Читать книгу Mist, die versteht mich ja! - Florence Brokowski-Shekete - Страница 12
Das überlebe ich hier nicht!
ОглавлениеWir flogen zunächst von Hamburg nach Frankfurt am Main. Von dort aus ging es weiter nach Lagos, Nigeria. Während des siebenstündigen Fluges wirbelten mir die Gedanken nur so durch den Kopf. Von dem neuen Leben, das mich erwartete, hatte ich keinerlei Vorstellung. Meine gewohnte Umgebung für immer zu verlassen, schien mir unvorstellbar.
Das Flugzeug landete, die schwere Tür wurde geöffnet. Ich sehe mich neben meiner Mutter zum Ausgang gehen. Es war eher ein Schieben, denn jeder wollte der Erste sein. Die Flugbegleiterinnen verabschiedeten sich freundlich von jedem Passagier – auf Deutsch. Das sollte vorerst mein letzter Kontakt mit Deutschen gewesen sein.
Wir standen an der Gangway, ich prallte gegen eine Wand aus Hitze, Feuchtigkeit, undefinierbaren Gerüchen und undurchdringlichem Lärm. Es war Ende Februar, es war kalt, es war Winter – zuhause. Nicht jedoch hier. Ich hatte eine Strumpfhose und einen Mantel an, schließlich sollte ich nicht frieren. Mama hatte gesagt, ich solle den Mantel ausziehen, wenn wir ankämen, es würde heiß sein. Ich tat, was Mama mir gesagt hatte. Ihre Anleitungen gaben mir ein kleines Stück Sicherheit in einer für mich vollkommen neuen Welt, einer Welt, die ich nicht kannte, in der ich nicht sein wollte.
Da stand ich nun neben meiner Mutter, einer Frau, die mir gefühlsmäßig fremd war. Ich stand da mit meinen beiden Puppen, meinem Teddy, meiner Tragetasche und meinem Geschenk für meine Schwester. Ich holte tief Luft, aber ich bekam keine Luft, konnte nicht durchatmen. Diese Wand – dieses Gefühl. »Das überlebe ich hier nicht«, höre ich mich noch heute sagen, als wäre es gestern gewesen.
Und da standen sie, uns gegenüber, eine riesige Menschenmenge, schreiend, weinend, brüllend. Damals wunderte ich mich, warum sich alle anschrien. Es erinnerte mich ein wenig daran, wenn sie mich zuhause abholen kamen. Freuten sie sich nicht über das Wiedersehen? Warum gab der alte Mann meinem Vater eine Ohrfeige? Ich konnte es mir nicht erklären, und es gab auch niemanden, der es mir erklärte. Warum legte sich mein Vater vor diesen alten Mann flach auf den Boden? Und meine Mutter, warum kniete sie vor diesem alten Mann nieder? Wir Kinder wurden gedrückt, von einer Person zur nächsten gereicht, man redete auf uns ein, gestikulierte heftig. Ich verstand nichts.
Ich fragte meinen Vater, welches der Mädchen meine Schwester sei. Er deutete auf ein Mädchen, das etwas größer war als ich. Ob wir uns ähnlich sahen, konnte ich nicht erkennen. Mein Vater sagte etwas zu ihr. Ich schaute sie an und begrüßte sie mit der Feststellung, dass sie meine Schwester sei. Natürlich verstand sie kein Wort, schließlich sprach ich Deutsch und sie Yoruba und Englisch. Wir konnten uns nicht verständigen, aber nun hatte ich meine Schwester. Das war aufregend. Trotzdem wollte ich jetzt am liebsten nach Hause. Nach Deutschland.
Man hatte uns mit dem Auto abgeholt. Bis dahin wusste ich nicht, dass so viele Menschen und so viel Gepäck in nur ein einziges Auto passten. Wir Kinder wurden von Erwachsenen auf den Schoß genommen. Die Fahrt war lang und holprig, vorbei an unglaublich viel Neuem, Unbekanntem, an dem, was nun meine Heimat werden sollte. Das alles aufzunehmen und zu begreifen war nicht einfach. Und inmitten dieser vielen Menschen, diesem ganzen Fremden, fühlte ich mich furchtbar allein, einsam und so schrecklich weit weg von meinem Zuhause und meiner Mama. Ich fragte mich, was sie jetzt wohl machte. Ich hätte gerne angerufen, ihr alles erzählt, was ich bisher gesehen hatte. Im Flugzeug hatte ich ihr bereits einen Brief geschrieben, den ich einer Flugbegleiterin gab, mit der Bitte, ihn für mich in Deutschland in den Briefkasten zu werfen. Ich vermisste meine Mama, ich vermisste mein Zuhause, meine gewohnte Umgebung. Und doch musste ich so tun, als ob nichts wäre, Tränen waren nicht erlaubt, nicht hier.
Zuhause in Deutschland lebten wir in einer kleinen Wohnung in einem Achtfamilienhaus. Die Wohnung bestand aus zwei kleinen Zimmern, einem Flur, einem kleinen Badezimmer und einer Kochnische. Im Badezimmer stand eine Badewanne, die viel zu groß war für diesen Raum. Wir benutzten die Badewanne so gut wie nie, denn um Ablageplatz zu schaffen, hatten wir eine große Platte daraufgelegt. Die Toilette war ebenfalls in diesem Bad. Nein, eine Dusche gab es nicht. Jeden Morgen holten wir uns die Waschutensilien aus dem Badezimmer in das vordere Zimmer, stellten sie auf den großen Tisch und wuschen uns in einer Schüssel. Heute kaum noch vorstellbar, damals jedoch völlig normal, für uns zumindest.
Mama liebte die Farbe Lila und so war fast alles in dieser Farbe gehalten, auch im Badezimmer. Von den Wänden bis zum Zahnputzbecher, alles war lila. Jeder Winkel dieser kleinen Wohnung war sinnvoll ausgenutzt. Alles, was zum Leben notwendig war, hatte darin Platz gefunden. Selbst für unzähligen Nippes und Kleinkram war noch Raum. Wo immer möglich, gab es Vorhänge dort, wo einmal Türen gewesen waren, um keinen unnötigen Platz zu vergeuden. Ein gesondertes Schlafzimmer gab es nicht. Der Raum mit der Kochnische war alles in einem: Wohn- und Schlafzimmer, Waschgelegenheit und Küche sowie ihre Nähstube.
Mama legte großen Wert auf Ordnung und Sauberkeit. Jeden Samstag war Hausputz angesagt und natürlich musste ich helfen. »Richtig« zu helfen war mir auch immer wichtig gewesen, egal in welchem Alter. Natürlich wünschten wir uns manchmal eine größere Wohnung mit einem richtigen Bad und einer Dusche – ein Königreich für eine Dusche -, aber dafür hatte Mama nicht das Geld. Dennoch liebte ich mein Zuhause, es strahlte Wärme, Gemütlichkeit und Geborgenheit aus. Das Gefühl, dass es mir an irgendetwas mangelte, hatte ich nie.
Die ersten Tage in Lagos verbrachten wir bei Verwandten in einem großen Haus. Es war kein Haus, wie ich es von zuhause her kannte. Das Haus hatte mehrere Stockwerke, auf denen jeweils ein langer Flug verlief, von dem die einzelnen Zimmer abgingen. Es war keine Villa, es ähnelte eher einer sehr schlichten Jugendherberge. In den Zimmern befanden sich Betten, in denen viele Menschen gleichzeitig schliefen. Manche, meistens die Kinder, schliefen auf Bastmatten auf dem Boden. Aber immerhin war es keine Wellblech- oder Lehmhütte, wie ich sie aus dem Fernsehen kannte.
Das Bad, mein Gott, ich traute meinen Augen nicht, es war kein Bad. Schon damals wusste ich mit meinen noch nicht mal neun Jahren, dass das, was ich dort sah, noch nicht einmal eine Nasszelle war. Es war eine Ecke im Hof, in die sich derjenige, der sich waschen wollte, einen Eimer Wasser mitnahm. Waschlappen? Fehlanzeige! Wobei, ich hatte Waschlappen in meinem Gepäck. Die wollte ich verwenden. Alle anderen benutzten ein bastähnliches Knäuel mit Seife. Sicherlich ein gutes Peeling. Aber von diesem Bastknäuel hatte Mama mir gegenüber nie gesprochen, ich kannte so etwas nicht, also war es auch nicht richtig für mich. Ich sah, wie die Kinder abgeschrubbt wurden, die Erwachsenen befestigten zum Teil einen Vorhang vor diese Ecke, sodass man ihnen nicht zusehen konnte.
Dann die Toiletten. Ein WC mit Spülvorrichtung? Wieder Fehlanzeige. Toilettenpapier? Wo bitte war das Toilettenpapier? Es gab keines. Es gab stattdessen einen Eimer mit Wasser. Was bitte sollte ich in der Toilette mit einem Eimer Wasser? Und warum war in dem Wasser eine Art Schöpfbecher? Ich lernte schnell, dass der Eimer mit dem Wasser und dem Schöpfbecher das Toilettenpapier ersetzte. Mein Gott, könnte ich das alles nur Mama erzählen. Wie vermisste ich unser kleines Bad. Aber ich passte mich auch hier schnell an, denn wenn eine Fähigkeit bei mir besonders ausgeprägt war, dann die, mich schnell anpassen zu können.
Zuhause in Deutschland hatten wir einen Garten hinter dem Haus, ein kleines Paradies, das Mama wunderbar pflegte. Sie hatte Blumen in kleine Beete gepflanzt, kleine Platten ebneten den Weg, es gab einen klitzekleinen Teich, eher eine Vogeltränke, und Mama liebte Gartenzwerge, Massen an Gartenzwergen. Große, kleine, dicke, dünne, mit ernsten Gesichtern und mit lachenden, aus Hartgummi oder Porzellan. Ihnen leisteten Tiere Gesellschaft: Hasen, Enten, Vögel, auch aus Hartgummi oder Porzellan. Jedes Frühjahr wurden sie aus dem Keller geholt und, nachdem der Garten aus seinem Winterschlaf erwacht war, an ihre gewohnten Plätze gestellt. Im Herbst war es dann meine Aufgabe, die kleinen Figuren mit Bürsten zu säubern, abzutrocknen und sie auf ihren Winterschlaf im Keller vorzubereiten.
Bei den ersten warmen Sonnenstrahlen wurden auch die Gartenmöbel herausgeholt: Tisch, Stühle und eine Hollywoodschaukel. Mama liebte diese Hollywoodschaukel. Abgegrenzt wurde das kleine Reich von den Nachbargärten mit einem Zaun, am Eingang gab es eine kleine Pforte. Über die Gartenzäune hinweg wurde geplaudert, gelacht, getratscht, gestritten – es war eben eine typische Nachbarschaft.
Manchmal veranstalteten die Erwachsenen am Wochenende abends ein gemeinsames Hoffest, dann wurden alle Tische zusammengeschoben, Limonaden herausgeholt, Salzstangen und Erdnussflips hingestellt, die Grills angeworfen und Lampions aufgehängt. Wir Kinder, die schon lange im Bett lagen, wurden geweckt und durften dazukommen. Das war immer eine herrliche Überraschung. Ich liebte diese Abende. Überhaupt, der Garten, dieses Idyll auf wenigen Quadratmetern. So oft wie möglich haben wir ihn genossen, dort gegessen, gespielt, die Hausaufgaben gemacht, Mama hat genäht. Es war für uns ein Urlaubsersatz, denn für Urlaub hatte Mama kein Geld.
So viel wie möglich wollte ich von meiner vertrauten Welt in die neue Welt mitnehmen. Das große Haus hatte einen Balkon. Es war warm, sehr warm, ich wollte den Balkon nutzen. Ein paar Tage nach unserer Ankunft machte ich es mir mit meinem fünf Jahre jüngeren Bruder auf diesem Balkon gemütlich. Wir wollten dort frühstücken. Ich hatte unsere Teller mit Weißbrotscheiben, die bestrichen waren mit einer gelben, salzigen Margarine und einer sehr süßen Orangenmarmelade, mit hinausgenommen. Dazu gab es süßen heißen Tee mit Milch. Eine alte Frau sah uns, kam zu uns und redete wild gestikulierend auf uns ein. Ich verstand kein Wort. Was wollte sie nur von mir? Meine Eltern waren nicht da, niemand sprach meine Sprache. Nur eines kapierte ich schnell, sich unter freiem Himmel zu waschen, war okay, unter freiem Himmel zu frühstücken offensichtlich nicht. Ich fing an zu weinen und wollte einfach nur nach Hause. Von meinem Vater erfuhr ich dann, dass es die Ameisen waren, die ein Frühstück auf dem Balkon unmöglich machten. Später erfuhr ich auch, dass die Verwandten dieses verweichlichte, ständig heulende Kind, das auf dem Balkon frühstücken wollte, befremdlich, um nicht zu sagen, komisch fanden.
Die ersten Tage und Wochen an diesem neuen Ort waren anstrengend und traurig. Ich vermisste meine Mama sehr und stieß täglich auf neue Herausforderungen, neue Verwandte, neues Essen, neue Ansprüche, die an mich herangetragen wurden.
Mama hatte mir Höflichkeit und Respekt beigebracht. Sie hatte mich gelehrt, die rechte Hand zu geben, wenn es galt, jemanden zu begrüßen, und vielleicht sogar einen kleinen Knicks zu machen, so, wie es sich damals für kleine Mädchen gehörte. Schnell musste ich hier lernen, dass diese Art der Höflichkeit nicht ausreichte und auch kein Zeichen von Respekt war. Hier galten andere Regeln. Ich musste eine neue Art von Knicks lernen. Mädchen und Frauen mussten hier umso tiefer knicksen, je höher die Respektsperson, und zwar so weit, dass sie unter Umständen sogar auf dem Boden knieten. Begrüßten Männer eine Respektsperson, hatten sie mit der rechten Hand den Boden zu berühren, je höher die Respektsperson, je intensiver war die Berührung mit dem Boden, soweit, dass sie sich flach auf ihn legten, egal, ob sauber oder schmutzig.
Ich musste lernen, dass Respektspersonen, und das waren alle, die älter waren als man selbst, in der Stammessprache Yoruba mit der Höflichkeitsform »Sie« angesprochen wurden.
Ich musste lernen, dass es kein Zeichen von Armut war, mit den Fingern zu essen, dass man sich diese vorher in einer Schüssel wusch, dass mehrere Personen von einem Teller aßen. Ich musste lernen, eine Kugel aus Ebà mit den Fingern so zu formen, dass ein wenig Soße darin aufgenommen werden konnte. Ebà wurde aus Gari, einem Maniokmehl hergestellt. Ich musste lernen, dieses Essen so zum Mund zu führen, dass nicht alles herunterfiel. Ich musste lernen, dass ich nicht zu warten brauchte, bis alle Familienmitglieder sich zum Essen an einem großen Tisch versammelt hatten und man gemeinsam aß, sondern oftmals die Erwachsenen getrennt von den Kindern oder alle verstreut irgendwo. Mir kam es chaotisch vor, weil ich es nicht kannte und anders gewohnt war.
Ich musste lernen, dass die Kerzen, die überall herumlagen, nicht zu Dekorationszwecken gedacht waren. Bei Stromausfall – was oft und unerwartet geschah – waren sie die einzige Lichtquelle. Generatoren gab es in wohlhabenden Haushalten und wohl auch in öffentlichen Gebäuden, aber nicht da, wo wir wohnten. Dass elektrische Geräte durch die häufigen Stromunterbrechungen kaputtgingen, war leider eine Folge davon.
Zwar lernte ich all diese Dinge, aber an sie gewöhnen konnte ich mich nie.
Eine meiner unzähligen Cousinen wollte, dass ich ihr die Haare flechte. Keine kleinen Rattenschwänze, die hätte ich ja noch hinbekommen. In der Grundschule hatten wir flechten gelernt. Es sollten sogenannte Cornrows sein. Ich wusste weder, was Cornrows waren, geschweige denn, wie man diese Frisur erstellt. Meine Cousine, mit der eine Verständigung nur über meinen Vater möglich war, ließ sich zum Schluss entnervt die Haare von jemand anderem frisieren, sehr verwundert, warum ich dazu nicht in der Lage war. War doch jedes Mädchen hier in der Lage, Haare auf ganz unterschiedliche Art und Weise zu flechten. Wieder war dieses deutsche Mädchen befremdlich und einfach komisch.
Ich passte da schlichtweg nicht hin, weder in das Land noch in die Familie. Nichts, aber auch gar nichts, erinnerte mich an zuhause in Deutschland. Wobei, doch – da waren die Sachen, die mir meine Mama mitgegeben hatte. Meine Puppen, ein weißer Teddybär und sehr viel Kleidung, sodass meine Eltern erstmal nichts für mich anschaffen mussten. All diese Dinge waren für mich ein Stück Heimat und halfen mir dabei, mein Heimweh zu ertragen. Ob meine nigerianischen Verwandten verstanden, warum ich derart unter Heimweh litt? Wahrscheinlich eher nicht. Denn schließlich waren meine Eltern ja da. Heimweh nach einer anderen Frau zu haben, fanden sie sicherlich seltsam. Ich pflegte meine Sachen, so wie es mir Mama beigebracht hatte und achtete sehr auf alles.
Meine Mutter legte großen Wert darauf, bei allen gut anzukommen. Als diejenige, die gerade aus Europa, aus Deutschland, zurückgekommen war. Als diejenige, die das gelobte Land gerade verlassen hatte. Als diejenige, der man die Statussymbole anzusehen hatte. Sie machte Geschenke und bekam viel Anerkennung dafür. Anerkennung war ihr wichtig, das war stets zu spüren. Und sie tat sehr viel dafür, um Anerkennung zu bekommen. So nahm sie eines Morgens eines meiner schönsten Kleider, das mir Mama genäht hatte, und verschenkte es an die Tochter ihrer Freundin. Ich war entsetzt. Wie konnte sie das tun? Es war doch mein Kleid, es gehörte mir, es war von Mama. Sie hatte es einfach genommen, ohne mich zu fragen, ob das für mich in Ordnung wäre. Natürlich wäre es für mich keineswegs in Ordnung gewesen. Ich fühlte mich ignoriert. Nein, ich fühlte mich nicht wahrgenommen. Ignorieren kann man nur etwas, das man wahrnimmt und bewusst nicht sehen will.
Rebellion war nicht erlaubt, nicht in einer Gesellschaft, in der Kinderreichtum zwar großgeschrieben, aber Kinder nicht wie ein Gut behandelt wurden, so kam es mir zumindest vor. Ich erinnere mich nicht ganz genau, aber ich glaube, dass ich sie gefragt hatte, was sie mit dem Kleid vorhatte, obwohl ich bereits mitbekommen hatte, dass sie es verschenken wollte. An ihre Reaktion erinnere ich mich jedoch genau: »Es macht dir doch nichts aus, oder?« An meine Antwort erinnere ich mich ebenfalls nicht mehr, nur an das Gefühl von Hilflosigkeit, unglaublicher Wut und Traurigkeit. Mama hatte mir stets beigebracht zu teilen. Es war ihr wichtig, dass ich als Einzelkind nicht den Klischees eines verwöhnten, egoistischen Kindes entsprach, so sagte sie immer. Sie hat mir jedoch auch beigebracht, was mein und dein ist, sowie das Eigentum anderer stets zu achten. Übergriffiges Verhalten war mir deshalb von Kindesbeinen an fremd. Die Entscheidung meiner Mutter, mein Kleid zu verschenken, empfand ich als übergriffig. Ich sah sie an und empfand für das, was sie machte, eine große Wut. Zeigen durfte ich sie jedoch nicht.
Ähnlich erging es mir mit meinem weißen, kleinen Teddybären, auf den ich sehr achtete. Meine Mutter war einige Zeit später der Meinung, diesen Teddybären hätte sie von einer Freundin für einen meiner Brüder erhalten. Dass das nicht stimmte, wusste ich und sie hätte es auch wissen müssen. Also schrieb ich meinen Namen auf seine Fußsohlen, um sicherzustellen, dass es mein Teddybär war. Meine Mutter wurde daraufhin sehr zornig, gehörte der Teddybär ihrer Meinung nach doch einem ihrer Söhne, ihren Prinzen. Ich hatte das Gefühl, sie zog meine Brüder mir vor. Das berührte mich jedoch wenig. Eifersüchtig war ich nicht, denn ich hatte meine eigene Mama und meine eigene Familie, die mich liebte. Aber mein Teddy interessierte mich. Ich bin mir nicht sicher, wie die Geschichte mit dem Teddybären ausging. Eins kann ich aber mit Bestimmtheit sagen: Empathie gab es keine für mich, ich fühlte mich allein, hilflos und war unglaublich wütend.
Meine Einsamkeit in diesem Land wuchs. Meine Brüder schienen sich gut einzuleben. Der fünf Jahre Jüngere kam in den Kindergarten und lernte die Sprache. Für den Kleinen, der erst kurz vor der Ausreise geboren worden war, stellte die Eingewöhnung ohnehin kein Problem dar. Meine Schwester und ich versuchten uns zu verständigen, Gemeinsamkeiten zu entdecken, was uns aber nur ansatzweise gelang.
Da ich zunächst die Sprache nicht verstand, hielt ich die lauten und emotionsreichen Unterhaltungen für Streitereien. Später lernte ich, dass es sich einfach nur um andere Temperamente handelte. Doch nicht nur die Temperamente, sondern auch die Erziehungsmethoden waren anders als ich sie aus Deutschland kannte, drastischer. Meine Brüder bekamen davon nichts zu spüren, zumindest nicht in der Zeit, in der ich mit ihnen zusammenlebte. Meine Schwester und Cousinen mussten sie jedoch über sich ergehen lassen. Ich selbst blieb meistens verschont. Nun könnte man vermuten, dass das daran lag, weil ich ein so gut erzogenes deutsches Mädchen war, brav und folgsam. Zwar war ich tatsächlich nicht aufsässig – was aber, soweit ich das beurteilen konnte, auch meine Schwester und meinen Cousinen nicht waren. Bei mir lag der Fall einfach anders. Drastische Strafen waren nicht nötig. Meine Eltern kannten eine bessere Methode. Wann immer ihnen etwas an meinem Verhalten nicht passte, hieß es kurzerhand: »Dann darfst du jetzt deiner Mama nicht mehr schreiben.« Auch bekam ich jene Briefe nicht mehr ausgehändigt, die sie mir aus Deutschland schickte und die meine einzige Verbindung zu ihr waren. Ja, ich war gut erzogen und versuchte mich auch stets so zu verhalten, wie es von mir erwartet wurde. Dennoch fanden meine Eltern immer wieder Gelegenheiten, ihre Macht zu demonstrieren. Meistens spontan, unangekündigt, willkürlich. Das alte Muster eben.
Ich glitt immer weiter in ein Tal der Einsamkeit, einen Weg heraus sah ich nicht. Die Hoffnung, wieder nach Hause zu kommen, war verloren. Ich war und blieb das Einzelkind inmitten einer riesigen Familie, und ich hörte auf zu sprechen.