Читать книгу Soviel man weiß - Florian Gantner - Страница 9
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ОглавлениеDer Mann auf dem Balkon gegenüber hat weiter nichts als eine kurze Hose an. Sein braungebrannter Oberkörper glänzt in der Sonne, er hat ihn wohl eingeölt. Stolz trägt er seinen Brustkorb vor sich her, obwohl er das sogenannte beste Alter längst hinter sich gelassen hat. Von seinem Wohnzimmerfenster aus kann Illir Zerai erkennen, dass die Haut des Mannes bereits schlaff und ledern ist.
Für einen Augenblick bleibt der Mann stehen und sieht zu Zerai herüber. Nur kurz, aber Zerai entgeht der prüfende Blick nicht. Ja, ich bin da und ich gaffe zurück. Und ja, ich habe dich gesehen, sagt sich Zerai, ich weiß, dass du auch heute wieder deine Turnübungen am Balkon abhältst. Ob der Nachbar Zerais hochgezogene Mundwinkel gesehen hat? Ahnt er, dass Zerai seine Gockelhaftigkeit lächerlich findet? Armselig. Letztlich auch traurig, wie der Alte dort herumstolziert an diesem Spätsommermorgen.
Da kommt ihm der Gedanke, dass der Nachbar für ihn die gleiche Bezeichnung benützen könnte. Während Illir Zerai aus dem geöffneten Fenster zum Nachbarn hinüberblickt, sieht der Nachbar vom Balkon aus zu ihm, Zerai, und denkt in diesem Moment vermutlich genauso: Da drüben steht er, der arme Teufel vom Nachbarhaus.
Als der Mann am Balkon mit den Kniebeugen beginnt, befindet Zerai, dass er genug gelüftet hat. Während er das Fenster schließt, murmelt er mit tonloser Stimme: Wir müssen uns stählen, um die Kraft des Proletariats unbezwingbar zu machen. Kaum hat er diesen Satz ausgesprochen, erschrickt er.
Er dachte, die Parolen und Losungen für immer abgeschüttelt zu haben. Er dachte, die Sätze des Diktators wären als leere Worthülsen an einer entlegenen Stelle seines Gehirns wie in einem Endlager deponiert. Aber anscheinend wollen diese Sätze jetzt, fast vierzig Jahre, nachdem er sie abgelegt hat, nicht länger verborgen bleiben. So viele Jahre ist es her, dass er die Arbeit beim staatlichen Radiosender an den Nagel gehängt hat und geflüchtet ist. Und jetzt auf einmal sind die Worte des Genossen Enver Hoxha, Führer der Partei der Arbeit und des albanischen Volkes, wieder da. Aber Wir müssen uns stählen, um die Kraft des Proletariats unbezwingbar zu machen ist nicht der einzige Satz Hoxhas, der wieder da ist. Mit einem Mal kann er jeden beliebigen Satz des Genossen aus seiner Erinnerung hervorholen.
Er weiß, dass er die Losungen damals als inhaltsleer abgetan hat. Abgeschmackte Maximen waren Alltag, nichts, worüber man sich den Kopf zerbrach, geschweige denn, was man sich merken musste. Dennoch kommt ihm, als er im Spülbecken eine leere Milchpackung mit dem Bild einer Kuh sieht, die Parole in den Sinn: Die Albaner essen lieber Gras, als die Ideale der Revolution zu verraten.
Illir Zerai nimmt die Gratiszeitung zur Hand, die er am Heimweg von seinem Einkauf mitgenommen hat. Auf dem Titelblatt ist eine Raumfähre abgebildet. Schon ist ein passender Satz Hoxhas zur Stelle: Die Supermächte haben das Weltall mit Spionagesatelliten, mit Raketen und Antiraketen vollgestopft, die mit todbringenden Strahlen- und Lasersystemen, mit Nachrichtenapparaturen und so weiter ausgestattet sind; ein echtes Chaos, das die große Gefahr des Zusammenstoßes birgt.
Er erinnert sich, dass dies einer der Sätze war, der eine Gewissheit in ihn gepflanzt hat: die Gewissheit, dass Genosse Enver Hoxha, Führer der Partei der Arbeit und des albanischen Volkes, der gut informierte Kenner der politischen Weltentwicklung Enver Hoxha, eindeutig Gefahr lief, eine Grenze zu erreichen.
Die eines Tages plötzlich überschritten war. Wobei Zerai zu der Überzeugung gelangte, die alles andere verdrängte: Enver Hoxha ist wahnsinnig.
Und wenig später begriff er: Illir Zerais Stimme war es, die die Reden des Wahnsinnigen mittels Radiowellen in die Welt sandte.
Wem konnte Zerai seine Entdeckung mitteilen? Wenn er sie jemandem anvertraute, würde er mit dem nächstbesten Lastwagen in den Norden gekarrt werden, nach Fushëbar oder gleich nach Burrel. Umerziehung durch produktive Arbeit würde sein Schicksal besiegeln.
Eines Tages konnte er nicht mehr. Er lag neben Jetmira und sagte mit leiser Stimme, als schwöre er ihr seine ewige Liebe: Enver Hoxha ist wahnsinnig.
Entsetzt klammerte sich Jetmira an ihn, klammerte sich an das gute Leben. In ihrem Gesicht die Angst, als würden sie mit ihren eleganten Anzügen plötzlich mitten im Schlafzimmer der Zerais stehen. Die Sigurimi brauchte nicht zu klopfen.
Das darfst du nie wieder sagen, hast du mich gehört. Das musst du in dir verstecken.
Sie griff an seine Stirn: Aber nicht hier, das darf nicht in deinem Kopf bleiben. Du musst eine andere Stelle finden, wo du es verstecken kannst.
Sie strich ihm mit der Hand über die Brust, über Ober- und Unterarme.
Unter die Haut müsste ich diese Entdeckung verbannen, war sein erster Gedanke.
Die Augen des vëzhgues, des Beobachters. Er saß meist hinter der Glasscheibe, während Zerai die Sätze ins Mikrofon sprach. Zef Drini, Spaßvogel Zef, der immer den Eindruck vermittelte, als mache er seine Arbeit nur, weil sich sonst niemand dafür finden lasse. Aber dann kam der neue Beobachter. Spiro Jaku, stellte er sich vor. Die Tontechnikerin flüsterte Zerai zu: Weißt du, was aus Zef geworden ist?
Zef war von einem Tag auf den anderen weg. Vom Erdboden verschwunden. Und nun dieser Spiro Jaku, der Zerai von Anfang an verdächtig erschien. Er saß mit einer Miene hinter der Scheibe, als verbüße er eine Strafe: Weil die letzten Informationen, die du uns geliefert hast, wertlos waren, musst du jetzt den Beobachter machen. Wir lassen den Radiomann eine mehrseitige Rede des Genossen Enver Hoxha einsprechen und jede Zeile lassen wir dich auf ihre Richtigkeit überprüfen. Und wehe, du bringst uns noch einmal so belanglose Informationen, dann bist du weg vom Fenster.
Panik kroch Zerais Rücken hoch: War jemand zum Direktor gelaufen, hatte man ihn angeschwärzt? Er ging mögliche Verfehlungen durch. Der Witz über die Mondrakete und die Diktatur des Proletariats? Harmlos. Aber hatte jemand Böses im Sinn, konnte er selbst so eine Kleinigkeit zum Verrat an der Partei aufbauschen. Schon ging Zerai Namen durch. Wer hatte den Witz gehört? Wer könnte ihm feindlich gesinnt sein?
Zerai las die deutsche Übersetzung von Hoxhas Rede, verhaspelte sich immer wieder, da er an den kleinsten Bewegungen des Beobachters zu erkennen glaubte, dass dieser auf etwas aufmerksam geworden sei. Gleichzeitig ärgerte er sich über seine Unprofessionalität, darüber, wie leicht er sich aus dem Konzept bringen ließ: ein Blick oder eine Geste genügten. Aus dem Augenwinkel registrierte er aber jede Regung, und nach jeder Bewegung, die er hinter der Scheibe ausmachen konnte, ging Zerais Gehirn schnell noch einmal durch, was er zuvor gesagt hatte: Gab es eine falsche Wendung, einen Versprecher, der eine Mehrdeutigkeit zuließ?
Manchmal glaubte er, ein wissendes Leuchten in den Augen des Beobachters zu erkennen. Das waren die Momente, in denen er schnell den Blick abwandte. Weil er aber wusste, wie wichtig es war, dem forschenden Blick der Partei standzuhalten, bemühte er sich, das Abwenden zwanglos erscheinen zu lassen. Was ihm in dieser Situation nicht weiter schwerfiel. Er musste weder die Reinlichkeit seiner Fingernägel kontrollieren noch sich vergewissern, ob seine Schnürsenkel aufgegangen waren – es reichte, sich auf den vor ihm liegenden Text zu konzentrieren:
Im Verlauf seiner Existenz hatte das albanische Volk unter Kriegen schwer zu leiden, die zum Schaden seiner Freiheit, seiner territorialen Integrität und nationalen Unabhängigkeit geführt wurden. Wir Albaner als Volk, als Partei, als Staat haben im Kampf um unsere Integrität, Freiheit, Unabhängigkeit, Kultur und eigene Existenz die Taktiken unserer äußeren und inneren Feinde zu verstehen gelernt, wir haben gelernt, ihre Ziele, Pläne und Verschwörungen zu lesen. Auf dieser Grundlage haben wir, das Volk der Adlersöhne, eigene Taktiken des Widerstands entwickelt, so endete die Rede des Genossen Enver Hoxha.
Illir Zerai gab der Tontechnikerin ein Zeichen. Das Aufnahmelämpchen erlosch.
Er drehte sich zum Beobachter und sah, wie dieser ihn angrinste. Zerai senkte den Blick, der auf seine abgetretenen Schuhe fiel – und mit einem Mal war ihm das herablassende Auftreten dieses Spitzels unerträglich.
Mit herausforderndem Lächeln wandte er sich an Spiro Jaku: Ein weiteres Mal hat Genosse Enver Hoxha den Nagel auf den Kopf getroffen.
Spiro Jaku sah ihn mit erprobtem Blick an: Als würde er hinter Zerais Augen blicken, wo er dessen wahre Gedanken lesen könnte. Doch dieser Spitzel hatte keine Ahnung von Illir Zerais eigenen Taktiken des Widerstands.