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Meine Eltern

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Wieder ein Freitagabend, Mama hatte mir, wie jeden Abend, eine Geschichte vorgelesen und mich dann ins Bett gebracht. Plötzlich hörte sie ein großes Stimmengewirr auf der Straße, sie schaute aus dem Fenster. Da waren sie – meine Eltern. Sie waren nicht allein gekommen, sondern in Begleitung einiger Freunde. Sie redeten durcheinander, sie redeten laut, sie redeten energisch, sie schienen aufgeregt. Stritten sie sich? Was war los? War etwas passiert?

Sie klingelten, kamen die Treppe hoch. Nun standen viele Menschen in der kleinen Wohnung, zu viele für diese Wohnung. Nun waren sie da, waren bereit, wollten ihre Tochter abholen, denn es war ja Freitag.

Meine Eltern hatten in Lagos/Nigeria geheiratet, das muss 1963 gewesen sein. Er, Jahrgang 1938, sie, Jahrgang 1942, beide dem Stamm der Yoruba angehörend. Ich kenne nur wenige Bilder aus dieser Zeit. Die jedoch, die ich kenne, zeigen zwei große, sehr schöne Menschen, mit einer besonderen Eleganz, Anmut und Grazie.

Lagos als größte Stadt Nigerias war schon damals eine der bevölkerungsreichsten Städte des Landes. Armut und Reichtum lagen dicht nebeneinander, die soziale Schere klaffte weit auseinander. Im Mai 1964 bekamen sie ihr erstes Kind, ein Mädchen. Sie hatten Träume, träumten von einem besseren Leben in Europa. Deutschland war ihr Ziel. Obwohl sie die Sprache nicht beherrschten, trauten sie sich ein Leben in dem fremden Land zu, wollten dort studieren. Die Voraussetzungen besaßen sie, sie hatten beide einen höheren Schulabschluss. 1965 ging mein Vater voraus, wohl um zu schauen, wie das Leben in dem gelobten Land ist. Er wollte alles vorbereiten, denn eines war klar, seine Frau sollte nachkommen. Sie hatten viele Verwandte in Lagos, die Familie war groß, sehr groß. Es hieß, alle hätten zusammengelegt, um ihnen die Reise nach Europa zu ermöglichen. Denn wenn beide ein erfolgreiches Leben in Europa hätten, würde es auch den zurückgebliebenen Verwandten in der Heimat gut gehen. Man hielt zusammen, sorgte füreinander, teilte, was man hatte. Natürlich würden sie Geld von Deutschland in die Heimat senden. Sein Vater, ein nicht weniger stattlicher, stolzer und geachteter Mann, besaß in Lagos eine Baufirma, diese sollte er nach seinem erfolgreich absolvierten Studium übernehmen – daher wollte er Bauingenieurwesen studieren. Doch erst galt es, die Sprache zu lernen. Das war nicht leicht. Aber er lernte sehr schnell. Wenig später, es musste im Juni oder Juli 1966 gewesen sein, folgte ihm seine Frau nach Deutschland. Allein, ohne ihre Tochter. Diese ließ sie bei Verwandten in Lagos zurück. Gemäß dem afrikanischen Sprichwort: »Um Kinder zu erziehen, braucht es ein ganzes Dorf«.

Aus welchem Grund auch immer sie ihre Tochter zurückließ, beide waren sie nun in Deutschland – um genau zu sein, in Hamburg. Er kannte sich bereits aus, hatte Leute kennengelernt, für sie war alles neu. Unterhielt er sich auf Deutsch, fühlte sie sich sicherlich ausgeschlossen, aber das währte nicht lang. Auch sie lernte die neue Sprache sehr schnell. Tatsächlich sollten beide die deutsche Sprache nie wieder verlernen. Selbst nach der Rückkehr in ihre Heimat beherrschten sie sie bis ins hohe Alter. Sie waren kluge Menschen – ihre Intelligenz half ihnen sehr, in diesem fremden Land zurechtzukommen.

Gut neun Monate nach ihrer Ankunft in Hamburg kam die zweite Tochter zur Welt.

In ihrem Land war es üblich, dass ein Kind erst vierzig Tage nach der Geburt seinen Namen erhielt. Bis dahin hieß es schlicht »Baby«, vielleicht ergänzt durch das Geschlecht, »Baby boy« oder »Baby girl«. Auch war es üblich, dass alle Verwandten bei der Wahl des Namens beteiligt waren. Um sich nicht auf einen Namen einigen zu müssen, erhielt das Kind mehrere. Sicherlich hatten auch bei diesem Kind viele Verwandte Namensvorschläge gemacht und sie ihnen bei den gelegentlichen Telefonaten übermittelt. Es waren nigerianische Namen, für europäische Zungen schwierig auszusprechen. Aus diesem Grund dachten sie vermutlich, es sei klug, einen europäischen Namen voranzustellen, »Florence«. Ein schöner Name, ja, aber die Aussprache und Schreibweise sollte dann doch für den einen oder anderen Deutschsprachigen ebenfalls zu einer Herausforderung werden.

Sie gehörten dem baptistischen Glauben an. In der Nähe ihres Wohnortes hatten sie eine baptistische Gemeinde gefunden. Die Gemeinschaft gab ihnen Halt, sie knüpften Kontakte und lernten so immer mehr Menschen kennen. Das neue Baby wurde nicht getauft, das ist bei den Baptisten nicht üblich, es wurde »dargebracht«, der Gemeinde gezeigt, gesegnet und in die Gemeinschaft aufgenommen. Und genau so machten sie es. Sie stellten ihre Tochter vor und erst dann bekam sie ihren vollständigen Namen: Florence Olatunde Gbolajoko Oluwadamilare.

»Florence« – so nannte mich bis zu meinem 18. Lebensjahr eigentlich niemand. Von meiner Mama wurde ich »Flori« gerufen. Meine Eltern, besonders mein Vater, wurden jedoch nicht müde, mich stets mit allen mir zugedachten nigerianischen Namen anzusprechen, etwas, das – und diese Erinnerungen reichen weit in meine frühe Kindheit zurück – mir stets missfiel. Mehr noch, ich hasste es. »Olatunde Gbolajoko Oluwadamilare«. Es hatte den Anschein, als wollte er mir deutlich machen, dass das, womit ich mich zunehmend identifizierte – identifizieren musste, identifizieren wollte, denn sie hatten mich schließlich zu dieser weißen Frau gebracht – nicht das war, mit dem ich mich zu identifizieren hatte. Es hatte den Anschein, als wollte er mir mittels meiner Namen deutlich machen, mit was ich mich zu identifizieren hatte – zumindest dann, wenn sie anwesend waren. Nämlich mit Lagos, mit Nigeria, mit der nigerianischen Kultur, der Sprache, dem Essen, dem Verhalten, dem Temperament. Alles Dinge, die ich nicht kannte, alles Dinge, von denen ich nur gehört hatte, und zwar von ihnen.

Mit der Zeit fingen sie an, mich ab und an zu sich zu holen. Ich sollte dann einige Tage mit ihnen verbringen. Tage, an denen ich traurig war, denn ich vermisste Mama. Meine Mutter kochte. Das Essen schmeckte scharf, es roch streng. Sie aßen mit den Fingern, so war es üblich. Das Essen mochte ich nicht, ich brauchte eine Gabel, einen Löffel, mein gewohntes Leben, meine Mama, die zu jeder Zeit wusste, was gut für mich war. Je mehr sie versuchten, vor allem mein Vater, mir die Dinge im wahrsten Sinne des Wortes schmackhaft zu machen, desto mehr lehnte ich sie ab, hasste sie, wollte nichts damit zu tun haben. Weder mit den Namen noch mit der Sprache, die ich ohnehin nicht verstand, und auch nicht mit der Hautfarbe. Die Hautfarbe. Wenn ich in der weißen deutschen Gesellschaft war, vergaß ich meine Hautfarbe. Natürlich fiel ich den Menschen auf, sie fanden dieses kleine Schwarze Mädchen niedlich. Trotzdem, meine Hautfarbe war mir in diesen Momenten nicht bewusst. Wann immer meine Eltern jedoch anwesend waren, wurde aus Flori, dem Mädchen, das unter Weißen lebte, die Schwarze Olatunde Gbolajoko Oluwadamilare. Eine Transformation, gegen die ich mich von klein auf wehrte. Und meine Eltern bestimmten, wann diese stattfand, sie bestimmten es spontan, unangekündigt, willkürlich.

Bereits als kleines Kind wuchs in mir Wut. Eine Wut auf mir vorgeschriebene Dinge, die ich nicht nachvollziehen, nicht nachfühlen konnte. Dinge, die mir übergestülpt wurden, die nichts mit meiner Mama und meiner weißen deutschen Welt zu tun hatten. Ich wollte nichts zu tun haben mit einer Identität, die ich nicht kannte, die mir fremd war, die nicht meine war. Ich wollte nichts zu tun haben mit einem Land, das in meiner Vorstellung niemals so schön sein konnte wie mein Zuhause in Buxtehude.

Mein Alltag war behütet und liebevoll. Geprägt von Berechenbarkeit und Regelmäßigkeit, von Ruhe und Harmonie. Ich hatte, was ich brauchte: Mama, Oma, Freundinnen, die Gemeinschaft der Kirchengemeinde. Meine Spielsachen lagen immer dort, wo ich sie abgelegt hatte, meine Puppen, die Teddybären, die Eimer und Schaufeln für den Sandkasten. Ich war noch sehr klein, doch liebte ich diese Sachen. Sachen, die mir gehörten, Sachen, die mir niemand wegnahm. Ganz anders bei meinen Eltern. Sobald sie kamen, war es vorbei mit dem ruhigen Leben. Sie standen vor der Tür, unangekündigt, völlig überraschend, von einer Minute auf die andere. Sie rissen mich aus meiner Welt, aus der Harmonie, aus dem Paradies, aus meinem Zuhause, aus dem, was sie für mich als Zuhause ausgewählt hatten.

Mama versuchte stets, mir die Situation positiv zu erklären. Aber auch ihr fiel es schwer, mit diesen Überfällen zurechtzukommen. Sie selbst war strukturiert, klar, verlässlich. Sie war auch flexibel, aber nicht spontan, sie handelte nie willkürlich. Dennoch versuchte sie sich einzulassen auf das, was ihr begegnete. Mama und Oma hatten mich in ihr Herz geschlossen, sie versuchten sich mit meinen Eltern und ihrer Lebensweise zu arrangieren, obwohl sie ihnen genauso fremd war wie mir. Dennoch drückten sie ihnen gegenüber nie Missfallen aus, machten ihnen nie deutlich, dass ihr Verhalten oftmals störend war. Schließlich war es ihr Kind, sie hatten ein Recht, es zu sehen, sie hatten ein Recht, es jederzeit mitzunehmen, es zu sich zu holen. Außerdem hing immer die Drohung eines Pflegestellenwechsels in der Luft. Es wäre nicht das erste Mal gewesen. Das wollte Mama verhindern. Sie wollte mir Stabilität und Verlässlichkeit bieten, ein sicheres Zuhause. Sie liebte mich und sie merkte, dass auch ich sie liebte. Aus diesem Grund versuchte Mama, sich auf meine nigerianischen Eltern einzustellen, mit ihrer Art zurechtzukommen. Sie waren auch charmante, freundliche Menschen. Mein Vater war sehr humorvoll, brachte Menschen zum Lachen, besonders die Damen. Meine Mutter war ruhiger, aber nicht weniger charmant. Beide versuchten stets ihrer Dankbarkeit Ausdruck zu verleihen, indem sie Geschenke mitbrachten: ein Kaffeeservice, Stoffe, manchmal auch Lebensmittel, mit denen Mama jedoch nicht wirklich etwas anzufangen wusste. Mama und Oma versuchten, Offenheit zu zeigen, sich zu interessieren für das Land, das Leben und die Leute, für ihre Heimat. Sie benutzten die Geschenke, nähten sich aus den Stoffen Kleider und probierten die fremden Speisen. Sie wollten Brücken bauen und es gelang ihnen. Dennoch mussten sie viel lernen, die laute Art, das Temperament, den Klang der fremden Sprache, die immer dann zum Einsatz kam, wenn ihnen etwas nicht passte. Sie wollten nicht, dass Mama und Oma ihrer Diskussion folgen konnten.

Sie respektierten sich gegenseitig, aber eine Freundschaft sollte daraus nie werden. Sie siezten sich bis zum Schluss. Die fremden Gerüche von unbekannten Haarcremes und Körperlotionen störten Mama. Wenn ich von meinen Eltern zurückkam, roch auch ich fremd für sie. Egal wie spät, egal wie müde, sie wusch mich immer, sobald ich bei ihr ankam.

»Es sind doch deine Eltern!«, hieß es, wenn ich nicht mit ihnen mitgehen wollte. Ja, das waren sie, das sind sie! Aber ich lebte nicht mit ihnen, ich kannte sie kaum, ich fühlte sie nicht. Meine Eltern erwarteten jedoch, dass ihr Kind ihre Entscheidungen einfach akzeptierte. Wann immer sie vor der Tür standen, wann immer sie mich mitnahmen in eine mir fremde Welt – ich hatte es zu akzeptieren, mehr noch, es zu begrüßen. Fragen, Traurigkeit oder gar Rebellion waren verboten, egal in welchem Alter.

Ihre Spontanität und ihre Willkür sollten von nun an immer wieder unseren Alltag stören. Berechenbarkeit und Verlässlichkeit schienen in ihrem Leben keine Rolle zu spielen. Bestimmt meinten sie es nicht böse, sicherlich war es keine Absicht, es war schlicht ihr Lebensstil. Mit Sicherheit liebten sie ihr Kind. Sie liebten es eben auf ihre Weise. Eine Weise, die ich nicht begriff, die mich nicht erreichte, die ich nicht annehmen konnte, nicht annehmen wollte. Ich liebte jene Person, die die meisten Tage und Nächte bei mir war, die gut war und auf die ich mich verlassen konnte. Sich mit dieser Erkenntnis auseinanderzusetzen, muss meinen Eltern schwergefallen sein, vielleicht wollten und konnten sie sich damit nicht auseinandersetzen. Ein Kind hat seine Eltern zu lieben, nur diese, ganz gleich, wo sie sich aufhielten.

Sie zahlten Pflegegeld, selbstverständlich, schließlich handelte es sich um eine Abmachung und nicht um einen Freundschaftsdienst. Wie gesagt, eine Freundschaft entwickelte sich zwischen ihnen und Mama nie. Anfänglich zahlten sie regelmäßig, dann immer seltener. Mama brauchte das Geld, sie musste ja für mich aufkommen. Zum Glück konnte sie das Meiste selbst nähen und benötigte zumindest für Kleidung kaum Mittel. Dennoch, die Erledigung ihrer Aufträge als Schneiderin musste sie weitestgehend in die Abend- und Nachtstunden verlegen, wenn ich schlief. Sie musste ihr Leben komplett umgestalten. Aber es gefiel ihr, für dieses Kind sorgen zu dürfen und Leben in der, wenn auch sehr kleinen, Wohnung zu haben. Ich wurde ihre Tochter und das blieb auch meinen Eltern nicht verborgen. Sie wussten, dass Mama mit der Zeit sehr an mir hing, mich liebgewonnen und ich bei ihr und ihren Verwandten ein Zuhause gefunden hatte. Neben der Oma hatte ich noch eine Tante, Mamas Schwester. Ich hatte einen Onkel, Mamas Schwager, und zwei Cousins und eine Cousine, Mamas Nichte und Neffen. Sie waren fast zehn Jahre älter als ich. Das gefiel mir, denn wenn sie uns besuchten, beschäftigten sie sich mit mir. Schon früh entdeckte ich die Liebe zum Friseurberuf, also musste der ältere Cousin herhalten, ich wusch und kämmte ihm die Haare. Er war sehr geduldig und froh, dass die Schere außer Reichweite blieb. Ich war angekommen in der neuen Familie. Dass ich anders aussah und eigentlich ein fremdes Kind war, störte meine neue Familie nicht. Sie sahen nur ein neues Mitglied, einen kleinen Menschen, ein Mädchen – alles Weitere war und ist für sie bis heute nicht wichtig.

Es störte auch die Kinder in der Umgebung nicht, mit denen ich spielte, ebenso wenig die Menschen in der Kirchengemeinde. Ich war sichtbar. Ich hatte eine dunkle Hautfarbe, die nach und nach zu verblassen schien – zumindest in den Köpfen der Menschen, die gut zu mir waren, gut zu uns.

Natürlich wurde Mama nach meiner Herkunft gefragt, nach den Eltern, nach dem Grund, warum sie mich zu ihr gegeben hatten. Fragen, die jedoch auch gestellt worden wären, wenn dieses Pflegekind weiß gewesen wäre.

Dass ich Mama »Mama« nannte, war nun nicht mehr zu verhindern. So brachte sie mir schließlich bei, dass meine Mutter »Mutti« und mein Vater »Papi« seien. Sie hoffte damit, jeglicher Irritation, jeglichem Ärger, jeglicher Enttäuschung vorzubeugen und alle zufrieden zu stellen.

Schließlich blieb das Pflegegeld ganz aus. Meine Eltern konnten nicht mehr zahlen, wie sie sagten, und Mama stand vor der Wahl: Kein Geld – keine Flori; oder kein Geld – und dennoch Flori. Ob meine Eltern es darauf anlegten, weil sie wussten, dass für meine Mama das Finanzielle nicht im Vordergrund stand? Ich weiß es nicht. Klar war nur, Pflegegeld gab es nun keines mehr, dennoch blieb die Wohnung in Buxtehude mein Zuhause.

Ich war glücklich mit dem, was ich besaß – Puppen jeder Größe, jeden Geschlechts und jeder Farbe, ein Puppenhaus, das jährlich wuchs, einen Kaufmannsladen, eine Spielküche, jede Menge anderer Spielsachen und einen Puppenwagen. Da ich nicht in den Kindergarten ging, hatte ich nicht viele Freundinnen, aber mit den wenigen machte das Spielen meistens Spaß. Mit den Mädchen aus der Nachbarschaft spielte ich entweder bei uns mit meinen Sachen oder bei ihnen. Wir liebten die klassischen Spiele wie Vater, Mutter, Kind. Wir gingen »einkaufen«, hatten Spielgeld in der Kasse des kleinen Kaufmannsladens. Wurden wir von unseren Mamas nach der Spielzeit abgeholt, kauften sie uns auch einmal etwas ab und bezahlten mit echtem Geld. Wie glücklich waren wir dann, wenn wir die zehn Pfennig in die Spardose stecken konnten. Bei warmem Wetter spielten wir draußen in den Gärten. Buken im Sandkasten diverse Kuchen, hatten mit Sand und Wasser einen Heidenspaß und waren am Ende des Tages mit Schlaggermatsch, wie wir das Gemisch aus Sand und Wasser nannten, bedeckt. Wir schaukelten und wippten, wir hatten eine unbeschwerte Zeit. Natürlich gab es ab und an auch mal Streit. Aber schon als Kind war mir Streit zuwider, zog ich mich lieber zurück. Wortlos packte ich mein Eimerchen mit Förmchen und Schaufeln und was man sonst noch so in einem Sandkasten benötigte und ging hoch zu meiner Mama. Sie beschäftigte sich dann mit mir, setzte sich zu mir auf den Teppich, holte ein Puzzle oder ein Malbuch heraus oder legte eine der vielen Schallplatten auf, die sie inzwischen für mich gekauft hatte. Huibuh, das Schlossgespenst war mein absoluter Favorit.

Ich liebte es, auf meinem Puppenherd zu kochen. Nein, es war keine Attrappe, ich kochte mit kleinen Brennspirituswürfeln, kleinen Töpfen und Pfännchen. Natürlich unter strengster Überwachung meiner Mama. Anfänglich half sie mir beim Kochen, aber bereits mit ungefähr drei Jahren wollte ich selbst kochen. Mama und Oma waren tapfer, sie aßen alles, was ich kochte. Und fand einmal eine Besprechung der Kirchengemeinde bei uns statt, die der Pfarrer, der mich damals vermittelt hatte, leitete, kam er in den Genuss meiner Buchstabennudelsuppe, mit einer bekannten Gewürzsoße abgeschmeckt und mit roter Grütze als Dessert. Er was ebenfalls tapfer und aß alles auf. Nicht so wie andere, die nur so taten, als würden sie essen und zudem glaubten, ich würde es nicht merken.

Mein Zuhause strahlte Freude aus und wurde ergänzt durch den Kontakt zu den Menschen in der Kirchengemeinde, die so etwas wie eine zweite Heimat für mich war. Die Kinderstunde fand meist dienstags statt, der Kindergottesdienst an Sonntagen, der Erwachsenengottesdienst ebenfalls an Sonntagen, zu dem mich Mama mitnahm. Wurde es mir in den Erwachsenengottesdiensten zu langweilig, durfte ich malen, aber ich war stets dabei, wuchs mit den Liedern, den Geschichten, den Gebeten und dem Glauben an Gott und Jesus auf. Wie die beiden aussahen, wo sie genau lebten und was sie machten, war mir natürlich unerklärlich, aber ich liebte Geschichten. Die Geschichten aus der Bibel waren für mich nicht anders als die aus dem Märchenbuch der Gebrüder Grimm. Ich lernte die Weihnachtsgeschichte anhand einer großen Krippe kennen, die Mama bei uns im Wohnzimmer zu Beginn jeder Adventszeit aufbaute. Mit kindlicher Freude ließ ich dann Maria und Josef vier Wochen lang ihren Weg zur Krippe wandern, bis an Heiligabend Baby Jesus in der Futterkrippe sein Bettchen fand. Es hieß, ich hätte mich vehement geweigert, diesen armen Kleinen nackt in die Futterkrippe zu legen. Das hatte zur Folge, dass Mama ihn anziehen musste. An Heiligabend gingen wir in die Kirche, anschließend kam der Weihnachtsmann und brachte die Geschenke. Eine ältere Nachbarin, die uns oft besuchte und sich nun hinter der Weihnachtsmannmaske befand, erkannte ich lange nicht. Einmal soll mir wohl ihre Stimme bekannt vorgekommen sein. Im Jahr darauf steckte sie sich deshalb eine Walnuss in den Mund. Dass sie sich an dieser fast verschluckt hätte, hinderte sie nicht daran, dieses Risiko Flori zuliebe auch in den nächsten Jahren in Kauf zu nehmen.

Der kirchliche Jahreslauf bestimmte auch unseren Alltag. Alle Feste wurden gefeiert, die Wohnung entsprechend geschmückt, die Kirche pflichtbewusst besucht. Aus der Sicht eines Kindes gab es stets etwas, worauf ich mich freuen konnte. An Freitagen wurde es in Gedenken an Karfreitag vermieden, spitze Gegenstände zu verwenden. Natürlich kam auch nur Fisch auf den Tisch. Für meine Eltern stand meine Einbeziehung in die evangelische Kirche nicht im Widerzuspruch zu ihrem baptistischen Bekenntnis. Dieses basierte schließlich ebenfalls auf dem evangelischen Glauben.

Mist, die versteht mich ja!

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