Читать книгу Soviel man weiß - Florian Gantner - Страница 10

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Frau Doktor, sagt Gernot, als er die Wohnung betritt. Die Begrüßung war aufgekommen, als sie vor einem knappen Jahr mit dem Turnus angefangen hatte. Wobei sich die Ironie allmählich abgeschwächt hatte und spätestens ganz verloren ging, als Gernot Agnes’ ersten Gehaltszettel zu Gesicht bekam. Von da an hatte sie manchmal das Gefühl, das Frau Doktor höre sich ein wenig wie ein Vorwurf an.

Ist schon ein Witz, sagt Agnes und wirft sich neben Gernot aufs Sofa: Ich hab dir doch von diesem Patientenbegleiter, dem Berger, erzählt. Ich komm zu einer Patientin und die meint, der Herr Doktor habe ihr die-und-die Salbe empfohlen. Dann frag ich sie, welcher Doktor, und sie sagt: Na, der Herr Doktor Berger! Nur weil er ein bärtiger Mann in mittlerem Alter mit selbstgefälligem Auftreten ist, hält ihn gleich jeder für einen Doktor. Ich weiß nicht, wie oft dafür zu mir heute Danke, Schwester gesagt wurde.

Steht nicht auf deinem Namenskärtchen, dass du Doktor bist? Einmal mit dem Finger draufzeigen und schon wissen sie, dass du Frau Doktor Wallner bist. Sollte doch kein Problem sein.

Agnes holt sich ein Glas Wasser aus der Küche. Sie ärgert sich über Gernots Patzigkeit. Vom Museumscasanova, den sie im Naturhistorischen Museum kennengelernt hat, ist er momentan weit entfernt. Sie war gemeinsam mit ihrer Freundin Carina vor einigen Bernsteinfossilien gestanden, als er sich neben sie gestellt hatte. Er hatte sich leicht zu ihr gebeugt und gesagt, als würden sie sich kennen: Schwer vorstellbar, wie lange der Flügel schon im Bernstein eingeschlossen ist. Mit der Zeit sind sie eins geworden, der Flügel und der Stein. Er hatte es so leise gesagt, dass nur sie es hören konnte, denn Carina war kommentarlos zu den nächsten Steinen weitergezogen. Agnes’ Augen blieben auf die Fossilien gerichtet, und sie wusste, dass das ein Moment war, den sie nicht vergessen würde. Ja, sogar Carina, die Gernot seither nur noch den Museumscasanova nennt, spürte das.

Aber dass ihre Beziehung ein wenig eingeschlafen ist, dafür sieht sie sich auch selbst in der Verantwortung. Agnes’ erstes Jahr am Krankenhaus war anstrengender als erwartet gewesen. Mit der plötzlichen Verantwortung, der Intensität der Dienste hatte sie gerechnet. Doch es kamen Aspekte hinzu, die sie nicht bedacht hatte. Mit jeder Station wurde sie in ein neues Biotop geworfen, das eigenen Regeln gehorchte. Auf jeder Abteilung musste sie von vorne anfangen, ihre Position zwischen Ärzten und Pflegepersonal einnehmen, den richtigen Ton finden, Gruppen und Gräben erkennen. Für Beziehungspflege hatte sie wenig Energie aufgebracht im letzten Jahr. Das sollte sich ändern.

Das Wasser fließt schon wieder nicht ab. Agnes holt fluchend die Saugglocke, den sogenannten Hektor, und macht sich an die Arbeit. Gernot taucht hinter ihr auf und nimmt ihr den Hektor ab:

Du weißt, du kannst jederzeit zu mir ziehen. Bei mir ist der Abfluss tipptopp, grinst er. Aber ich weiß schon, so leicht kriege ich dich nicht raus aus dem Loch.

Aus meinem Loch, präzisiert Agnes. Sie weiß, dass es ihm völlig unbegreiflich ist, weshalb sie, die Jungärztin, an dieser abgenutzten Altbauwohnung festhält.

Was macht eigentlich dein Pflegeprojekt? fragt der pumpende Gernot, die Stimme etwas gepresst vor Anstrengung: Wie heißt er noch?

Herr Zerai.

Genau, Zerai. Was macht der Ausschlag, war er beim Arzt?

Ich hab ihn gestern im Stiegenhaus getroffen. Aber ich komm nicht so richtig durch zu ihm.

Das stimmte so nicht. Agnes hat an Herrn Zerais Reaktionen erkannt, dass sie durchaus zu ihm durchgedrungen war. Sie kann sich ihr Interesse für den alten Mann selbst nicht erklären. Herr Zerai ist kein Vateroder Großvaterersatz. Es ist dieses Gefühl, wenn sie ihm im Stiegenhaus gegenübersteht und ihn anblickt. Das Wissen, dass hinter der Maske, die sich dieser einsame Mann aufgesetzt hat, etwas Lehrreiches steckt. Sie würde gern hinter die Maske schauen.

Agnes sitzt im Stiegenhaus. Wenn das jemand sieht. Frau Doktor sitzt auf der obersten Stufe und wartet auf ihren Patienten. Der genau genommen gar nicht ihr Patient ist, gar nicht sein will. Und: Wen würde es schon interessieren, was sie da macht? Sitzt doch nur da.

Aber wenn sie dem Zerai das Crotamitex nun in die Hand drückt, dann zwingt sie ihn quasi in die Patientenrolle. Idiotische Bedenken. Der Mann ist krank, da ist es meine Pflicht, etwas zu tun.

Sie versucht, die Tube um ihren Zeigefinger kreisen zu lassen. Wie die Bleistifte während der Unterrichtsstunden, die Kugelschreiber in den Vorlesungen. Aber die Tube ist zu breit und das Training zu lange her, die Tube fällt immer wieder herunter.

Agnes hört die Tür zufallen, Zerai! ist ihr erster Gedanke. Schritte im Stiegenhaus, langsam, wie die eines alten Mannes. Sie steht auf, der Hintern schmerzt nach dem langen Sitzen auf dem harten Boden. Von dem bisschen Rumsitzen? Hypochondrischer Eid, so der Dauerscherz auf der Gastro. Beim ersten Mal fand sie ihn auch witzig.

Nein, da sind noch andere Schritte, eine zweite Person. Sie hört eine fremde Stimme: Wieso soll ich denen Information frei Haus liefern? Liefern ist schon mein Ding, aber Daten kriegen sie nicht von mir, verstehst du? Ich meine, Daten schon, aber was für welche, das ist der Witz dran.

Agnes erkennt den Grund für die Langsamkeit, mit der die Schritte die Stufen heraufkommen. Das ist nicht Gebrechlichkeit, sondern eine Mischung aus angeregtem Gedankenaustausch und studentisch-coolem Schlurfgang. Es nähert sich der Student, der schräg über ihr wohnt, in Begleitung eines Freundes.

Entschuldige, aber das ist schon ein Schmarrn, sagt der Student lachend. Möglichst unterschiedliche Sachen liken, nur damit die nicht wissen, wie du tickst? Warum dann überhaupt das ganze Liken? Da kannst du – Oh, hallo!

Als ob sie die zwei Jungs abpassen würde. Unaufgefordert erklärt Agnes, dass sie auf ihren Nachbarn warte, weil sie ihm eine Salbe geben wolle. Was zu viel Info ist, wieso sag ich das, kann denen ja egal sein. Und wahrscheinlich halten die beiden sie für eine, die jedem auf die Nase binden will, was sie von Beruf ist: Frau Doktor Wallner, ja, ich mache Karriere, aber hey, meine Studienzeit ist noch gar nicht lange her.

Gesagtes lässt sich nun mal nicht rückgängig machen, aber die beiden gehen an ihr vorbei und scheinen sich überhaupt nicht zu fragen, weshalb sie da im Stiegenhaus rumsteht und auf einen Patienten wartet. Die nicht abgeholte Bestellung. Ihr fällt zum ersten Mal auf, dass das ein schon irgendwie schräges Bild ist: Ich stehe da wie bestellt und nicht abgeholt. Während oben Schlüsselgeklimper und das Aufsperren von Tür 4 zu hören ist, stellt sie sich eine ausgekühlte Pizza mit ihrem Gesicht drauf vor, Olivenaugen, Pilznase, Schinkenmund.

Pizza. Carina und sie haben jedes Jahr ihre Projekte. Vor zwei Jahren klapperten sie die Stadt auf der Suche nach dem perfekten Sushi ab – wenig überraschend gewann ein Restaurant im ersten Bezirk. Letztes Jahr galt es, Wiens besten Falaffelproduzenten ausfindig zu machen, und heuer lautet die Frage: Wo gibt es die ultimative Pizza wie in Italien?

Es ist September und ihr habt die perfekte Pizza immer noch nicht gefunden, stellte Gernot vor zwei Tagen am Telefon fest: Darf ich euch ein wenig unter die Arme greifen, damit ihr nicht bis zum Jahresende im Dunklen tappt? Ich hab für uns zwei einen Tisch bei Da Ferdinando reserviert.

Müsste es nicht heißen: Ich hab einen Tisch da Ferdinando reserviert? warf Agnes ein.

Wenn du meinst. Von Sprachen hab ich keine Ahnung, mein Gaumen ist dafür praktisch unfehlbar. Wenn ich dich da Ferdinando überzeuge, dass es dort die beste Pizza Wiens gibt, kannst du ja mit Carina noch mal hingehen.

Schon gut, beim Abschiedsabend muss Carina nicht dabei sein. Bist mein Freund, nicht ihrer.

Der Italiener in Hietzing servierte wirklich die ultimative Pizza, und Agnes fand noch irgendwie Platz für Peperonata-, Bresaola- und Rigatoni-Kostproben. Nicht weniger exzellent war die Flasche Aglianico del Vulture. Am Heimweg im Taxi flüsterte Gernot ihr ins Ohr: Ich hoffe, du langweilst dich nicht zu sehr, während ich in Moskau bin.

Eine Woche ist schnell rum – vor allem wenn man täglich da Ferdinando pilgert, um sich systematisch durch die Pizzaauswahl zu probieren. Wirst ganz schön Augen machen, wenn eine kugelrunde Agnes dir die Tür aufmacht.

Mmmmh, noch mehr Agnes. Gernot strich über die Innenseite ihres Schenkels, seine Hand rutschte immer höher. Er küsste ihren Hals, die Stelle unterm Ohr. Offensichtlich konnte er es kaum erwarten, ins Bett zu kommen und die Noch-nicht-kugelrunde-Agnes zu kosten.


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