Читать книгу Feuermal - Florian Bellows - Страница 8
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Оглавление„Alles wird gut!“, versichert Bella der völlig aufgelösten Erstklässlerin, die auf ihrem Schoß sitzt. Das Mädchen schüttelt vehement den Kopf. Ihre kupferroten Pippi-Langstrumpf-Zöpfe peitschen dem Mädchen ins Gesicht, schleudern Tränen und Schnodder in den Raum und auf Bellas Bluse. Die plötzliche Nässe auf den Wangen ist dem Mädchen suspekt. Sie wischt sich die Nase am Ärmel ihres Pullovers ab und wringt anschließend ihre ungleich langen Zöpfe aus. Ein seltsamer Anblick, selbst für Bella. Der rechte Zopf des Mädchens ist gut eine Handbreit kürzer als ihr linker. Es guckt zu Bella hoch.
„Wieso hat Rahel das getan?“, fragt es mit bebender Stimme. Das Mädchen reibt sich die roten Augen mit ihren winzigen Fäusten. Hickst.
»Gute Frage! Nächste, bitte!«, denkt Bella.
Bella schätzt das Verhältnis zwischen Teresa und Rahel grundsätzlich als harmonisch ein. Die beiden Mädchen sitzen seit Beginn des Schuljahres nebeneinander. Sie unterstützen sich gegenseitig beim Rechnen und Lesen. Arbeiten produktiv zusammen.
Und dann hat sich Rahel heute in Bellas Bastelstunde radikal an Teresas Frisur zu schaffen gemacht.
„Sag mal: Wie war eigentlich Rahels Geburtstagsfeier?“ Das ist keine Frage hinein ins Blaue. Die Party ist vor einer Woche gewesen. Seither verhält sich Rahel im Unterricht zurückhaltender. Sie meldet sich nicht mehr so häufig. Ist beim Schreiben abgelenkt.
„Schön“, antwortet Teresa. Ihre Stimme klingt heiser. „Es gab Papageienkuchen. Der war innen ganz bunt. Rot und gelb und blau und grün und rosa. Danach haben wir blinde Kuh gespielt und Rahels Papa hat Pizza für alle geholt. Später hat er auch Musik angemacht. Ich hab‘ ganz viel mit Rahel und Conny getanzt.“
„Ach, du bist also eine richtige Tanzmaus?“, fragt Bella.
„Hm? Ja!“, antwortet Teresa und zuckt geschmeichelt die Schultern.
„Gab es auch etwas, das nicht so toll war?“
„Mhm!“, brummt Teresa und lässt den Kopf hängen.
„Erzählst du mir, was?“
„Rahel hat das Handy ihres Papas aus Versehen kaputt gemacht. Er hat damit witzige Musik gemacht. Sie hat beim Spielen einen Stuhl umgeworfen. Da ist es auf den Boden gefallen.“
„Und was hat Rahels Papa dann zu ihr gesagt?“
„Er hat sie laut geschimpft und angeschrien“, antwortet Teresa. „Aber Rahel hat nicht geweint. Erst später, als er ihr in der Küche eine Ohrfeige gegeben hat.“
„Rahels Papa hat ihr eine Ohrfeige gegeben?“
„Ja.“
„Oh, das ist blöd. Und das hätte er auch nicht machen sollen. Kaputtes Handy hin oder her. Hat das sonst wer gesehen? Außer dir?“
Teresas Antwort kommt wie aus der Pistole geschossen.
„Nein“, sagt sie. „Nur ich. Ich hab’s auch niemandem erzählt. Außer Mama und Papa.“
„Weiß das Rahel?“
„Mhm. Sie hat mich heute gefragt, ob ich’s jemandem erzählt hab.“
»Das erklärt dann auch Rahels Reaktion«, denkt Bella.
Bella schließt Teresa in ihre Arme ein und legt ihr Kinn behutsam auf dem Kopf des Mädchens ab. „Rahel hat das nicht gemacht, weil sie sauer auf dich ist. Ich glaube, sie schämt sich dafür, dass ihr ihr Papa eine Ohrfeige gegeben hat. Und es muss ihr noch viel peinlicher gewesen sein, dass ihre beste Freundin das gesehen hat. Sie hat Angst, dass noch mehr Kinder davon erfahren…“
„Aber nicht von mir!“, schnaubt Teresa. „Und von dir auch nicht, Frau Pankow!“
„Nein, ich sage nichts!“
An einem Gespräch mit Vater und Mutter der beiden führt kein Weg vorbei. Leider sind Teresas und Rahels Eltern nicht so einsichtig wie ihre Kinder. Dazu kommt, dass sie aus zwei vollkommen unterschiedlichen gesellschaftlichen Milieus stammen.
»Das wird ein harter Brocken«, denkt Bella. »Am besten ich telefoniere gleich nachher noch mit Teresas Papa, bevor er Herrn Özgül an die Gurgel geht.«
„Okay, danke Frau Pankow!“
Teresa hüpft Bella vom Schoß und klopft sich ihren Rock zurecht. Das Gesicht des Mädchens ist voller roter Striemen, aber ihr Lächeln verrät, dass ihr Bella eine Last von den Schultern genommen hat.
„Bist du denn gar nicht mehr traurig?“, fragt Bella etwas überrascht nach.
„Ach, was! Ich will nicht, dass es Rahel schlecht geht! Ich gehe später noch zu ihr und frage, ob sie zum Spielen rauskommt.“
Bella stutzt.
„Rahel darf sich glücklich schätzen, eine Freundin wie dich zu haben!“, sagt Bella und lächelt. „Kommst du nochmal kurz her?“
„Was ist?“
Bella macht Teresas Zöpfe auf, kämmt ihr mit den Fingern die Haare und zupft sie zum Schluss mit Pinzettenfingern zurecht.
„Schau dich mal im Spiegel an! Sieht doch toll aus!“, meint Bella.
Teresa hopst zum Waschbecken. Bella packt sie von hinten an den Hüften und stemmt sie hoch, damit sie sich betrachten kann.
Die Frisur ist behelfsmäßig, aber sie erfüllt ihren Zweck. Die gekürzten Strähnen liegen unter Teresas voluminöser Haarpracht fast vollständig versteckt.
„Oh ja, super!“, staunt Teresa. „Meine Haare sind so schön!“ Bella setzt das Mädchen ab. Sie dreht sich zu ihrer Lehrerin um und sagt: „Danke, dass du mir geholfen hast!“
„Ich habe doch gar nichts gemacht“, sagt Bella und meint es so. „Meldest du dich, wenn der Streit mit Rahel schlimmer wird? Sicherheitshalber.“
Das Mädchen macht „Mhm!“, und nickt energisch. Sie rennt zu ihrem Platz, schultert sich ihren Ranzen um und flitzt zur Klassenzimmertür. Auf der Schwelle macht sie noch einmal Halt, düst zu Bella und drückt ihr den schweren Kopf in den Bauch. Bella umarmt zurück.
„Schöne Ferien wünsche ich dir!“
„Das wünsche ich dir auch Teresa!“
Das kleine Mädchen entlässt Bella aus ihrer Zange und flieht aus dem Klassenzimmer.
»Puh, und das noch am letzten Tag vor den Ferien!«
Bella setzt sich an ihr Pult. Sie ist gerade dabei, ihre Tasche zu packen, als Teresa erneut den Kopf ins Klassenzimmer streckt und ein zweites Mal zu ihr läuft.
„Hast du etwas vergessen?“, erkundigt sich Bella.
„Ich wollte dir nur noch sagen, dass du auch schön bist!“, antwortet die Erstklässlerin. „Ganz besonders mag ich deinen Karamellfleck!“
Teresa fährt mit ihrer kleinen warmen Hand über besagten Fleck auf Bellas linker Wange. Es ist eine Mischung aus einem Mutter- und Feuermal und in etwa so groß wie ein 2€-Stück. Bella hat es seit ihrer Geburt.
Sofort durchfährt Bella ein elektrisches Knistern, das schnell an Intensität gewinnt und in puren brennenden Schmerz ausartet. Vor Bellas Augen flammen bunte Punkte auf, hell wie Sterne.
Teresa bekommt davon nichts mit und verabschiedet sich mit einem fröhlichen „Tschüss!“ und einem Winken. Bella umklammert krampfhaft die Lehne ihres Stuhls. Sie ringt um Fassung.
»Einundzwanzig, zweiundzwanzig, dreiundzwanzig«.
Ein Atemzug nach dem anderen. Das ist eine Technik, die Bella in ihrer Kindheit gelernt hat. Von einer Psychologin, an deren Namen sie sich nicht mehr erinnert.
»Scheiße, ja, das hat mich kalt erwischt!«, denkt Bella und lächelt. Ihre Nerven stehen in Flammen.
Sie bekämpft Feuer mit Feuer. Im heißroten Raum ihrer Gedanken entfacht sie einen Funken, der sich rasend schnell zu einem Brand ausweitet. Es ist eine zerstörerische Macht, die Bella zu kontrollieren gelernt hat. Sie richtet die Flamme auf die panische Angst, die sie zu übermannen droht. Die Hitze breitet sich aus, in all ihre Gliedmaßen. Macht sie langsam schwerer. Bella hält sich vor Augen, dass der Schmerz nur in ihrem Kopf existiert.
„Mann, EY!“, knirscht Bella und schlägt mit der Faust auf ihr Pult. Sie setzt sich abrupt auf und kämpft gegen die Spannung in ihren verkrampften Muskeln an.
Nach einer weiteren Minute steht Bella auf und beginnt damit, Kleinigkeiten aufzuräumen. Sie stuhlt auf, wirft auf dem Boden liegende Papierfetzen in den Papierkorb, stapelt die Hefte ihre Schüler sauber auf. Sie kann nicht gehen, bevor sie sich nicht beruhigt hat.
Zum Schluss nimmt Bella den Besen in die Hand und fegt durch. Putzen schafft Ordnung in ihrem Kopf. Nachdem sie gekehrt hat, ist auch ihrem Pflichtbewusstsein genüge getan und Bella kann, trotz Panikattacke, endlich in die Ferien starten.
»Bleibt nur noch das Telefonat. Dann steht ein paar Tagen Entspannung nichts mehr im Weg.« Bevor sie geht, kontrolliert Bella, ob sie ihr Notizbuch eingepackt hat. Sie versteckt es, vor den Blicken neugieriger Schüler geschützt, im hinteren Fach ihrer Lehrertasche.
Das Lehrerzimmer ist, eine knappe Stunde nach Schulschluss, wie ausgestorben. Bis auf Bellas Chef Martin Holotka ist niemand mehr hier. Trotz seiner Funktion als Schulleiter kleidet er sich, als könnte er jeden Moment zu einem Angelausflug aufbrechen. Braune Khakis, Leinenweste, ein ausgewaschenes Cappy, das mit Sicherheit älter ist als Bella. Davon abgesehen kann sich Bella über ihren Chef nicht beschweren. Sie kommen gut miteinander aus.
Holotka schlürft eine Tasse Espresso und liest Tageszeitung.
„Hallo, Chef!“, trällert Bella und schnappt sich das neon-orangene Post-It, das ihr jemand in ihr Fach gelegt hat. Es ist ein kleiner Feriengruß ihres Kollegen Sascha Brecht. Sie liest es und schiebt es sich - nun deutlich schwermütiger - in die Hosentasche.
„Na, Frau Pankow - den letzten Schultag gut rumgebracht?“
„Ja, schon“, antwortet sie „Ich habe gerade noch ein wenig aufgeräumt. Dann muss ich es schon in den Ferien nicht tun.“
Den Vorfall mit ihren Schülerinnen Teresa und Rahel behält Bella für sich. Zumindest solange, bis sie mit den Eltern der Kinder gesprochen und die Lage sondiert hat. Bella schneidet sich nur ins eigene Fleisch, wenn sie ihren Chef so bald ins Boot holt. Auf dem Lehrerspektrum ist er auf dem… sorgloseren Ende der Skala und legt deswegen großen Wert auf Eigeninitiative.
Eine ganze Reihe benutzter und mit Spülwasser gefüllter Sektgläser zeugt davon, dass der Start in die Pfingstferien feucht-fröhlich begangen worden war. Dass sie den Umtrunk verpasst hat, bricht Bella keinen Zacken aus der Krone. Nur, dass sie sich bei Sascha nicht persönlich verabschiedet hat, rüttelt an ihrem Krönchen. Sie hätte sich mit ihm gerne noch ein bisschen über die Verlobung mit Wanka unterhalten. Erst vor zwei Tagen hat er das Kollegium in den nächsten Schritt seiner Lebensplanung eingeweiht.
»Sascha kriegt nachher noch eine Nachricht von mir«, denkt Bella. »Ich könnte ihn und Wanka zum Kaffee einladen. Dann brauch‘ ich aber noch ein Geschenk für die beiden.«
„Irgendwas vor in den Ferien?“, fragt Holotka und reißt Bella damit aus ihren Gedanken.
„N-nichts Großartiges“, stammelt Bella. Ich habe vor, meine Mutter in Schorfheim zu besuchen.“
Bellas Elternhaus liegt kurz vor Regensburg. Von Ramersdorf aus braucht sie über die A9 etwa eineinhalb bis zwei Stunden nach Hause. Als sie nach ihrem Referendariat in der Oberpfalz nach München versetzt worden war, war sie gezwungen sich auf Teufel-komm-raus eine Wohnung in der Landeshauptstadt zu suchen. Nur mithilfe einer Connection zu einer Studienfreundin und gebürtigen Münchnerin ist sie fündig geworden. Sie pendelt nun jeden Tag eine halbe Stunde mit dem Auto zur Arbeit. Obwohl die Besuche in der alten Heimat mit den Jahren seltener geworden sind, telefonieren Bella und ihre Mutter Astrid beinahe noch täglich. Mit ihrem Vater Max, der nach der Scheidung nach Berlin gezogen ist, hat sie nur unregelmäßig Kontakt.
„Da soll es am Anfang der Woche ja ganz schön gewittern. Laut Wetterbericht sind für Montagmittag sogar heftige Hagelschauer vorausgesagt.“
»Scheiße, echt?«, denkt sie.
„Vielleicht warte ich mit meinem Besuch, bis sich das Wetter beruhigt hat“, sagt sie.
Bella hat schon so genügend Probleme mit dem Fahren. Sie bezeichnet ihren Fahrstil als holprig. Und das ist noch milde ausgedrückt. Da muss sie das Schicksal nicht herausfordern und bei Platzregen und Hagelschauer einen Unfall riskieren.
»Also nachher gleich auch noch mit Mama telefonieren«, vermerkt sich Bella.
„Ich pack’s dann, Chef! Schöne Ferien!“ Bella verabschiedet sich mit einem verhaltenen Winken. Holotka quittiert Bellas Geste mit einem Nicken.
„Ihnen auch“, sagt er. „Gute Erholung!“
Die Tür hinter ihr fällt mit einem Klicken ins Schloss.
Nur drei Autos stehen auf dem Parkplatz. Bellas Wagen ist der in die Jahre gekommene, kadmiumorange Volvo 240 von 1993. Max Pankow hatte ihn ursprünglich gekauft, um damit seine Oldtimer-Sammlung ins Rollen zu bringen. Die Scheidung von Astrid hatte seinem Vorhaben schnell einen Strich durch die Rechnung gemacht. Um ihn nicht verkaufen und die Hälfte des Gewinns an seine Ex-Frau veräußern zu müssen, hatte er den Wagen überraschend Bella geschenkt.
Bella kann es plötzlich kaum erwarten, nach Hause zu kommen. Nach der unangenehmen Erfahrung in ihrem Klassenzimmer sehnt sie sich nach nichts mehr als einem heißen Bad.
»Pizza wäre jetzt auch geil!«, denkt sie beim Aufsperren ihres Autos. Sie ist gerade dabei, ihre Tasche in den Kofferraum zu stellen, als sich ihr jemand von hinten nähert.