Читать книгу Feuermal - Florian Bellows - Страница 11
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ОглавлениеBella kommt inmitten einer weiten Ebene zu sich. Um sie herum blühen unzählige Bäume in den schillerndsten Farben. Sie verströmen ein Aroma, das Bella an Vanille, an gebrannte Mandeln und Milcheis denken lässt. Der Himmel besteht aus einer Gold- und Silberlegierung und kupferfarbenen Wolken. Die ersten Sonnenstrahlen eines neuen Tages streicheln Bellas Wangen.
„Hier bin ich schon lange nicht mehr gewesen“, sagt Bella gedankenverloren.
Sie macht ein paar Schritte durch das hüfthohe Gras. Kühler Tau benetzt ihr weißes Kleid und gibt ihrer durstigen Haut zu trinken. Es ist ein angenehmes Gefühl.
»Ob er nach all den Jahren immer noch hier ist?«, fragt sich Bella.
Sie ist sich der harten Realität bewusst – doch an diesem Ort haben Raum und Zeit außerhalb ihrer Gedanken keine Bedeutung. Bella hat sich in ihr Schneckenhaus zurückgezogen. In das heilige Sanktuarium, das sie sich nach dem Tod ihres Bruders aufgebaut hat, um sich vor der grausamen neuen Ordnung in ihrem Leben zu schützen. Felix erreicht sie hier nicht.
»Alles ist noch wie damals«, stellt Bella fest. »Die Welt draußen hat sich weiterbewegt, aber hier ist alles gleichgeblieben.«
Bella macht sich an den Aufstieg hoch zu einem kleinen Hügel. Dort oben steht ein alter Baum, der Stamm schwülstig, die Rinde dick und rissig, die Blätter geformt wie Speerspitzen und störrisch wie altes Leder. Es ist ein Olivenbaum. Er ist einem Baum im Rom nachempfunden, von dem Bellas Großmutter Selena ihr so oft erzählt hat.
Nachdem bei David das Glioblastom festgestellt worden war, hat Bella einen ganzen Sommer auf dem Hof ihrer Oma verbracht. Ihre Eltern haben sich währenddessen um Behördenkram und Davids Behandlung gekümmert: Besuche bei zig verschiedenen Fachärzten, Termine bei der Versicherung und ihrer Psychologin. Selena Landgraf hatte sich ihrer Enkelin in dieser schwierigen Zeit angenommen. Das hat die beiden eng zusammengeschweißt. Selena ist – vor allem in Bellas Jugend – zu ihrem großen Vorbild avanciert. Bella hatte sie damals schon – trotz ihrer beginnenden Demenz – als einen Menschen wahrgenommen, der seiner Zeit voraus war. Selena ist die erste Frau in Bellas Familie, die studiert hat. Auch, wenn ihr Kunst- und Architekturstudium in Rom ein jähes Ende genommen hat. Sie war nach Deutschland zurückgekehrt, um ihren Vater zu unterstützen, nachdem es auf seinem Hof einen Tuberkulose-Ausbruch gab und die Hälfte seiner Rinder verendete. Selena war damals schwanger, hat später dann einen anderen Mann geheiratet. Bellas Mutter Astrid und ihr Onkel Matteo stammen nicht vom selben Erzeuger.
Zeit ihres Lebens ist Selena in das fremde Land und ihre Leute verliebt gewesen.
„Ärgere niemals einen Italiener!“, hat sie oft bei einer Tasse Espresso gesagt, und: „Wenn du einen Italiener als Freund hast, hast du einen Freund fürs Leben.“
Bei Bella eingebrannt haben sich Erzählungen über ein schattiges Stückchen Erde unter der Krone eines tausendjährigen Olivenbaums auf dem Palatin – einem der sieben Hügel Roms. Selena hatte dort oft gemalt und Menschen und Architektur studiert. Bellas Onkel Matteo hat einige der Bilder seiner Mutter bei sich zuhause hängen. Das Gemälde eines tieforangenen Sonnenuntergangs über dem Circus Maximus ist eines von Bellas Favoriten. Die Sonne auf dem Bild scheint in derselben Farbe wie Bellas hellstbraune Augen.
Das Wonnegefühl, das ihre Großmutter Bella beim Erzählen ihrer Geschichten vermittelt hat, hat sich Bella bis ins Erwachsenenalter bewahrt.
Diesen Ort hat Bella entstehen lassen, bevor Felix und die anderen erschienen sind. Bis zu ihrem Verschwinden hatte sie diesen Ort oft und regelmäßig besucht, um sich ihrer Folter zu entziehen. Vom höchsten Punkt ihres Hügels aus, sieht Bella nun, dass das Tal zu ihren Füßen von dickem Nebel eingehüllt ist. Er zieht sich hoch bis in den Himmel. Die Sonne dahinter erscheint als silberweiße Scheibe aus Licht.
Sie nähert sich dem Olivenbaum und legt eine Hand auf seinen Stamm. Die Rinde unter ihren Fingern fühlt sich pelzig an. Wie alles hier, ist auch dieser Baum im Grunde genommen nichts weiter als eine Sinnestäuschung.
„Wieso bin ich hier? Hast du mich gerufen?“
Ohne Vorwarnung geht der Baum in Flammen auf. Seine Hitze versengt sie nicht. Was in der Asche zurückbleibt, ist ein Gegenstand, den sie auf Anhieb wiedererkennt, obwohl sie ihn das letzte Mal vor zehn Jahren gesehen hat. Es ist der Schlafzimmerspiegel ihrer Großmutter. Bella berührt das Glas. Es glüht noch. Im Spiegel sieht Bella ein kleines Mädchen. Die strohblonden Haare wild durcheinander, die Augen verheult.
Erinnerungen brechen über Bella herein.
Es ist die schlimmste Nacht ihres Lebens. Ihre Eltern sind den ganzen Tag bei David im Krankenhaus gewesen, Bella bei ihrer Großmutter. Max und Astrid sind abends noch vorbeigekommen, um ihrer Tochter zumindest gute Nacht zu sagen und haben dabei Briefe in Selenas Kühlschrank entdeckt. Ihre Eltern haben sich auf dem Weg zu ihrem Auto fürchterlich gestritten. Das hat Bella vom Fenster im Wohnzimmer aus gesehen.
Bella war wieder einmal mit kaltem Schweiß am gesamten Körper aufgewacht. Ihre Großmutter hatte auf dem Schaukelstuhl neben ihrem Bett geschlafen, das große Märchenbuch noch in den Händen. In ihrem Traum hatte Felix Bella mit scharfen Krallen aufgerissen und ausgeweidet wie ein Huhn. Bevor sie aufgewacht war, hat er sie mit ihren Gedärmen gewürgt, bis sie keine Luft mehr bekommen hat. Bella war aus dem Bett gehüpft, um aus dem Schlafzimmer ihrer Mutter ihren größten Schatz zu holen. Einen gelben Stoffhasen mit dem originellen Namen „Hasi“. Zum Einschlafen hatte sie ihn nicht gebraucht, deswegen lag er noch im Koffer, den Astrid am Morgen hastig gepackt hatte. Der Koffer stand hinter Selenas kunstvoll verzierten Walnussholz-Spiegel. Bella war davor stehen geblieben, hatte sich mit großen Augen betrachtet und den silbernen Schein ihrer nassen Haut bewundert. Dann war ihr eine Idee gekommen.
Sie hat beide Hände auf den Kopf gelegt und sich die Haare gerauft. In Wirklichkeit hat Bella an dem gezogen, was unter ihrer Schädeldecke die bösen Träume verursacht hat. Auch Bella besitzt Finger, die man mit dem bloßen Auge nicht sieht. Sie hat die schwarzen Fäden in ihrem Kopf gepackt und mit einem Ruck herausgerissen.
Aus den Nähten zwischen den Schädelplatten war Schwarzlicht gekommen. Finsterer Qualm hat sich um sie gelegt. Dick und zähflüssig wie Öl. In dem Strudel aus Schwärze hat etwas golden geschimmert. Dann war der Qualm durch die Fensterscheibe hindurch in die Nacht entkommen.
Bella steht vor dem Spiegel ihrer Großmutter, als sie sagt: „Scheiße, was habe ich da bloß getan?“
Ihre Knie geben nach. Es fängt an zu regnen.