Читать книгу Die Neue Welt - Florian Hoffmann - Страница 11

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ES IST HEISS HEUTE IN BERLIN. Saba und ich laufen gemeinsam über das Gelände der Union-Film am Rande der Hauptstadt. Ich bin froh, dass sie hier sein kann. Saba kommt aus Karatschi. Und Corona hat das Reisen enorm erschwert, besonders, wenn man aus Ländern wie Pakistan einreisen möchte. Vorbei an Film- und Tonstudios geht es zur Halle 10, in der sich heute alles um das Thema »Zukunft und soziale Wirkung nach Covid-19« dreht. In dem Glasgebäude steht die Luft. Saba stand schon auf vielen Bühnen dieser Welt, dennoch scheint sie angespannt zu sein. Es geht nicht nur um sie, es geht um ihre Mission.

Saba ist Journalistin, technologieaffin und setzt sich in Pakistan mit ihrem Unternehmen Aurat Raaj für die Rechte von Mädchen und Frauen ein. Ein nicht ganz ungefährliches Unterfangen in einem Land, in dem Aktivist:innen bedroht werden und Ehrenmorde – auch wenn sie gesetzlich verboten sind – noch immer stattfinden. Weil Menschen sich angeblich falsch kleiden, falsch lieben oder sich für die falschen Belange einsetzen.

Das Thema, das Saba besonders unter den Nägeln brennt: Wie kann ich Mädchen und Frauen, vor allem auf dem Land, mit Informationen versorgen, die ihren Körper betreffen. Gerade die Menstruation ist laut Saba ein Tabu, jedes zweite Mädchen weiß nicht, wie ihr geschieht, wenn sie das erste Mal ihre Tage bekommt. Sie fühlt sich schmutzig, beschämt, versteckt sich zu Hause, geht nicht zur Schule, vielleicht nie wieder. Fast 80 Prozent der Mädchen in Pakistan wissen nur wenig über die Abläufe in ihrem Körper, geschweige denn etwas über Tampons, Binden oder Menstruationstassen.

Es hat gedauert, bis Saba das richtige Tool gefunden hat, mit dem sie junge Frauen erreichen kann. Kein Blog, wie zuerst angedacht, mit Texten und Fotos zu allen möglichen Themen rund um Frauengesundheit. Auch keine App, für die die Mädchen erst einmal ein eigenes Telefon besitzen müssen – zumal es mit Informationen allein nicht getan ist. Je mehr sich Saba mit dem Thema auseinandersetzte, desto besser verstand sie, wie sehr den Mädchen und Frauen vertrauliche Gespräche fehlen. Die Möglichkeit, auch intime Fragen stellen zu dürfen. Schließlich erfand Saba den Chatbot Raaji mit dem Konterfei eines pakistanischen Mädchens, das sich besonders auf die Topics »Menstruation« und »Hygiene« konzentriert. Einfach zu bedienen, ist die größte Anforderung. Raaji wird mittlerweile im Rahmen von Aufklärungsunterricht in Schulen eingesetzt und steht nach einer Einführung jeder Schülerin für ganz persönliche Fragen zur Verfügung – diskret, anonym, quasi unter vier Augen. Die Mädchen müssen keine persönlichen Daten hinterlegen, Gespräche werden nicht gespeichert, und wenn die KI merkt, dass Gefahr in Verzug ist, schaltet sich eine Gynäkologin ein.

Am Anfang meiner Reise als Sozialunternehmerin stand eine Bestandsaufnahme meines bisherigen Berufslebens: Mache ich die Dinge, die mir wichtig sind? Stupse ich mein Land in eine positive Richtung? Danach war klar, dass ich eine neue Route einschlagen möchte.

Saba Khalid

Trotz vieler Anfeindungen rückt Saba von ihrem Ziel, die Lebenssituation von Mädchen in ihrem Land zu verbessern, nicht ab. Bisher konnte ihr niemand ihren Schneid abkaufen – weder fundamentalistische Fanatiker noch Headhunter. Saba wurde schon mit verschiedenen Preisen und Awards ausgezeichnet und vielfach von den großen (Tech-)Unternehmen als Talent umworben. Doch Saba baut lieber an ihrer eigenen Welt. Entwickelt ihre Ideen in ihrer kleinen Organisation kontinuierlich weiter und reist zwischen dem ländlichen Pakistan und dem Rest der Welt hin und her. Sie hört zu, fragt bei Mädchen und Frauen nach: Wie kann ich euch erreichen, was braucht ihr genau, was würde euch noch helfen? Mal entwickelt sie eine Comicserie, mal schließt sie sich einer Stiftung an oder hilft bei Programmen befreundeter Sozialunternehmer:innen mit.

Über die Jahre habe ich gemerkt, dass es Saba gar nicht so sehr darauf ankommt, mit welchen Produkten oder Dienstleistungen ihr Unternehmen erfolgreich ist. Sie ist sehr flexibel, wenn es darum geht, die Richtung zu ändern, und doch richtet sich ihr Tun immer an zwei zentralen Fragen aus: Der Frage nach dem Sinn – kann ich mit meiner Arbeit die Lebenssituation von jungen Mädchen und Frauen in meinem Land wirklich verbessern, kann ich andere Frauen dafür begeistern, sich ebenfalls zu engagieren und ein eigenes soziales Business aufzubauen? Und der Frage nach der Freude – macht mir meine Arbeit Spaß, gibt sie mir Kraft, weckt sie meine Neugierde? Saba ist technikbegeistert, fühlt sich der globalen FemTech-Community verbunden und macht sich stark dafür, mithilfe von Technologien eine gesündere, gerechtere und gemeinwohlorientierte Welt zu entwickeln.

Saba und ihre Arbeit sind außergewöhnlich, aber sie spiegeln auch die Realität einer ganzen Generation wider. Überall auf der Welt, in reichen und armen Ländern, lassen sich junge Menschen bei der Berufswahl von ihren Überzeugungen leiten. So hat sich allein in Pakistan in den vergangenen Jahren eine rege Sozialunternehmer:innen-Szene entwickelt: Bei der letzten Erhebung über »The best countries to be a social entrepreneur 2019« der Thomson Reuters Foundation ergatterte das Land Platz 14 von 45, und liegt damit sieben Plätze vor Deutschland. Das Land ist jung, zwei Drittel der 210 Millionen Einwohner:innen sind keine 30 Jahre alt – und der Gedanke, das Land voranzubringen und damit gleichzeitig Geld zu verdienen, erscheint vielen jungen Erwachsenen attraktiv. Fast alle Universitäten haben Gründer:innen-Zentren, die entweder mit dem öffentlichen oder privaten Sektor zusammenarbeiten. Vor allem aber hilft die Ausrichtung nach Sinn und Begeisterung, sich in einer komplexen Welt zurechtzufinden und sich einen eigenen Weg zu bahnen.

Als wir in Berlin auf dem Podium diskutieren, vernetzt sie ganz selbstverständlich die persönliche Suche nach Sinn mit gesellschaftlich und wirtschaftlich notwendiger Veränderung. Ein Band zwischen jedem und jeder Einzelnen und der sich neu erschaffenden Welt. Das kommt bei den Zuhörern an. Der lange Applaus macht Saba etwas verlegen.

Jeder spürt längst, dass sich der Wind dreht. In der ganzen Welt suchen Berufsanfänger:innen, die kein eigenes Business aufbauen wollen, ihren Job mehr und mehr danach aus, was ihnen sinnvoll erscheint. Anna Kopp, eine befreundete Führungskraft bei Microsoft, hat mir erzählt, dass es bei allen Einstellungsgesprächen mit jungen Bewerber:innen immer nur um drei Dinge geht. Was verleiht der Firma und der ausgeschriebenen Position Sinn? Wie flexibel bin ich? Und was kann ich Neues lernen? Unternehmen reagieren darauf, indem sie längst nicht mehr nur eine gute Bezahlung nebst Boni und Benefits bieten, sondern versuchen, Strukturen zu schaffen, die es Menschen ermöglichen, mehr in Eigenregie zu arbeiten und selbst wirksamer zu werden.

Auch wenn sich Werte verschieben, junge Menschen sind heute nicht einfach nur idealistischer als frühere Generationen. Der Ansatz, gesellschaftliche Probleme anders und besser zu lösen, hat ein milliardenschweres Potenzial – auch konventionelle Unternehmen schließen sich dieser Erkenntnis mehr und mehr an. Wenngleich, machen wir uns nichts vor, die Beharrungskräfte der Alten Welt vielerorts immer noch stark sind.

Vor Kurzem habe ich Saba zu einem Zoom Call eingeladen. Sie saß in Karatschi, ich in Malmö, neben mir Innovationsmanager:innen eines großen, schwedischen Unternehmens. Die Innovationsleiter:innen wollten von Saba wissen, wie man sinnvolle Produkte entwickeln kann, am besten mit Kund:innen zusammen, darin läge schließlich die Zukunft. Saba erzählte ihre Geschichte und stellte ihren Chatbot Raaji vor. Spätestens in der darauffolgenden Diskussion wurde allen klar, um welche Kernkompetenz es in Zukunft geht: Empathie. Saba kennt nicht nur die Probleme ihrer »Zielgruppe« sehr gut. Sie ist sich auch ihrer Rolle bewusst und geht umsichtig mit den Bedürfnissen und Wünschen ihrer »Kund:innen« um. Das wiederum schafft Vertrauen und damit die notwendige Basis, um (zusammen mit den Nutzer:innen) Produkte und Dienste zu entwickeln, die wirklich passen und Sinn ergeben.

Mach aus deinem inneren Kompass dein Geschäftsmodell.

Sinn und Freude leiten dich.

Sabas Worte lassen mich an meine eigene Sinnfindung denken. Als ich vor einem Jahrzehnt anfing, Unternehmen und sozialunternehmerische Start-ups zusammenzubringen, ging es oft noch um soziale Projekte. Darum, dass Firmen etwas Gutes tun wollten. Mittlerweile ist sinnvolles Wirtschaften im Mainstream angelangt.Kund:innen verlangen es und bringen mit ihren Wünschen die großen Konzerne in Bewegung. Außerdem ist eine ganze neue Generation von kleinen Zebra-Firmen entstanden – Firmen, die Geld verdienen und sinnvolles Tun miteinander verbinden. Das klappt manchmal besser und manchmal schlechter, aber insgesamt hat es im letzten Jahrzehnt einen gewaltigen Schub ausgelöst. Hinzu kamen die brennenden Themen wie Klimawandel und soziale Ungleichheit. Nachhaltige Produkte werden als wirtschaftliche Chance gesehen. Ja, vielleicht sogar als die größte Überlebenschance für Unternehmen in allen Branchen.

Vielleicht denkst du jetzt, dass ich mit Saba thematisch etwas dick aufgetragen habe. Denn noch regieren die großen Konzerne und ihre Shareholder die Welt. Sie entscheiden, welche Produkte und Dienstleistungen angeboten werden. Mit Menschen und Mitarbeitenden, die, wie der alte Marx sagen würde, primär ihre Arbeitskraft verkaufen. Das ist mir durchaus bewusst. Aber die Neue Welt entsteht nicht aus einem Entweder-oder-Denken, sondern im Übergang des Sowohl-als-auch. Viele Köche, viel Brei. Da fällt mir ein Mann ein, der auf besondere Weise für diesen Übergang steht.

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