Читать книгу Die Neue Welt - Florian Hoffmann - Страница 17
ОглавлениеScharfer Wind bläst mir ins Gesicht. Ich finde mich am Rand einer Autobahn wieder. Links abgeerntete Felder, so weit das Auge reicht. Rechts drei riesige Logistikhallen umringt von Lkws. Es geht zu wie in einem Bienenstock. Ich bin hier, um mir ein modernes Logistikzentrum anzuschauen. Alles erscheint überdimensional. Außen wie innen. Ein Freund führt mich durch die riesige Halle, die Abläufe sind fast komplett automatisiert. Roboter transportieren Regale, heben Paletten, helfen beim Verpacken. Ein junger Mann kreuzt unseren Weg. Nach einer kurzen Unterhaltung setzen wir unseren Weg fort und mein Freund sagt zu mir: »Einer unserer Auszubildenden. Wenn er mit seiner Ausbildung fertig ist, wird es seinen Beruf wahrscheinlich nicht mehr geben.« Den Satz habe ich bis heute im Ohr und er erklärt, warum Menschen wie Lily* so wichtig sind.
Lily sitzt in Stockholm, ich kenne sie eigentlich nur gut gelaunt. Muss sie auch sein, denn sie hat eine herausfordernde Rolle, die es seit Kurzem in fast jeder großen Organisation zu besetzen gilt. Sie ist in ihrer Firma für Future of Work, die Zukunft der Arbeit, verantwortlich – und der Grund ist uns allen bekannt.
Zum einen dreht sich unsere Welt immer schneller, und Unternehmen sind darauf angewiesen, dass Mitarbeitende selbstbestimmt die richtigen Entscheidungen treffen. Nahe dran am Problem und möglichst just in time. Denn wenn alles wie früher erst über den Schreibtisch der Führungskräfte geht, dauert es zu lange – zumal diese oft gar nicht mehr im Thema sind, zu komplex die Fragestellungen, zu spezialisiert das Fachwissen. Mehr und mehr CEOs realisieren, dass die Menschen in ihrer Organisation der zentrale Erfolgsfaktor sind, wichtiger als neue Innovationen oder existierende Produkte. Eine Revolution, die jedoch nur mit selbstbewussten und befähigten Mitarbeitenden innerhalb einer wertschätzenden Kultur und flexiblen Strukturen funktionieren kann.
Lebenslanges Lernen bedeutet nicht, sich immer tiefer in sein Fachgebiet zu schrauben. Lebenslanges Leben bedeutet, sich als Unternehmer seines eigenen Lebens zu verstehen: Welche Fähigkeiten brauche ich, um immer wieder mit Spaß etwas Neues beitragen zu können?
Lily
Zum anderen ändern sich durch die Digitalisierung die Geschäftsmodelle so schnell, dass sich viele Berufsprofile rasant weiterentwickeln. Skills, die gestern noch wichtig waren, reichen morgen schon nicht mehr aus oder sind gar nicht mehr gefragt. Nehmen wir zum Beispiel die Welt der Supermärkte: Kaum einer der großen Einzelhändler experimentiert derzeit nicht mit neuen Konzepten, in denen Kassierer:innen an Bedeutung verlieren, Logistiker:innen hingegen an Bedeutung gewinnen. Geschäftsführer:innen und Manager:innen, mit denen ich spreche, richten sich mit ihren Planungen nach Studien, die besagen, dass ein Drittel der Jobs, in denen Mitarbeitende 2025 arbeiten werden, heute noch nicht existieren. Hinzu kommt, dass sich ganze Branchen transformieren. Während Kinobetreiber:innen Mitarbeitende eher entlassen, suchen Krankenhäuser und Pflegeheime händeringend neue Kräfte. Covid-19 hat diese Verschiebung weiter vorangetrieben. Jobs fallen weg, neue Jobs entstehen, Organisationen und Branchen verändern sich – doch auch damit ist es nicht getan, in Wahrheit ist die Herausforderung, vor der wir stehen, noch viel größer.
Wir treffen uns in einem Café. Junge Menschen sitzen vor ihrem Laptop. Versunken, konzentriert, fokussiert. Lily zeigt mir Daten, die ich schon in einigen anderen Analysen gesehen habe: Bis zu 50 Prozent (!) aller Arbeitnehmer:innen brauchen bis 2025 neue Fähigkeiten, um angesichts des permanenten Wandels auch weiterhin einen Wertbeitrag leisten zu können. Bei einer Firma mit 150 000 Mitarbeitenden sind das bis zu 75 000 Menschen, die weitergebildet oder umgeschult werden müssen. Für ganz Deutschland 22 Millionen, für Europa mehr als 110 Millionen Menschen. Laut Lily braucht es bis zu sechs Monate, bis Menschen eine neue Fähigkeit erlernt haben. Wobei Weiterbildung nicht nur in Form von Kursen stattfindet, sondern auch informell beim täglichen Tun.
Die Frage ist: Woher wissen wir, was Mitarbeitende alles lernen müssen? Natürlich geht es um Digitales und Technologie. Um Nachhaltigkeit und grüne Innovationen. Doch Mitarbeitende werden all diese Fähigkeiten nur effektiv einsetzen können, wenn sie auch über die Kernkompetenzen der Zukunft verfügen. Und diese sind grundsätzlicher Natur: kritisches Denken und Analysieren, Problemlösung, Selbstmanagement, Resilienz und Stresstoleranz, aktives Lernen und Flexibilität. Fähigkeiten, die noch wichtiger als beispielsweise Programmieren sind. Aber sie sind auch schwerer zu erlernen – fünf Videos zu Resilienz reichen nicht aus. Wie geht man am besten vor? Lily hat entschieden: Indem man keine Zeit verliert und anfängt. Am besten gleich.
Lerne jedes Jahr etwas ganz Neues.
Für dich und für andere.
Ein Skill mehr auf deinem Weg.
Wir bestellen zwei weitere Kaffees und Lily erzählt, dass sie jedes Quäntchen Überzeugungskraft dafür einsetzt, dass Dinge sich schneller bewegen. Mit ganzer Kraft versucht sie, Bewusstsein innerhalb ihres Unternehmens zu schaffen, damit Topmanager:innen verstehen: Mitarbeitende brauchen ab sofort Zeit zum Lernen. Und sie sollen selbst entscheiden können, was sie lernen wollen. Auch wenn das auf den ersten Blick nichts mit ihrer Arbeit zu tun hat. Auf die Frage, ob sie ihren Mitarbeitenden einen Segelkurs bezahlen würde, sagt Lily ganz klar: »Ja!« Weil ihnen der Kurs hilft, ihre Resilienz, Energie und Gesundheit zu verbessern. Lily entwickelt Szenarien, wie sich Jobs innerhalb der Organisation verändern und neue Berufe aussehen könnten. Diese Szenarien setzt sie dann probehalber um, mit Menschen, die Lust darauf haben. Über alle Hierarchieebenen und Standorte hinweg entwickeln sich so Keimzellen, in denen Zukunft heranwachsen darf.
Die meiste Energie steckt Lily jedoch in den Versuch, lebenslanges Lernen sexy zu machen. Denn den meisten ihrer Kolleg:innen macht die Zukunft der Arbeit vor allem eins: Angst. Und sie reagieren so, wie ängstliche Menschen oftmals reagieren: Sie blenden aus, halten sich an Altbewährtem fest, nehmen neue Lernangebote nur zögernd an. Woher diese Angst kommt? Wann diese Angst anfängt?
Vielleicht denkst du jetzt, dass die Angst nicht unbegründet ist. Und dass der Gedanke, sich ständig weiterentwickeln zu müssen, nicht gerade attraktiv ist in einer Zeit, in der Stress und psychische Belastung sowieso schon groß sind. Das verstehe ich sehr gut. Deshalb reise ich wieder zurück nach Berlin zu zwei jungen Menschen, die sich schon früh mit ihren Ängsten auseinandergesetzt haben.