Читать книгу Soviel man weiß - Florian Gantner - Страница 12
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ОглавлениеWas ist los ich erreiche dich nicht, tippt sie ins Handy. Seit drei Tagen ist Gernot in Moskau. Sie haben vereinbart, dass er sich meldet, schon gestern hätte er anrufen sollen. Wie sie das hasst, wenn er sich nicht einmal an einfache Vereinbarungen hält. Kurz melden, dass man gut angekommen ist, was ist da schon dabei. Eine SMS, dass der Tag lang war und die Unterkunft wieder einmal untere Liga. Jeder macht so etwas. Bloß Gernot nicht. Und wenn sie dann eingeschnappt ist, kommen ein weiteres Mal die halbgaren Ausreden: So viel um die Ohren, es war schon so spät, nächstes Mal meld ich mich bestimmt. Und dann meldet er sich bei der nächsten Dienstreise auch wirklich gleich, sobald er im Hotel angekommen ist. Und bei der übernächsten? Wieder totale Stille.
Das war früher anders. In den ersten Wochen hat Gernot ihr fast jede Stunde eine SMS aus dem Büro geschickt. Die Nachrichten waren charmant, verspielt, flirtend, er schaffte es immer wieder, sie zu überraschen. Einmal hatte er ihr einen unverständlichen Text geschickt, fremdsprachige Wörter, dazwischen Zahlen. Sie hat den Text in die Google-Suchmaske eingegeben und herausgefunden, dass es Tschechisch war für Du hast zwischen 17. und 19. Juni nichts geplant, oder? Ich schon. Gernot hatte heimlich in ihrem Kalender nachgesehen, wann sie ein freies Wochenende hatte, und für sie beide ein Vier-Sternehotel in Prag reserviert.
Agnes durchforstet ihr Smartphone. Facebook, WhatsApp, Skype. Online findet sie ihn nicht. Wie satt sie das hat, immer soll sie ihm hinterherlaufen. Auch das war nicht immer so.
Drei Tage. Ihre Nachricht bleibt unbeantwortet. Agnes wählt Gernots Nummer, hört, wie ihr Anruf reist: maschinelle Töne, die ein Inlandsgespräch nicht produziert, sondern nur ein Telefonat in die Ferne. Es surrt und pfeift, bis auf einmal der Empfänger in Moskau erreicht ist: Am anderen Ende läutet es. Und da auf einmal die Stimme. Eine Frau. Russisch.
Agnes legt auf.
Dafür gibt es jetzt sicher hundert Erklärungen, aber sie hat nur das Bild von einer Russin und Gernot. Gernot mit einer Russin. Gernot, der der Russin das Telefon abnimmt, Spinnst du! sagt, auch wenn sie das nicht verstehen kann. Sie sieht, wie die Russin kichert, und sie sieht Gernot, der die Frau zu sich zieht, weil es ihm schon wieder egal ist, schließlich gibt es hundert Erklärungen:
Die haben mein Handy gestohlen, mir ist es nicht gleich aufgefallen, ich hatte ja viel um die –
Mein Handy ist auf dem Tisch gelegen und eine Kollegin vor Ort ist einfach drangegangen. So sind die in Russland, nehmen schon mal ab, wenn’s irgendwo läutet und keiner abhebt.
Das Handy ist rumgelegen. Ich war gerade bei einer Besprechung.
Ich war gerade am Klo.
Ich war –
Ich war mit den Kollegen essen, den Mantel hab ich abgegeben. Die Kellnerin hat gehört, dass etwas läutet, ist einfach drangegangen, so sind die, und sie hat nur gesagt, du sollst bitte warten, sie ist gerade dabei, mir das Handy zu bringen. Warum legst du auch gleich auf?
Agnes läuft durch die Wohnung. Sie hat Hemmungen, noch einmal anzurufen. Was macht man in so einer Situation?
Die Stimme der Frau geht ihr nicht aus dem Kopf. Wie vergnügt sie geklungen hat, dabei der sarkastische Unterton.
Wie sie wohl heißt? Mascha vielleicht. Ivana? Agnes stellt sich vor, wie Gernot neben ihr liegt. Sie raucht. Er nimmt ihre Zigarette und zieht. Ein leichter Schwindel, ein angenehmes Gefühl. Der russische Tabak ist stärker und er hat lange nicht mehr geraucht. Dort ist alles ein wenig anders, warum sollte nicht auch er ein wenig anders sein. Sie kann ja auch anders sein. Während er früher höchstens ein bisschen gepafft hat, inhaliert er jetzt den Rauch, als wäre er eine Delikatesse. Ansonsten ist er im Bett eher passiv, hier nimmt er Ivanas Hand und legt sie entschlossen auf seinen Schwanz –
Wenn sie nichts macht, wird sie wahnsinnig. Agnes muss etwas unternehmen, sonst geht die Fantasie mit ihr durch.
Sie ruft noch einmal an. Wieder die metallenen Geräusche, dann bricht die Verbindung auf einmal ab. Das Handy ist ausgeschaltet. Er hat es abgedreht.
Das muss nichts bedeuten, vielleicht ist der Akku leer.
Vielleicht –
Agnes geht in die Küche. Was gibt es zu tun? Irgendwann sollte sie was essen, längst Zeit fürs Abendessen. Was ist da? Sie hat jetzt wirklich keine Lust, etwas zu kochen. Lieber eine Tiefkühlpizza in den Ofen, zusehen, wie sie langsam genießbar wird. Klingt beruhigend, ist es sicher, irgendwie.
Wir nehmen eine Flasche Cabernet Sauvignon dazu. (Wie Gernot die Kellnerin angelächelt hat, und wie die zurücklächelte.) In einer Gasse unweit des Pantheons hatten sie eine Osteria entdeckt, die ihnen nicht als Touristenfalle erschienen war. Agnes beeindruckte, wie natürlich Gernot mit den Italienern auf Deutsch redete. Wenn sie grüßte oder etwas bestellte, packte sie ein paar Italienischvokabeln aus und formte Minimalsätze. Gernot gab sich hingegen keine Mühe. Was ihm aber niemand übelnahm. Im Gegenteil, er wurde von jedem verstanden und in den paar Tagen, die sie in Rom verbrachten, wiederholt in Gespräche verwickelt. Agnes stand dann daneben, während die Einheimischen auf Gernot einredeten und er auf Deutsch antwortete, als handle es sich dabei um eine Spielart des Italienischen.
Verstehst du denn irgendwas? fragte sie ihn einmal.
Die meisten Leute reden doch immer das Gleiche, hier wie anderswo. Kennst du den Zusammenhang, weißt du, worum’s geht.
Trotzdem: Wenn Agnes auf Deutsch bestellt hätte, wäre sie sich als ignorante Touristin vorgekommen. Aber Gernot, der hat den Dreh raus, wie sein Freund Paul gern sagt.
Genau: Paul. Wieso hat sie nicht längst an Paul gedacht!
Paul, ja hallo, entschuldige, das ist etwas komisch, also, weshalb ich anrufe, ist komisch … Ja, mir geht’s gut so weit, danke. Aber eigentlich rufe ich an wegen Gernot … Ja. Ja, genau, in Moskau. Seit drei Tagen. Und eben, ich hab nichts gehört … Klar. Nur, hab ihn eben zu erreichen versucht und da war eine fremde Stimme dran (Eine Frauenstimme! Eine russische Frauenstimme!) … Ja, das ist natürlich schwierig, wenn man kein Wort Russisch … Eben, ja. Deswegen, hab ich mir auch gedacht … Meinst du, sie könnte das machen, nur kurz, weißt du, ich mach mir natürlich … Ja, das wäre. Paul, du bist ein Schatz, und danke an Oksana … Wann … Ja, ich warte inzwischen … Danke.
Die Pizza ist inzwischen über goldbraun hinaus. Beim Verkohlen will sie dann doch nicht zusehen. Agnes holt sie aus dem Ofen und legt sie auf den Teller.
Jetzt braucht sie eine andere Ablenkung. Sie kann nicht dasitzen, aufs Handy starren und warten, bis es läutet. Sie steckt das Telefon in die Gesäßtasche. Spült ab. Was nie verkehrt ist. Was aber nicht lange dauert, allein braucht sie kaum Geschirr. Sie sieht zu, wie der Pegel sinkt und das Spülwasser mit einem unheimlichen Ton abfließt.
Aus der Nachbarwohnung das Schrammen von Stuhlbeinen über den Boden. Ist Zerai gerade nach Hause gekommen? Oder war er die ganze Zeit daheim? Sollte sie noch einmal anläuten? Etwas aufdringlich, andererseits brächte es sie auf andere Gedanken. Agnes sucht nach der Salbe. Sie sucht in ihrer Handtasche, sucht im Mantel, in den Schreibtisch- und Esstischschubladen. Wo kann man so eine bescheuerte Tube denn noch hingeben? Da, die Salbe lag die ganze Zeit vor der Nase! Das Handy steckt in der Gesäßtasche, die Tube trägt sie vor sich her. Wie eine Hostie fast. Und so steht sie vor Illir Zerais Wohnung. Sie könnte auf Heilige Drei Könige machen, oder auf Zeugen Jehovas: Was halten Sie von Jesus, Herr Zerai? Blödsinn natürlich. Sie hat es mit einem alten Mann zu tun, einem alten Mann aus einer anderen Kultur. Ganz anderer Humor.
Wem soll sie denn etwas vormachen?