Читать книгу Feuermal - Florian Bellows - Страница 12

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Ein stechender Schmerz in den Waden reißt Bella aus ihrem Traum. Sie ist benommen. Völlig desorientiert massiert Bella sich die steinharten Waden, in der Hoffnung auf Linderung.

„Scheiiiiße, verdammt!“, zischt sie. Sie schafft es nicht, ihr verkrampftes Fleisch mit den Fingerspitzen zu lockern. Dennoch macht sie beharrlich weiter. Bis sie sich zu ihren Kniescheiben vorarbeitet und der Schmerz in seiner Intensität schlagartig exponentiell zunimmt. Bella meint, ihr Bindegewebe explodiert und Knochensplitter fliegen ihr um die Ohren.

Bella begibt sich in die Fötushaltung, rollt seitwärts und fällt. Ihr Fall dauert nur einen Augenblick. Sie schlägt Kopf voran auf schwarzen Granitfliesen auf. Der Schmerz potenziert sich erneut. Bella ächzt durch geschlossene Lippen. Sie versucht panisch, Luft durch die Nase anzusaugen.

„Wir haben uns etwas besonderes einfallen lassen müssen, um dich zu wecken“, sagt jemand zu ihr.

»Oh Gott, das kann nicht wahr sein! Lass das bitte nicht wahr sein!«

Es ist einer von Bellas alten Bekannten. Der Schmerz lässt nach. Ihre pochenden Muskeln entspannen sich. Doch Bella will nichts mehr, als auf dem kalten Fußboden liegenzubleiben.

„Setz dich ordentlich hin, wenn ich mit dir rede!“, sagt der Dicke König. Ein Mann mit graumeliertem, ehemals blondem Haar, feisten rötlichen Backen und unschuldigen Kulleraugen. Sein kindliches Aussehen verleiht ihm ein gewisses Maß an Obszönität. Er sitzt hinter einem Schreibtisch aus hellem schwerem Holz. Seine Wampe drückt gegen die Tischkante, als er sich zu Bella herunterbeugt.

„Komm schon, oder muss dir Felix noch einen Schock verpassen?“

Bella bäumt sich auf, nicht ohne ihren Widerwillen zu demonstrieren. Sie lehnt sich gegen das mit rotem Brokat bezogene Prunksofa, von dem sie gefallen war. Der Dicke König grinst Bella an und präsentiert dabei seinen goldenen Eckzahn. In Bella erwachen Gefühle der Mordlust.

Anselm Zahnlücke…“, zischt sie. Die Zahnlücken, nach denen Bella ihn benannt hat, sind professionell verschlossen worden, wie es scheint. Auch Felix ist da. Statt dreckigen Jeans trägt er einen maßgeschneiderten Designeranzug. Den Eindruck, dass er durch und durch schmutzig ist, wird Bella trotz seiner teuren Kleidung nicht los. Neben ihren Albträumen befindet sich noch eine zierliche Frau mit im Raum, der mit seiner breiten Fensterfront, den mit Ordnern bestückten Regalen und dem massiven Tisch in der Mitte wie das Büro eines Steuerberaters wirkt. Die Hände der Frau liegen in ihrem Schoß, den Kopf hat sie gesenkt. Im Gegensatz zu Felix oder dem Dicken König sagt Bella ihr Gesicht nichts.

„Lasst mich doch einfach alle in Ruhe!“, sagt Bella. Sie versucht, sich aufzurichten. Versucht, zu gehen.

„Du setzt dich besser!“, sagt Anselm Zahnlücke mit der Fistelstimme eines katholischen Chorknaben. Von den beiden wirkt Felix deutlich bedrohlicher, doch der Schein trügt. In puncto Grausamkeit stellt er alle übrigen Albträume in den Schatten. Er ist ein wahrer Sadist.

Felix grinst sein Hyänengrinsen. Er lässt Bella wissen, dass sie sich besser nicht widersetzt.

„Du bist doch in der Gesellschaft alter Freunde, und da willst du uns schon wieder verlassen. Es gibt so viel, über das wir reden müssen.“

Der Dicke König erhebt sich. Sein Bürostuhl rollt nach hinten, kracht mit Schmackes gegen die Fensterfront und fällt um.

Bella ist vom Poltern des Stuhls so eingenommen, dass sie zu spät bemerkt, wie Felix ihr etwas zuwirft. Das kleine schwarze Kästchen aus Glas und Plastik trifft sie mitten an der Stirn.

„Au!“, schrillt Bella. Sie sieht bunte Sterne. Taubheit breitet sich spinnennetzartig über ihr gesamtes Gesicht aus. Bella verliert die Balance, kippt nach hinten und stürzt auf das Sofa. Zwischen ihren Beinen liegt ihr Handy. Das Display ist zersprungen.

„Deine Mutter weiß Bescheid. Ich hab‘ ihr gesagt, du kommst sie nicht besuchen. Sie war richtig enttäuscht“, sagt Felix.

Bella bückt sich und hebt ihr Telefon auf. Sie versucht, es anzuschalten. Sie sieht darüber hinweg, dass der Akku fehlt. „War die schon immer so strunzdumm?“, gackert der Dicke König. „Hexe, mach‘ was!“

Die zierliche Frau steht auf und nähert sich Bella zurückhaltend. Bella nimmt das aufgrund der Versuche, ihr Handy einzuschalten, nicht wahr.

Die junge Frau mit den schwarzen, seidig glänzenden Haaren kniet sich zu Bella herunter und nimmt ihren Kopf zwischen die Hände. Sie rückt ihn zurecht – so, dass sich die beiden Frauen anschauen. Die Augen von Bellas Gegenüber brennen in einem unnatürlichen purpurviolett.

„Kenne ich dich?“, fragt Bella und runzelt die gerötete Stirn.

„Ich bin Cassandra“, sagt die zierliche Frau und lächelt ein Lächeln, das nicht auf ihre harten Augen übergeht. Dann küsst sie Bella.

Bellas Sinne werden von heißen Blitzen bombardiert, die ihre Desillusionen in Schall und Rauch auflösen. Als sich die Münder der beiden Frauen trennen, hängt ein Speichelfaden zwischen ihnen.

„Du bist keiner meiner Albträume!“, jappst Bella. Cassandra setzt zu einer Antwort an, doch der Dicke König untersagt es ihr.

UNTERSTEH DICH!“, brüllt er, schäumend vor Wut.

Felix steht mit seinem Handy über den zwei Frauen, knipst ein Foto und sagt: „Geile Wichsvorlage!“ Dann packt er es weg.

Cassandra zieht sich zurück. Ihr Blick ist von grauen Wolken verhangen. Nun fallen Bella auch die schwarzen Augenringe und die blasse Haut der jungen Frau auf.

„Jetzt, da du endlich bei Sinnen bist, können wir endlich zum Geschäftlichen kommen“, sagt der Dicke König und breitet seine fetten Arme aus.

»Zwei meiner Albträume fehlen«, denkt Bella, nun wieder im vollen Besitz ihrer geistigen Kräfte. »Das hat nichts zu bedeuten. Sie sind sicher auch hier irgendwo. Außerdem: Wer ist diese Frau…? Ihr Name ist Cassandra?«

„Ich möchte, dass du für mich arbeitest, Bella“, sagt der Dicke König. „Nachdem du uns aus deinem Kopf vertrieben hast, musste ich mir ein neues Standbein suchen. Ich habe mich sozusagen selbstständig gemacht. Das hier ist meine Brauerei.“ Er macht den Weg herum um seinen Schreibtisch, setzt sich mit seinem breiten Hintern auf ihn. „Wir brauen das beste Bier Deutschlands. Das sage ich dir im vollen Bewusstsein darüber, wie anmaßend sich das anhört. Aber nicht ohne Grund. Du wirst gleich sehen, warum. Ich möchte, dass du uns hilfst, unseren Umsatz weiter zu steigern.“

»Du willst mir jetzt nicht wirklich verklickern, dass du unter die Bierbrauer gegangen bist?«

„Der Grund für unseren Erfolg ist eine kleine Geheimzutat“, sagt der Dicke König. Er holt ein winziges Glasfläschchen aus seiner Jacketttasche und hält es Bella vor die Nase. Es ist mit einer öligen Flüssigkeit gefüllt. Darin schwimmen cyanblaue, magentafarbene und goldgelbe Schlieren.

»Sieht aus wie Druckertinte«, assoziiert Bella. »Wie, wenn man eine Multikartusche in eine Glasflasche ausdrückt.«

„Magna Vis!“, huldigt der Dicke König seine kleine Phiole. „Es ist eine körpereigene Substanz. Ein Gemisch aus Endorphinen, Serotonin, Dopamin und Opioiden. Beamt härter weg als Heroin. Und macht genauso süchtig. Du wirst uns helfen, es zu extrahieren. Unsere Quellen werfen derzeit nicht genügend ab, um unseren Umsatz zu steigern. Deswegen wirst du unsere Ausbeute erhöhen.“

„Wie hast du dir das vorgestellt?“, fragt Bella nach.

„Du wirst uns deine Kräfte zur Verfügung stellen“, antwortet der Dicke König.

„Vergiss es, Fettsack!“

Anselm Zahnlücke wirft Felix einen Blick zu. Lediglich zwei Worte kommen ihm über die Lippen. „Tu es!“

Felix schlägt seine unsichtbaren Krallen in Bella und spielt sie wie eine Zither. Schmerzen elektrisieren sie. Sie übergibt sich.

„Ihr Drecksäcke!“, keucht Bella. Die Luft, die sie einatmet, brennt in der Luftröhre.

„Wischt das jemand auf!“, befiehlt der Dicke König. „Cassandra!“

Die junge Frau mit den purpurleuchtenden Augen verschwindet durch eine Seitentür.

„Du wirst das tun, was ich dir sage! Ich sitze am längeren Hebel. Je früher du das checkst, desto besser!“

Cassandra kommt zurück. Sie trägt gelbe Gummihandschuhe und hat einen vollen Putzeimer dabei. Die »Hexe« lässt sich nichts anmerken, als sie Bellas Erbrochenes aufwischt.

„Vielleicht finden wir auch dafür Verwendung!“ Der Dicke König präsentiert Bella das rote Notizbuch aus ihrer Schultasche. Er blättert mit seinen Wurstfingern voller goldener Ringe darin herum. Einzelne Blätter fallen auf den Boden. Bunte krude Kinderzeichnungen.

„ARSCHLOCH!“, brüllt Bella. „Gib mir das wieder!“

Felixs Hyänengrinsen genügt, um Bella zu besänftigen.

„»Böser Mann im Schrank«, »Mörder mit Spaghetti-Armen und Fleischermesser«, »milchig-grünes Gruselgespenst«, »Hirnbrutzel-Spielekonsole«, »Blauschimmel-Schmelzkäse-Monster«. Was soll der Mist?“

„GIB MIR DAS ZURÜCK!“, brüllt Bella. Ihre Stimme bricht aufgrund der Lautstärke.

„Ist es das, was ich denke? Hast du Albträume gesammelt?“

„GIB MIR DAS BUCH!“ Bellas Feuermal flammt auf. Die mit Bleistift, mit Kugelschreiber, mit Füller und verschiedenen Fineliner-Stiften geschriebenen Buchstaben in Bellas Notizbuch leuchten auf.

Der Dicke König schlägt das Buch zu und lässt es in einer Schublade seines Schreibtisches verschwinden.

„Du bist verdrehter als es den Anschein macht“, sagt er. „Das gefällt mir! Möglicherweise haben wir mehr gemein, als man auf den ersten Blick vermuten könnte!“

Der Dicke König hebt eines der Blätter auf, die auf den Boden gefallen sind. „Aber das ist nicht alles“, sagt er. Die Zeichnung zeigt ein kugeliges Schaf mit rosa Glitzerwolle. Sein Fell erinnert einen an Zuckerwatte. Am unteren Rand steht in Bellas Handschrift: »Zuckerschaf, Alexandra, 5 Jahre«.

„Bei Albträumen bist du nicht geblieben?“

„WIR HABEN NICHTS MITEINANDER GEMEIN!“ Cassandra, zu Bellas Füßen, schreckt auf. „IHR SEID EIN HAUFEN MONSTER!“

„Gut, dass wir uns da einig sind“, reagiert der Dicke König gefasst. „Ja, das sind wir! Oliver ist gerade auf dem Weg nach Berlin. Er holt deinen Vater ab. Wir behalten uns ihn als Druckmittel.“

„Woher wisst ihr…?“

„Felix hat in deinen Erinnerungen herumgestöbert, als du ohnmächtig gewesen bist. Er hat ein paar interessante Dinge über dich erfahren.“

Bella knurrt. Sie malt sich aus, wie sie dem Dicken König an die Gurgel geht. Wie sie ihm seinen Adamsapfel mit den Zähnen herausreißt.

„Mach es wahr!“

Der Dicke König schiebt Bella die Zeichnung des Zuckerschafs unter die Nase. „Ich muss wissen, ob du das noch kannst.“

„Das mache ich nicht!“, erwidert Bella. „Vergiss es!“ Bellas Bravado flaut allerdings ab.

„Denk an deinen Vater“, mahnt der Dicke König. „Oder sollen wir uns etwa auch deine Mutter vorknöpfen?“

»Mama könnt ihr nicht entführen«, schießt es Bella durch den Kopf. »Das würde im Zusammenhang mit meinem Verschwinden zu viele Fragen aufwerfen.«

„Also, was ist jetzt?“

„Habe ich eine Wahl?“, zischt Bella. Anselms Grinsen reicht als Antwort. Bella nimmt ihm die Zeichnung ab, schließt ihre Augen und konzentriert sich. Der Rest kommt ganz natürlich. Sie beherrscht diesen Trick schon seit frühster Kindheit.

Bellas Karamellfleck schillert in den buntesten Farben.

Vor ihr materialisiert sich ein kleines Schaf mit leuchtendem Glitzerfell. Der Buntstift, mit dem Alexandra das Bild gemalt hat, löst sich mit einem Zischen in Rauch auf. Das Lämmchen blökt.

„GROSSARTIG!“, brüllt Anselm Zahnlücke. „GENAU SO HABE ICH MIR DAS VORGESTELLT!“ Er spuckt Bella beim Sprechen ins Gesicht. „DU WIRST MIR GOLD, JUWELEN UND SCHÄTZE AUS DEN KÖPFEN DER KINDER HOLEN! DU WIRST MICH NOCH REICHER MACHEN!“ Anselm Zahnlücke lacht manisch. „Für’s erste wirst du für unseren Hort arbeiten. Als stinknormale Erzieherin. Das sollte dir nicht allzu fremd sein. Siehst du etwas in den Köpfen der Bälger, das sich zu Geld machen lässt, dann besorgst du es mir! Verstanden?“

„Dafür habt ihr mich hergeholt?“ Bellas verzweifelter Blick findet die ungewöhnlichen Augen der zierlichen Frau. Cassandra sieht weg.

„Wir werden Mittel und Wege finden, um dein Talent voll auszureizen. Keine Sorge! Aber jetzt mach es dir erst einmal in deinem neuen Zuhause gemütlich. Du wirst noch viel Zeit hier verbringen.“

Bella versucht erneut, aufzustehen. Bevor es ihr gelingt, die Balance zu finden, wird sie von kräftigen Pranken gepackt und in die Tiefen ihres Bewusstseins geschubst.

Feuermal

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