsten Morgen sollte es früh mit der Lufthansa nach Lagos gehen, an einen Ort voller Ungewissheit.

Die Nacht war kurz, der nächste Morgen brach an. Wir machten uns fertig, um zum Flughafen zu fahren. Ich war gespannt, war ich doch noch nie geflogen. Dann erreichte meine Eltern eine Nachricht. Nein, wir würden nicht fliegen. Es gäbe politische Unruhen in Lagos, die Flüge seien vorerst gestrichen. Was für ein Gefühl! Freude und Enttäuschung zugleich. Da war es wieder, das Unangekündigte, Spontane, Willkürliche. Nur dieses Mal konnten meine Eltern nichts dafür, zumindest nicht direkt, indirekt schon, wie ich fand.

Ich durfte also bleiben, vorerst zumindest. Wie lange, konnte niemand sagen. Ich weiß nur, dass es sich komisch anfühlte, bleiben zu dürfen. Sich bereits verabschiedet zu haben, von den Freundinnen aus der Schule, der Umgebung und dann doch nicht weg zu sein.

In die Schule zurückgehen konnte ich nicht, schließlich war die Abmeldung bereits erfolgt. Aber einfach Zuhause sitzen? Nicht zu fliegen, war nicht schlimm, im Gegenteil. Jedoch zu wissen, dass das, worauf man sich ohnehin nicht freut, nur aufgeschoben ist, fühlte sich nicht gut an. Niemand konnte sagen, ob oder wann es nun losgehen würde. Der Entscheidung anderer ausgeliefert zu sein, war ein vertrautes, aber kein schönes Gefühl.

Es vergingen Tage voller Unsicherheit. Eine Zeit des Schwebens, ohne zu wissen, wann der harte Aufprall käme, wir wieder nach Hamburg mussten.

Und dann klingelte das Telefon. Mama ging ran, sie sprach kurz, kam wieder, ihr Gesicht aschfahl, traurig, entsetzt. Jetzt sollte alles schnell gehen. Man könne noch am selben Tag fliegen, hieß es. Man würde mich gleich abholen. Nein, Mama konnte nicht, wie ursprünglich geplant, mit zum Flughafen fahren.

Wenig später waren sie da, schnell wurden meine Sachen ins Auto verstaut, ein schneller Abschied zwischen den Garagen hinterm Haus, eine letzte Umarmung. Von Oma hatte ich mich noch kurz vorher verabschieden können. Ja, Mama würde mir schreiben, sagte sie und konnte ihre Tränen nicht zurückhalten. Ich winkte ihr, als das Auto losfuhr, ich winkte ihr, so lange ich sie sehen konnte. Dann war sie weg.

Mist, die versteht mich ja!

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